Viele Ukrainer sind wütend über die oft plumpen Versuche, Soldaten zu rekrutieren. Die Mobilisierung stockt. Das setzt auch jenen zu, die gekämpft haben oder weiter an der Front stehen.

In der frühsommerlichen Westukraine erinnert kaum etwas an den Krieg. In Lwiw wirkt das Leben leicht, in den Strassen und den Bars singen die Menschen, selbst die Touristengruppen sind zurückgekehrt. Düster wird es nur, wenn der Strom wegen Russlands Terrorkampagne gegen die Energieversorgung ausfällt – oder die Kleinbusse der Armee auftauchen, aus denen die Rekrutierer aussteigen.

Während die Ukrainer Unannehmlichkeiten des Alltags stoisch ertragen, bringt sie das Thema Mobilisierung in Rage. Versuchen die Mitarbeiter der Rekrutierungszentren, Männer in die Armee einzuziehen, kommt es regelmässig zu lautstarken Auseinandersetzungen. Doch Kiew braucht neue Kräfte, um den Frontsoldaten eine Pause zu verschaffen, Verluste zu ersetzen und die Initiative von den Russen zurückzuerlangen.

Nur ein Fünftel der Ukrainer will kämpfen

Die Bereitschaft der Ukrainer, ihr Leben zu riskieren, hat allerdings abgenommen. Dass es keine begrenzte Dienstzeit mit anschliessender Demobilisierung gibt, verringert sie zusätzlich. Eine Umfrage des staatlichen Fernsehens ergab im April, dass nur 20 Prozent der 25- bis 59-jährigen Männer bereit sind, einzurücken. Eine weitere zeigte noch tiefere Werte. Die Militärbehörden haben laut Medienberichten in den ersten vier Monaten dieses Jahres 94 500 Personen zur Fahndung ausgeschrieben, weil sie sich dem Wehrdienst entzogen.

Wie viel Verstärkung die Streitkräfte brauchen, bleibt geheim. Klar ist jedoch, dass Kiew die Ambitionen wegen des Widerstands stark reduziert hat. Noch im Herbst hatte der damalige Oberbefehlshaber Saluschni einen zusätzlichen Bedarf von einer halben Million Mann für 2024 genannt. Ein führender Verteidigungspolitiker bezeichnete kürzlich das Ziel, 120 000 Mann zu mobilisieren, als realistisch. Der Druck auf die Militärbehörden, ihre Quoten zu erreichen und überzuerfüllen, ist gross.

Das Parlament hat bereits das Alter gesenkt, ab dem ein Kampfeinsatz möglich ist. Auch Häftlinge können nun freiwillig dienen. Zudem müssen seit Mai alle Männer im wehrfähigen Alter Daten über ihren Aufenthaltsort in einer App aktualisieren. Dies soll bei der Digitalisierung der Stellungsbefehle helfen. In der Realität werden diese aber grösstenteils von Hand verteilt – an jene Männer, die für die Rekrutierer in den Kleinbussen gerade fassbar sind.

Ohne Aufforderung kommen die Leute selbst während oberflächlicher Gespräche auf die Willkür zu sprechen, die dabei oft angewendet wird: Eine Frau erzählt von einem eingezogenen Verwandten mit Down-Syndrom, ein Offizier auf Fronturlaub über Alkoholiker, die von der Armee auf Dorfplätzen eingesammelt werden. Firmen und Private klagen, Handwerker und Bauarbeiter würden von den Militärbehörden mitgenommen, wenn sie an Strassen und Plätzen tätig seien. An der Front hört man abschätzige Kommentare über Motivation und Fitness der neuen Soldaten.

Auch als Ausländer kann es einem geschehen, in eine der Kontrollen der Rekrutierer zu geraten: Auf einem Waldweg im Stadtpark von Lwiw fährt plötzlich ein Kleinbus heran, und zwei Soldaten wollen die Dokumente sehen. Der ausländische Pass hilft, das Missverständnis zu klären. Doch es bleibt ein leicht mulmiges Gefühl.

Bestechung und Aggression gegen Soldaten

Für die Soldaten, die bei den staatlichen Rekrutierungszentren ihren Dienst tun, ist die Arbeit belastend. Einer von ihnen, der sich Serhi nennt und seinen vollen Namen nicht preisgeben möchte, hatte sich im Februar 2022 freiwillig für die Armee gemeldet. Wegen einer Verwundung am Rücken kann er nicht mehr an die Front. Deshalb blättert er in Uschhorod Stellungsbefehle durch und muss diese auch immer wieder verteilen.

Serhi findet seine Arbeit erniedrigend: Er kritisiert das Versteckspiel der Familien, die so tun, als ob die Wehrpflichtigen nicht da seien, und vor allem die vielen jungen, gesunden Männer, die in den Cafés der hübschen Innenstadt sitzen. Sie redeten «über alles ausser den Krieg», sagt der Soldat, den die Erinnerungen an die Kämpfe psychisch belasten. Und er vermisst den Respekt. Oft forderten ihn die Zivilisten auf, doch selbst zu kämpfen. Dass er gedient hat, glauben sie ihm nicht. Das verbittert ihn. Seine Rückenprobleme bereiten ihm jeden Tag Schmerzen.

Weshalb in den Städten viele gesunde Männer mit hohem Bildungsstand und gutem Einkommen nicht eingezogen werden, ist ein offenes Geheimnis: Den Ukrainern ist klar, dass Aushebungsbeamte bestechlich und gefälschte Papiere leicht zu beschaffen sind. Letztere attestieren jenen mit genug Geld eine Zugehörigkeit zu einer von 29 Gruppen, die von der Dienstpflicht ausgenommen sind.

Im patriotischen öffentlichen Diskurs sind Wehrdienstverweigerung und Probleme mit der Mobilisierung so tabuisiert, dass ihr Ausmass schwer zu bestimmen ist. Erzählungen sind geprägt von individuellen Eindrücken, und bei weitem nicht jeder, der sich körperlich oder geistig nicht in der Lage sieht zu kämpfen, ist ein Simulant. Doch inzwischen reichen ein paar Dutzend Geschichten, die propagandistisch aufgebauscht werden, um die erschöpften Ukrainer weiter zu desillusionieren.

Schlechtes Image der staatlichen Rekrutierungszentren

Klar ist, dass die Militärbehörden riesige Organisationsprobleme haben. Seit Präsident Selenski im letzten August wegen einiger Korruptionsfälle pauschal alle regionalen Vorsitzenden der Rekrutierungszentren entliess, hat sich ihr Image katastrophal verschlechtert. In einer Umfrage des staatlichen Fernsehens äusserten sich 60 Prozent der Befragten negativ über die Arbeit dieser Ämter. Weil die Leitungspositionen so unbeliebt sind, müssen sie oft Offiziere übernehmen, die sich an der Front diskreditiert haben.

In Uschhorod, der Hauptstadt der Provinz Transkarpatien, führt Oberst Andri Sawtschuk das staatliche Rekrutierungszentrum. Er hatte als Kommandant der 128. Gebirgssturmbrigade bei der Verteidigung von Bachmut den Ruf, sinnlose Befehle des Oberkommandos ohne Rücksicht auf Verluste unhinterfragt auszuführen.

In seiner neuen Funktion wollte er Ende 2023 mit der Stürmung eines Luxus-Thermalbads durch bewaffnete Soldaten in Kampfmontur ein Zeichen setzen, dass er auch gegen reiche Dienstverweigerer vorgehe. Nach der absurden Razzia wurde bekanntgegeben, dass zwei der kontrollierten Männer gegen Auflagen verstossen hätten. Einrücken mussten sie nicht. «Pokasucha» nennt man in der Ukraine solche populistischen und sinnlosen Aktionen in sowjetischer Manier.

Dass die Razzia gerade in Transkarpatien stattfand, ist kein Zufall. Diese ländliche Bergregion am äussersten westlichen Rand der Ukraine ist ein Rückzugsort für jene, die mit dem Krieg nichts zu tun haben wollen. Viele nutzen sie auch als Zwischenstation, um sich ins Ausland abzusetzen. In den letzten Wochen häufen sich die Meldungen über erfolgreiche und vereitelte Fluchtversuche: Anfang Juni durchbrach ein Armeebus mit 32 Männern die Befestigungen an der Grenze zu Ungarn. Rumänien meldete im ersten Quartal 2024 die illegale Ankunft von 2373 Personen aus der Ukraine.

Die im wilden Grenzfluss Ertrunkenen

Es dürften alles Männer im wehrfähigen Alter sein, da dies die einzige Kategorie von Ukrainern darstellt, denen die Ausreise verboten ist. Für manche endet die Flucht tödlich: Im Grenzfluss Theiss (Tisza) wurden in den letzten Monaten die Leichen von 45 Ertrunkenen gefunden. Sie waren von Schleppern ans Ufer gebracht worden und hatten die Stromschnellen des wilden Berggewässers unterschätzt.

Unter ihnen war auch ein Freund von Serhi und seiner Frau. Sie erzählt, er habe an der Front gekämpft, es aber irgendwann nicht mehr ausgehalten. Er kam im Fluss um. Wenn sie an ihren Freund denken, kommt ihnen nun immer das traurig-schöne Volkslied «Ein Entchen schwimmt auf der Theiss» in den Sinn: Es handelt vom einsamen Tod in der Fremde und wurde 2014 zur Hymne zum Gedenken an die Opfer der Maidan-Revolution. Später spielte es die Armee für ihre Gefallenen. Nun erinnert es an jene, die nicht mehr kämpfen wollen.

Exit mobile version