Montag, Januar 13

Politiker, Behörden, Medien verlassen die Plattform. Ist das die gelebte Demokratie, die man doch unbedingt vor Elon Musk und Co. verteidigen will?

Karin Keller-Sutter hat sich als Bundespräsidentin offenbar bereits einen ersten Fauxpas geleistet. Ihr Vergehen: Sie hat sich, einzig für dieses Amt, einen Account auf der Social-Media-Plattform X eingerichtet.

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Das findet der SP-Co-Präsident Cédric Wermuth gar nicht gut. Er hat sich Ende des letzten Jahres von X verabschiedet – und das soll wohl heissen, dass das alle tun sollten. Den Zeitungen von CH Media sagte er zumindest, dass er Keller-Sutters Entscheidung für «problematisch» halte. In den heutigen Zeiten sei dies eine «politische Aussage», da das nur dem Besitzer Elon Musk und dessen «Hassbotschaften» nütze. Dieser hat die Regeln gelockert, viele Accounts entsperren lassen. Musk nennt das Meinungsfreiheit. Seine vielen Gegner sehen das als Freipass für Hass und Hetze. Auch bei uns. Es ist eine schrille Debatte, die ganz gut zur Tonspur auf X passt – dabei will man sich doch genau von diesem Sound vornehm distanzieren.

Wermuth ist deswegen nur einer der bekanntesten der vielen Kritiker aus dem Juste Milieu, die eint, dass sie ihre noble Gesinnung lautstark verkünden. Es ist ein Kampf um die Deutungshoheit. Wenn Politikerinnen wie Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider oder Behörden und Unternehmen sich für eine Abkehr entscheiden, dann wird dies öffentlichkeitswirksam mitgeteilt. Das Onlineportal Watson teilt am Freitag mit, man verlasse X wegen «protofaschistischer Akteure» und «Realitätsverleugnung». Auch immer mehr Behörden haben sich in letzter Zeit mit der derselben Begründung zurückgezogen. Man geht also wegen: Hassrede. Fake News. Verschwörungstheorien. Rechtsextremismus. Darunter macht man es nicht. Man weiss, wie Aufmerksamkeitsökonomie funktioniert.

Was gerne vergessen wird: Vor allem Politikerinnen waren schon zuvor – meist anonymen – Anfeindungen ausgesetzt: Das wurde zu Recht beklagt, aber von einem Rückzug wollte man nichts wissen.

Wehleidiges Klagen

Dimitry Parisi kann mit dieser Argumentation auch deswegen nicht viel anfangen. Er ist Leiter Public Affairs bei der Kommunikationsagentur Farner mit speziellem Fokus auf soziale Netzwerke. Er berät viele Politiker – und sagt: «Egal, wo man politisch steht: Der Rückzug ist in eigentlichem Sinne unpolitisch. Die Auseinandersetzung ist doch eines der entscheidendsten Elemente in der Politik. Gibt es Widerstand, ist man weg.» Ein Rückzug in digitale Gated Communities. Das sei, sagt Parisi, gerade bei vielen linken Politikern, die X nun verliessen, opportunistisch: «Denn diese beklagen solche geschlossenen Gesellschaften ja andernorts besonders gerne.»

Seinen Klienten rät er, dass sie alle Plattformen nutzen sollen. Heute brauche man diese. Sowieso: Was wäre die Alternative? «Zuckerbergs Meta macht nun dasselbe wie Musks X.» Zuckerberg hat sogar Zensur zugegeben, weil er damit der Demokratie helfen wollte. Jetzt biedert er sich Trump an. Muss man als Schweizer jetzt auch weg von Facebook und Instagram?

Wohin, wäre noch die Frage. Das linke Bluesky und das rechte Truth Social, sagt Parisi, seien Filterblasen. Da bleibe man einfach unter sich. Parisi sagt: «Das bringt relativ wenig.» Darum sagt Parisi: «Nicht wehleidig klagen, sondern mitmachen. Gegenpositionen einnehmen.» Wer das nicht wolle, müsse natürlich nicht – aber man verwirke dann auch das Recht, etwa über X zu mäkeln. «Das wirkt kindisch.»

Gutschweizerische Gegenrede

Es gibt im Internet keine Perfektion, die Algorithmen sind beliebig, der Ton ist rau, Beleidigungen sind Standard. Nun ziehen sich die früheren Demokratieverteidiger zurück ins Reduit der wohligen Bubble. Dass Karin Keller-Sutter nun für ihr einjähriges Amt als Bundespräsidentin auf X ist und dort bis jetzt nüchterne Botschaften verbreitet, könnte man eigentlich begrüssen statt tadeln. Gutschweizerische Gegenrede. Fehlt vielen dafür das Selbstbewusstsein?

Die grossen Abschiedsankündigungen wirken sowieso etwas eigenwillig. Wermuth beispielsweise hat sein Profil nicht gelöscht (sondern nur auf privat gestellt). Noch immer folgen ihm 65 000 Menschen, eine Gruppe von beträchtlicher Grösse also, die er mit seinen Botschaften von sich und seiner Politik ansprechen – und vielleicht sogar überzeugen – könnte. Auch «Watson» will weiterhin auf wertvolle Posts hinweisen und auf X recherchieren. So definitiv will man sich dieses Machtinstruments wahrscheinlich doch nicht entledigen. Auch dieses Unentschlossene hat etwas typisch Schweizerisches.

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