Sonntag, Oktober 6

Eine neue Studie zeigt, dass Xi Jinpings Antikorruptionskampagne mehr als ein Instrument ist, um Gegner loszuwerden. Doch die Parteifunktionäre gewöhnen sich langsam daran.

Das Leben als Staatsbeamter in China ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Vorbei sind die Bankette, bei denen teurer chinesischer Schnaps in Strömen floss. Vorbei die Gelegenheiten, wo einem rote Umschläge gesteckt wurden mit einer «kleinen Entschädigung für den Aufwand». Vorbei die Übernachtungen in Luxushotels bei der Geschäftsreise. Man ist vorsichtiger geworden. Was ist passiert? Xi Jinping.

Als Xi 2012 an die Macht kam, lancierte er umgehend eine nationale Antikorruptionskampagne. Sie richtete sich sowohl gegen «Tiger» – also hohe Tiere im Partei- und Staatsapparat – als auch gegen «Fliegen», einfache Zivilbeamte, die mehr als 95 Prozent ausmachen. Die zentrale Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei, welche die Untersuchungen durchführte, wurde zur gefürchtetsten Behörde im Land.

Wenn ihre Ermittler auszogen, wurden sie auch fündig. Ob in Staatsfirmen, Provinzregierungen oder im obersten Machtgremium, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros. Reihenweise wurden korrupte Beamte aus der Partei ausgeschlossen und strafrechtlich verfolgt. In schlimmen Fällen drohte sogar die Todesstrafe.

In der Regierung ist Korruption am häufigsten

Inzwischen ist Xi Jinping mehr als elf Jahre Chef über Partei, Staat und Armee. Fast fünf Millionen Menschen wurden in den ersten zehn Jahren der Kampagne bestraft. Die Zentrale Disziplinarkommission veröffentlicht einen Teil dieser Fälle auf ihrer Website. Allerhand Daten sind dort einsehbar, zum Beispiel die Summe der Korruptionsgelder. Nun hat sich eine Gruppe von Wissenschaftern die Fälle von korrupten hochrangigen Beamten in den Jahren 2012 bis 2021 genauer angeschaut. Was sie herausgefunden haben, ist bemerkenswert.

Die Ökonomen vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und von der City University in New York haben für ihre Studie die Korruptionsgelder als eine Art illegales Zusatzeinkommen betrachtet. Dann haben sie das Jahreseinkommen der hochrangigen Funktionäre mit der Einkommensverteilung in der städtischen Bevölkerung verglichen. Schon durch ihr reguläres Einkommen gehören die Hälfte der «Tiger» zu den reichsten 5 Prozent in China. Rechnet man ihr illegales Einkommen dazu, schaffen es über 80 Prozent der korrupten Funktionäre ins oberste Einkommensprozent.

«Nach unserer Berechnung steigern sie ihr Einkommen illegal um das Acht- bis Vierzehnfache», sagt Li Yang, einer der beteiligten Forscher, am Telefon. Laut Li weisen die Daten darauf hin, dass die Zentrale Disziplinarkommission in der Tat viele Korruptionsfälle in Provinzen und der Industrie aufgedeckt hat. Dort ist Korruption nach allgemeinem Verständnis weit verbreitet – zum Beispiel im Energiesektor.

Am meisten kassiert haben die Manager von staatlichen sozialen Organisationen: durchschnittlich 55 Millionen Yuan pro Einzelfall (umgerechnet 8,2 Millionen Dollar). An zweiter Stelle stehen hochrangige Mitarbeiter von staatlichen Unternehmen, die jeweils 6,6 Millionen Dollar an Korruptionsgeldern bezogen haben. Hochrangige Regierungsbeamte haben jeweils 5,1 Millionen Dollar abgezogen. In der Regierung kommt Korruption am häufigsten vor. Die Gelder haben die verurteilten Personen zum Teil über Jahrzehnte durch Bestechung, Veruntreuung oder andere illegale Mittel erhalten.

Korruption vergrössert also die ohnehin schon enorme Ungleichheit in China. Für ein Land, das offiziell den Sozialismus anstrebt, ist das ein besonderes Problem. Schon die chinesischen Kaiser wussten, dass Korruption die Regierungsfähigkeit schwächt. So manche Dynastie ging daran zugrunde.

Das weiss auch Xi Jinping, deshalb wollte er gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit die vielen bestechlichen Beamten im Staats- und Parteiapparat aussortieren. Xi habe nichts Geringeres gefürchtet als das Ende der Herrschaft der Kommunistischen Partei, schreibt der Historiker Wang Gungwu.

Gleichzeitig kam Xi Jinping eine solche Kampagne gelegen, um Gegner loszuwerden. Seine Antikorruptionskampagne sei eben beides: ein Mittel für Xi Jinping, unliebsame Parteikader aus dem Weg zu räumen, und die ernsthafte Bemühung, Korruption zu bekämpfen, sagt die politische Ökonomin Yuen Yuen Ang von der Johns-Hopkins-Universität auf Anfrage.

350 Wohnungen, 16 Luxusautos und 18 Geliebte

Doch warum wurde die Korruption überhaupt zu einem grossen Problem in China? Als das Land in den achtziger Jahren begann, sich wirtschaftlich zu reformieren, bekamen die Beamten in Regierung und Staatsfirmen plötzlich viel mehr Macht. Nun konnten sie Infrastrukturaufträge erteilen, Grundstücke verkaufen, Investitionen tätigen oder Joint Ventures mit ausländischen Firmen einleiten.

Minister, Provinzchefs oder Bürgermeister verfügten über Projekte in Milliardenhöhe. Wie verlockend war es, da etwas für sich selber abzuzwacken – und sich die eigene Arbeit zu belohnen. Firmen verstanden schnell, dass sie Beamte bestechen konnten, um den Zuschlag für ein Bauprojekt zu erhalten.

Der Eisenbahnminister, der in den frühen zweitausender Jahren das Netz an Hochgeschwindigkeitszügen aufgebaut hatte, ist ein extremes Beispiel. Als Liu Zhijun 2013 wegen Korruption und Machtmissbrauch zu einer Todesstrafe auf Bewährung verurteilt wurde, hatten die Ermittler nicht weniger als 350 Wohnungen, 16 Luxusautos und 18 Geliebte aufgedeckt. Die soll er neben Millionen an Bestechungsgeldern im Gegenzug für lukrative Verträge erhalten haben. Wegen seiner hocheffizienten Arbeitsweise und wegen mächtiger Freunde wurde er wohl innerhalb der Partei lange gedeckt.

Lieber faul als im Gefängnis

«Eine Handvoll Kapitalisten zahlten für ihre Privilegien und belohnten die Politiker, die ihnen zudienten», schreibt Yuen Yuen Ang auf Anfrage per Mail. Diese Art von Korruption habe das Wirtschaftswachstum nicht etwa gehindert, sondern sogar befeuert, schreibt die Autorin in ihrem Buch «China’s Gilded Age: The Paradox of Economic Boom and Vast Corruption».

Doch Korruption sorgt für ein ungleich verteiltes, wenig nachhaltiges Wachstum. Der schnellste Weg, die öffentlichen Kassen und die eigenen Taschen zu füllen, sei in China der Immobiliensektor gewesen, schreibt Ang.

Xis Antikorruptionskampagne kam bei der Bevölkerung gut an. Zu sichtbar war die Diskrepanz zwischen den Luxusvillen der Reichen und den mangelhaften Behausungen der einfachen Leute. Doch die Kampagne hatte auch negative Wirkungen. Die zahlreichen gnadenlosen Verurteilungen lähmten viele Regierungsbeamte. Sie machten nur noch Dienst nach Vorschrift und trauten sich nicht mehr, Entscheidungen über grosse Investitionen oder Projektvergaben zu fällen. Das ging so weit, dass die Zentralregierung mehrfach vor der um sich greifenden «Faulheit» in Regierung und Verwaltung warnte.

Die hohen Anreize für Korruption bleiben bestehen

Im Januar hat China den umfassenden Sieg über die Korruption erklärt, nach über elf Jahren der Antikorruptionskampagne. Doch der Kampf geht weiter. Im Juni wurde bekannt, dass gegen den obersten Propagandachef wegen Korruption ermittelt wird. Auch die Armee soll korrupt sein – bis in die obersten Ränge.

Offenbar bekommt Xi Jinping die Korruption nicht in den Griff. Seine Antikorruptionskampagne ist längst keine Kampagne mehr. Sie gehört zum System Xi Jinping, mit der er die Partei auf Linie halten will. Doch als Abschreckung gegen Korruption scheint sie nur bedingt zu funktionieren.

Oft rückt für einen korrupten Funktionär einer nach, der sich wieder bestechen lässt. Die Anreize im autokratischen Einparteistaat für Korruption sind gross, die Kontrolle der Partei über die Wirtschaft umfassend. Das schafft zahlreiche Gelegenheiten, sich selbst zu bereichern, insbesondere wenn die politische Karriere stagniert. Darauf deuten auch die Resultate der Studie der Ökonomen vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Wer nämlich die Zentrale Parteischule besucht, hat glänzende Karrierechancen – und ist weniger korrupt.

Der Politologe Andrew Wedeman von der Georgia State University schreibt gerade ein Buch über Xis Antikorruptionskampagne. Er sagt: «Am Anfang von Xi Jinpings Amtszeit waren die Menschen voller Optimismus. Doch mittlerweile herrscht Zynismus.» Jedes Mal, wenn Xi einen weiteren «Tiger» fängt, signalisiert dies, dass es noch mehr gibt. Xi Jinping scheint keine echten Fortschritte zu machen. Doch aufhören kann er nicht. Wedeman sagt: «Das würde heissen, dass er aufgegeben hat.»

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