Dienstag, Oktober 8

Li Rui, der frühere Privatsekretär Mao Zedongs, sah hinter die Kulissen des chinesischen Machtapparats. Seinen brisanten Nachlass möchte Chinas Führung am liebsten zum Verschwinden bringen.

Er schrieb auf, was in China nicht geschrieben werden darf. Li Rui warf der Kommunistischen Partei (KP) nach dem Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989 moralisches Versagen vor. Er prangerte Mao Zedongs verheerende Kampagne des «Grossen Sprungs nach vorn» an, die eine katastrophale Hungersnot auslöste, oder er hielt trocken fest, der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping sei von bescheidenem Bildungsniveau.

Als Li Rui 2019 mit 101 Jahren verstarb, hinterliess der frühere Privatsekretär von Mao Zedong der Nachwelt eine Vielzahl von Tagebüchern und Aufzeichnungen. Es sind präzise Beobachtungen und scharfzüngige Reflexionen eines Zeitzeugen, der Chinas mitunter turbulente Entwicklung von 1935 bis 2018 dokumentierte. Sinologen sind begeistert über den Fundus, der 83 Jahre Zeitgeschichte umfasst und 40 Kisten füllt.

Im Giftschrank deponiert

Lis Tochter Nanyang hat die Aufzeichnungen katalogisiert und der Hoover Institution der Universität Stanford übergeben, teilweise noch zu Lebzeiten des Autors. Das Institut beherbergt eines der führenden Archive in den USA für Dokumente der chinesischen KP.

Nanyang, eine scharfe Kritikerin des chinesischen Regimes, berief sich auf den letzten Willen ihres Vaters und besitzt Tonbandaufnahmen, die Zustimmung zu einer Übergabe signalisieren sollen. Ein unterzeichnetes Testament gibt es aber nicht. Die Witwe Lis klagte daher nach dem Tod ihres Gatten auf Herausgabe der handgeschriebenen Notizbücher. Die Aufzeichnungen enthielten persönliche Angelegenheiten ihrer Ehe, so zitierte die BBC einen Anwalt von Lis Ehefrau Zhang Yuzhen. Dass die Einträge öffentlich zugänglich sind, belaste sie emotional schwer. Seit Montag wird der Tagebücher-Streit vor einem Gericht in Kalifornien verhandelt.

Die Universität Stanford verlangt von der kalifornischen Justiz, zur rechtmässigen Eigentümerin der Aufzeichnungen erklärt zu werden. Die Spitzenuniversität wehrt sich gegen ein Urteil eines Pekinger Gerichts, das Zhang die Tagebücher überschreiben wollte. Nach Ansicht der Stanford-Anwälte steht ausser Frage, dass in der Volksrepublik eine politisch gesteuerte Justiz entscheidet. Daher sei dem Urteil nicht Folge zu leisten. Die über 94-jährige Witwe werde vom Regime nur vorgeschoben, damit dieses an die Originaltagebücher herankomme. Anwälte der Witwe behaupten, Chinas Regierung übe keinen Einfluss auf den Prozess aus.

Die Befürchtung, dass die Dokumente in der Volksrepublik verschwinden, ist plausibel. «Es ist undenkbar, dass die Tagebücher von Li Rui im heutigen China frei zugänglich gemacht würden», so zitierte der «Guardian» den Historiker Frank Dikötter. Der China-Experte sagt, handgeschriebene Manuskripte dürften nicht unter Verschluss geraten. Gerade bei umstrittenen Narrativen in der Geschichtsschreibung müsse der Zugriff auf Originaldokumente gewährleistet sein.

Schon früher wurden Schriften Lis zensuriert oder verboten. In einem aufsehenerregenden Buch widersprach er der offiziellen Darstellung, dass die Hungersnot nach dem «Grossen Sprung nach vorn» nicht Mao angelastet werden könne. Er scheute sich auch nicht davor, Xi Jinping wegen dessen Machtbesessenheit anzugreifen.

Xi Jinping, seit 2012 Staats- und Parteichef, hat die Repressionsschraube in den letzten Jahren stark angezogen. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit trifft auch die Geschichtsschreibung. Zensoren säubern die öffentlichen Archive, und Maos Wirken wird unter Xis Herrschaft wieder verherrlicht. Xi preist den Gründungsvater der Volksrepublik als «proletarischen Revolutionär, grossen Patrioten und Nationalhelden Chinas». Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Diktator, wie sie um die Jahrtausendwende noch möglich war, ist unerwünscht.

Die KP betrachtet die Tagebücher von Li Rui offenkundig als rufschädigend. Was die Führung in Peking besonders schmerzen dürfte: Der Autor ist weder ein Dissident noch ein ideologisch Abgefallener. Er stammte aus dem innersten Kreis der kommunistischen Elite.

Gestürzt und wieder aufgestanden

Wie Chinas jüngere Geschichte war auch Lis Karriere von dramatischen Aufs und Abs begleitet. Nach der Ausrufung der Volksrepublik im Jahr 1949 arbeitete er im Ministerium für Wasserwirtschaft. Wenig später wurde er zum jüngsten Vizeminister Chinas. Der junge, energische Genosse fiel Mao Zedong während einer Debatte auf. Li wurde einer von Maos Privatsekretären und damit ein einflussreicher Torwächter am Eingangstor der Macht.

Wegen unliebsamer Äusserungen zu Maos autoritärem Gebaren fiel er allerdings in Ungnade und wurde aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Während der Kulturrevolution verbrachte Li, der aus wohlhabendem Haus stammte, acht Jahre in Isolationshaft.

Nach dem Ableben Maos 1976 wurde Li rehabilitiert. Er kehrte in die Ministerialbürokratie zurück und sass im Parteigremium, das Kader für Spitzenämter nominiert. Li profilierte sich als pointierte Stimme des reformorientierten Flügels der KP. Den Befehl, die Studentenproteste von 1989 mit Panzerraupen und Waffengewalt niederzuwalzen, hielt er für einen unverzeihbaren Fehler. «Soldaten schiessen wahllos», notierte Li und gab dem Eintrag den Titel: «Ein düsteres Wochenende». Vom Balkon seines grosszügigen Appartements verfolgte er das Blutvergiessen in der Hauptstadt.

Sein Status als verdienter Parteiveteran erlaubte es ihm, Dinge auszusprechen, die andere Kopf und Kragen gekostet hätten. Chinas Parteiführung verabschiedete ihren unbequemen Mitstreiter 2019 mit einem Staatsbegräbnis.

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