Samstag, September 13

Zur Feier des Sieges im Zweiten Weltkrieg liess der chinesische Präsident alles aufmarschieren, was seine Armee hergibt. Doch um welchen Sieg soll es sich dabei handeln? Die Fakten belegen eine zynischen Vereinnahmung der Geschichte.

Kann es sein, dass wir Europäer den Clou einer «kaiserlichen Botschaft» aus dem Reich der Mitte wieder einmal verpasst haben? In der Rede von Chinas Staatspräsident Xi Jinping anlässlich der gigantischen Militärparade auf dem Tiananmen-Platz vor einigen Tagen war vom «80. Jahrestag des Sieges des chinesischen Volkes im Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression und im weltweiten antifaschistischen Krieg» die Rede.

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Doch halt – Antifaschismus? Das war doch eine Bewegung der 1920er Jahre, die sich gegen die Politik Mussolinis und später gegen die deutschen Nationalsozialisten richtete. Was hat das mit China zu tun? Wer kämpfte während des Zweiten Weltkriegs auf diesem östlichen Schauplatz überhaupt gegen die japanischen Invasoren?

Schon diesen Mai, anlässlich der Siegesparade in Moskau, staunte man nicht schlecht, als Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Kampf gegen Nazi-Deutschland gleichsetzte. Abstruser konnte die Verdrehung der Realität nicht sein. Was also bezweckte sein «lieber Freund» Xi Jinping einige Monate später mit der Verwendung des Begriffs «antifaschistischer Krieg»? Mao Zedong hatte diesen Terminus 1941 von Stalin übernommen, um seinem grossen Vorbild die Ehre zu erweisen.

Weder Sicherheit noch Stabilität

Wer hierzulande über den Zweiten Weltkrieg spricht, denkt an Stalingrad, den D-Day und Auschwitz. Ältere Generationen wissen manchmal sogar, was es mit der «Operation Barbarossa» auf sich hatte und wie es um den von der SS fingierten polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz bestellt war. Doch wer kann schon den «Mukden-Zwischenfall», einen von japanischen Offizieren 1931 verübten Sprengstoffanschlag auf die Südmandschurische Eisenbahn, historisch einordnen? Oder aus dem Stegreif etwas über die Umstände vom «Hump», der von den Amerikanern organisierten Luftbrücke zwischen Indien und China über den Himalaja, erzählen?

Als es im Juli 1937 zu einem Zwischenfall zwischen japanischen und chinesischen Soldaten an der Marco-Polo-Brücke in Peking kam, war nicht abzusehen, dass sich daraus ein achtjähriger Krieg mit zwanzig Millionen Opfern auf chinesischer Seite entwickeln würde. Zu jener Zeit regierte General Chiang Kai-shek auf dem Festland. Er und seine Kuomintang, die «Nationalchinesen», hatten nach dem Tod des Republikgründers Sun Yat-sen den sogenannten Nordfeldzug gegen sich bekämpfende Warlords erfolgreich abgeschlossen und 1928 die formale Wiedervereinigung des Landes bewerkstelligt.

Diese Einigung bedeutete allerdings weder Sicherheit noch Stabilität: Einerseits war es das von der Weltwirtschaftskrise schwer gebeutelte Japan, das sich im Zuge seiner kolonialistischen Bestrebungen riesige Gebiete in China anzueignen suchte. Den Anfang nahm die Besetzung der Mandschurei und die Ausrufung des Marionettenstaats Mandschukuo in Chinas Nordosten im Jahre 1931. Andererseits verspürte auch die Sowjetunion Appetit auf Territorien, die von der chinesischen Zentralregierung nur schwach oder gar nicht kontrolliert wurden. So liess Stalin 1934 seine Truppen in die westchinesische Provinz Sinkiang (das heutige Xinjiang) einmarschieren, um den ihm genehmen Kriegsherrn Sheng Shicai als Gouverneur einzusetzen.

Die grösste Gefahr für Chiang Kai-shek und die Einheit des Landes stellten jedoch Mao Zedong und seine Kommunisten dar. Der Konflikt zwischen den beiden wichtigsten Kontrahenten im China des 20. Jahrhunderts begann unmittelbar nach der Gründung der Kommunistischen Partei (KP) Chinas im Jahr 1921 und führte lediglich durch äusseren Druck zu Phasen der Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien: zum ersten Mal im Jahr 1923 auf Vermittlung Moskaus und der Komintern.

Das «Massaker von Schanghai» mit der gewaltsamen Niederschlagung der Kommunisten im Frühjahr 1927 setzte dieser «ersten Einheitsfront» ein jähes Ende. Die Kommunisten zogen sich in ländliche Gebiete zurück, um dort ihre Basisorganisationen aufzubauen und sich zu stärken. Im Gefolge des «Langen Marsches» 1934/35 gelang es Mao und seinen Truppen, immer mehr Soldaten für ihre Sache zu rekrutieren und später auch weite Gebiete im Norden Chinas zu kontrollieren.

Die «zweite Einheitsfront», die mit Unterbrechungen bis 1945 bestehen sollte, kam im Anschluss an den sogenannten Xi’an-Zwischenfall von 1936 zustande. Anlässlich eines Truppenbesuchs in der ehemals bedeutenden Kaiserstadt wurde Chiang Kai-shek von zwei seiner Generäle (unter ihnen der drogensüchtige Marschall Zhang Xueliang) mit Unterstützung von Zhou Enlai, dem späteren Ministerpräsidenten der Volksrepublik China, festgenommen. Ziel der Aktion war es, Chiang vorrangig zum Kampf gegen die japanische Aggression zu zwingen und Angriffe gegen die Kommunisten zu unterlassen. Obwohl Chiang dem Willen seiner Entführer nachgeben musste, war die Überzeugungsarbeit nur von begrenztem Erfolg.

Zivilisten und Gefangene auf brutalste Weise ermordet

Was die amerikanische Unterstützung für China im Kampf gegen Japan betraf, setzte Washington unverhältnismässig lange auf die Politik der Nichteinmischung. Ein Grund dafür war, dass die amerikanische Wirtschaft erheblich von den Handelsbeziehungen mit Japan profitierte. Folglich war China in den ersten Kriegsjahren fast auf sich allein gestellt. Erst als im Dezember 1937 die ersten Nachrichten vom Massaker japanischer Truppen in Nanking an die Öffentlichkeit gelangten – dabei wurden 300 000 chinesische Zivilisten und Kriegsgefangene auf brutalste Weise ermordet –, war der Aufschrei in den USA gewaltig. Man entschied sich, die Nationalregierung ab sofort durch grosszügige Waffenlieferungen, Ausrüstung und militärische Beratung zu unterstützen.

Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1941 galt China offiziell als Alliierter – gegen den Willen der Briten, die China nicht als gleichwertige militärische Macht betrachteten. Präsident Roosevelt ernannte den legendären General Joseph Stilwell zum Verbindungsmann zu Chiang Kai-shek und 1942 auch zum Oberbefehlshaber des Kriegsschauplatzes China-Burma-Indien. Stilwell, der fliessend Chinesisch sprach, sollte die amerikanischen Nachschublieferungen an die nationalchinesischen Truppen für den Kampf gegen Japan in China sichern.

Allerdings kam es immer wieder zu Konflikten zwischen «Essig-Joe», wie Stilwell genannt wurde, und Chiang Kai-shek. Die Gründe dafür waren unterschiedliche strategische und ideologische Ansichten. Chiang sah in den Kommunisten die grössere Bedrohung als in den Japanern, während Stilwell den Generalissimo als ineffizienten Softie bezeichnete. Darüber hinaus beanspruchte Chiang ständig mehr amerikanische Militärhilfe. Im Rahmen des Lend-Lease-Programms erhielt China von den USA militärische und andere Waren im Wert von 1,6 Milliarden Dollar (heutiger Wert: 21,5 Milliarden Dollar). Den Wunsch Chinas nach der Entsendung von US-Truppen lehnten die Amerikaner bis zum Ende des Krieges ab, mit Ausnahme der Luftunterstützung im Rahmen der «Flying Tigers» von General Chennault.

Trotz grosszügiger Hilfe aus den USA war die Überlegenheit der Japaner in China über viele Kriegsjahre hinweg erdrückend. So kamen zu Beginn auf 68 Kampfflugzeuge der Kuomintang fast 1000 der japanischen Besetzer. Militärisch gesehen trugen die Kuomintang und ihre Truppen eindeutig die Hauptlast des Krieges: Über 3 Millionen Soldaten der nationalchinesischen Armee fielen im Kampf gegen Japan. In einer der letzten grossen Schlachten, der Operation Ichi-go im Jahr 1944, beliefen sich die Verluste auf etwa 400 000 Tote und Verwundete.

Die Kommunisten, die sich nach dem Krieg gerne als Speerspitze des «Volkskriegs gegen Japan» präsentierten, verhielten sich – abgesehen von Guerillaaktivitäten – bewusst defensiv. Lediglich im Rahmen der «Hundert-Regimenter-Offensive» im Jahr 1940 griffen Truppen der Roten Armee in grösserem Stil japanische Verkehrs- und Versorgungslinien in Nordostchina an. Nach anfänglichen Erfolgen schlugen die Japaner jedoch heftig zurück. In der Folge besannen sich die Kommunisten auf die schlaue List, sich nicht mehr an der Landesverteidigung zu beteiligen und die verlustreichen Schlachten der verfeindeten Kuomintang zu überlassen. Dieses strategische Kalkül sollte nach der endgültigen Niederlage Japans und dem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs aufgehen.

Spätestens gegen Ende des Krieges in Fernost wurde den USA klar, dass sie – obwohl sie um Chiangs korruptes System und dessen Reformunfähigkeit wussten – auf Gedeih und Verderb seiner Regierung ausgeliefert waren. Washington befürchtete zudem, dass Stalin, dessen Truppen im August 1945 gemäss dem Jalta-Abkommen in die Mandschurei und die Innere Mongolei einmarschiert waren, aufseiten von Maos Kommunisten in den Bürgerkrieg eingreifen würde.

Unausweichlicher Verlust?

Die im Februar 1949 flehentlich vorgetragene Bitte des amtierenden chinesischen Aussenministers an die Adresse Washingtons, die Amerikaner möchten doch bitte zwischen der Kuomintang und der KP Chinas vermitteln, wurde mit den Worten beantwortet: «Die Lösung für die Probleme Chinas kann nur durch die Chinesen selbst herbeigeführt werden.» Nach einem Auf und Ab von Enttäuschungen und Hoffnungen, Zweifeln und Misstrauen hatte sich Washington damit abgefunden, dass China kommunistisch werden und sich Chiang und seine Getreuen nach Taiwan zurückziehen würden. Der «Verlust Chinas» war unausweichlich geworden.

Acht Jahre lang hatte China gegen das Kaiserreich Japan gekämpft. Allein hätte China gegen die industrielle, technologische und militärische Übermacht Japans kaum gewinnen können. Schliesslich war es die japanische Kapitulation im Gefolge der amerikanischen Atombombenabwürfe, die diesen grausamen Krieg beendete. Andererseits waren es gerade die Japaner mit ihrem Angriffskrieg gewesen, die in China ein Vakuum geschaffen hatten, in das die Kommunisten eindrangen, als Chiang Kai-shek die Kräfte ausgingen. Der amerikanische Historiker und Diplomat George Kennan schrieb 1962: «Es ist kaum anzunehmen, dass Mao Zedong ohne den Zweiten Weltkrieg erfolgreich gewesen wäre.»

Die von den Potentaten Xi Jinping, Wladimir Putin und Kim Jong Un am diesjährigen 80. Gedenktag zelebrierte Solidarität im Zeichen des «antifaschistischen» Sieges im Zweiten Weltkrieg ist blanker Zynismus. Sie täuscht über eine totalitäre Gesinnung hinweg, die nichts mit Antifaschismus zu tun hat, sondern vielmehr Ausdruck eines andauernden Krieges gegen freiheitlich-liberale Grundwerte ist. In diesem Krieg stehen Länder wie die Ukraine, Taiwan und Südkorea exponiert an vorderster Front.

Matthias Messmer ist Sozialwissenschafter, Berater und Autor.

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