Leichtigkeit gegen Verzagtheit, Spielfreude gegen Verunsicherung, Lust gegen Frust. Die Schweiz tritt am Samstagabend gegen England mit breiter Brust an.

Die Schweizer Fussballer könnten am Samstag, ab 18 Uhr, im EM-Viertelfinal gegen England zum ersten Mal in den Halbfinal einer Endrunde einziehen. Es gibt gute Gründe, dass das gegen diesen Gegner gelingt.

Die Schweiz ist eine Mannschaft, England eine Ansammlung Individualisten

Der Jahrgang 2024 des Schweizer Teams ist anders. An den letzten Turnieren gab es Konflikte und Nebenschauplätze, Baustellen und Unruhe. Die Stimmung rund um die Nationalmannschaft war geprägt von Misstrauen, es entstand oft eine unangenehme Wagenburgmentalität nach dem Motto: «Wir zeigen es euch allen».

Ein zentraler Punkt für die Stimmungsaufhellung: Der Trainer Murat Yakin und der Captain Granit Xhaka haben sich ausgesprochen. In dieser Woche war diese Gelassenheit, Souveränität und Zufriedenheit der beiden wichtigsten Figuren in der Schweizer EM-Delegation an Pressekonferenzen beispielhaft zu sehen und zu hören. Yakin und Xhaka sind in Form, fokussiert und doch locker. Sie setzen den Ton, sie sind die Leader, sie haben das Team hinter sich vereint.

Der Trainer hat das mit smarten taktischen und personellen Entscheidungen geschafft, der Captain mit seiner Einstellung und seinen Leistungen. Die Schweizer Equipe ist an dieser EM eine Einheit – auch die teilweise prominenten Ersatzkräfte wie Gregor Kobel, Denis Zakaria, Nico Elvedi, Noah Okafor, Zeki Amdouni und vor allem Xherdan Shaqiri mucken nicht auf.

Ganz anders die Engländer: Die Atmosphäre ist seit Beginn der Europameisterschaft mies und explosiv. Die kläglichen Auftritte haben zu noch mehr Kritik geführt. Die Engländer sind gefangen in der Wagenburg. Auf dem Feld ist das englische Team eine Ansammlung herausragender Individualisten. Im Achtelfinal gegen die Slowakei hat das noch gereicht, weil die Ausnahmekönner Jude Bellingham und Harry Kane ihr Team in extremis gerettet haben. Gegen die Schweiz wird das nicht mehr genügen.

Murat Yakin ist im Flow, Gareth Southgate im Krisenmodus

Egal, was der Schweizer Trainer Yakin an dieser EM entscheidet, es stellt sich als richtig heraus. Er stellt Kwadwo Duah gegen Ungarn und Xherdan Shaqiri gegen Schottland in den Sturm – beide treffen. Er beordert Michel Aebischer ins linke Mittelfeld – Volltreffer. Er setzt auf Dan Ndoye und gegen Deutschland und Italien auf Fabian Rieder – beide überzeugen. Die Liste von Yakins überraschenden und gelungenen Massnahmen ist beeindruckend. Murat Yakin coacht im Flow, er entwickelt mit seinem Staff präzise Matchpläne.

Die Engländer und ihr Coach wiederum stehen heftig unter Druck. Gareth Southgate hat sich entschieden, den Europameistertitel ohne Glanz und Gloria und mit viel Vorsicht erringen zu wollen. So stellt er auf, so wirkt er an der Seitenlinie, so redet er. Southgate ist zaghaft, angestrengt, mürrisch – und damit das Gegenteil von Yakin. Im Krisenmodus lässt sich eine EM nicht gewinnen.

Der Grossdenker Granit Xhaka ist auf einer Mission

2009 wurde Granit Xhaka mit der U 17 Weltmeister. Seither weiss er: Titelgewinne mit der Schweiz sind möglich. Er sagt das immer wieder, er lebt dieses Denken vor, er ist seit 2014 aber auch immer wieder gescheitert.

Meistens war das Scheitern der Schweiz mit Xhaka verbunden: weil er falsch und auf der Seite eingesetzt wurde an der WM 2014 im Achtelfinal gegen Argentinien. Weil er energielos und schwach spielte wie in den WM-Achtelfinals 2018 gegen Schweden und 2022 gegen Portugal – nach für ihn emotional aufgeladenen Begegnungen gegen Serbien in der Vorrunde. Weil er den entscheidenden Penalty verschoss im EM-Achtelfinal 2016 gegen Polen; und weil er vor drei Jahren an der Euro im Viertelfinal gegen Spanien gesperrt fehlte.

Jetzt passt alles. Xhaka ist auf einer Mission, mit Feuer und verbunden mit einer eigenen Challenge, die er nicht verrät. Vermutlich geht es darum, ruhig zu bleiben, Spiel für Spiel und Sieg für Sieg zu nehmen. Wie in dieser grandiosen Saison mit Bayer Leverkusen inklusive Meisterschaft und Pokalsieg.

Die Schweiz ist mutig und unberechenbar, England bieder und statisch

Die Schweiz tritt an dieser Europameisterschaft schwungvoll an, mit Mut und mit Leidenschaft. Sie ist eingespielt und für den Gegner unberechenbar, weil immer wieder andere Spieler glänzen. Die sieben Tore erzielten sieben verschiedene Fussballer: Remo Freuler, Dan Ndoye, Michel Aebischer, Xherdan Shaqiri, Kwadwo Duah, Ruben Vargas und Breel Embolo.

England enttäuscht hingegen. Die Darbietungen sind bieder und statisch, es fehlt an Spielfreude. Zudem ist das Team abhängig von seinen stark kritisierten Ausnahmespielern: Bellingham und Kane sind die einzigen Torschützen, beide trafen je zweimal.

Die Schweiz ist im Viertelfinal das Team mit dem tiefsten Kaderwert (rund 280 Millionen Franken), Englands Ensemble jenes mit dem höchsten (1,5 Milliarden Franken). Aber Geschlossenheit und Konzept schlagen Marktwerte.

Titelfluch und enormer Druck bei Harry Kane

Kein Zweifel: Harry Kane ist ein Weltklassestürmer. Er hat in seiner Karriere weit über 400 Tore geschossen, in dieser Saison traf er in der Bundesliga in 32 Einsätzen für Bayern München 36 Mal. Für England erzielte der 30-Jährige in 95 Länderspielen 65 Tore. Aber Kane rennt einem Titelgewinn nach und verzweifelt daran zunehmend. Persönliche Auszeichnungen hat er jede Menge gewonnen, Pokale fehlen in seiner Vitrine. Sieht man einmal vom Gewinn des «Torneio Internacional Algarve U 17» mit einer englischen Nachwuchsauswahl 2010 ab.

Kane verlor mit Tottenham jahrelang bedeutende Begegnungen wie 2019 den Champions-League-Final gegen Liverpool – und mit England den EM-Final 2021 gegen Italien. Als er letzten Sommer zu Bayern München wechselte, schien er immerhin endlich seinen Titelfluch beenden zu können. Doch Leverkusen – mit Xhaka — beendete die Dominanz der Bayern nach elf Meisterschaften in Serie. Und Kane wartet weiter. Nun steht er mit England drei Siege vor der Erlösung. Der Druck ist riesig. Und er lähmt den Captain.

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