Murat Yakin überrascht mit seinem taktischen Dispositiv die Ungarn, macht vieles richtig im EM-Startspiel und beseitigt Zweifel. Doch es bleiben Fragezeichen.

Etwa eine Stunde dauert es noch bis zum Anpfiff, als Murat Yakin aus dem Bauch des Rheinenergiestadions spaziert. Ein Blick nach links, ein Handschlag nach rechts, Yakin grüsst die bereits zahlreich anwesenden Schweizer Fans. Ein Lächeln fliegt in den Himmel.

Das Lächeln ist in diesen Minuten der angespannten Vorfreude auf das erste EM-Spiel auch das Lächeln des Pokerspielers, der gerade «all in» gegangen ist. Denn seine Aufstellung birgt faustdicke Überraschungen, sie hat nichts mit dem zu tun, was Yakin vor dem Match angedeutet hat oder was aufgrund der Testspiele gegen Estland und Österreich logisch gewesen wäre.

Aber was hat Poker schon mit Logik zu tun? Drei Stunden später weiss Yakin, dass sich das Risiko gelohnt hat.

Der Poker, den sich Yakin ausgedacht hat, sieht so aus an diesem Nachmittag in Köln: Kwadwo Duah steht in der Startformation, der 27-jährige Mittelstürmer hat in seiner Debüt-Halbzeit im Testspiel gegen Estland kein Land gesehen. Michel Aebischer, ein zentraler Mittelfeldspieler, soll auf der linken Seite spielen, nachdem Aebischer auf dieser Position im Test gegen Österreich nur die Frage hinterlassen hat, wie ein Trainer auf eine solche Idee kommen kann. Dan Ndoye spielt nach vier Testspielen auf der linken Seite rechts, wo man Xherdan Shaqiri erwartet. Shaqiri sitzt auf der Bank. Wie Zeki Amdouni, immerhin siebenfacher Torschütze für die Nationalmannschaft.

Als das Spiel mit 3:1 endet, reisst Yakin die Arme in die Höhe: Poker gewonnen!

Lob für Yakin, den «Taktikfuchs»

Yakin ist es wieder einmal gelungen, seinem Ruf als «Taktikfuchs» gerecht zu werden. «Wir hatten in der ersten Halbzeit keine Lösung, da Aebischer auf der linken Seite spielte», sagte Ungarns Trainer Marco Rossi nach dem Match geknickt. «Ausgecoacht» heisst das im Jargon, vom gegnerischen Trainer ausgetrickst. Für Yakin ist ein solches Trainerkompliment vielleicht das grösste Lob, das er bekommen kann. Und auch von Granit Xhaka gibt es Zustimmung für das Wagnis mit der überraschenden Aufstellung. «Jetzt muss ich aufpassen, was ich sage», leitet der Captain zwar sein Votum über die Aufstellung ein, aber sie endet mit der trockenen Feststellung: «Der Trainer hat heute alles richtig gemacht.»

Wer alles richtig macht in einem Fussballspiel, ist der Held. Und wenn dieses Fussballspiel dann auch noch die Startpartie ist an der EM in Deutschland, ist der Held vielleicht sogar der Superheld. Superheld Murat Yakin – danach sah es nicht aus in den letzten Wochen und Monaten. Aber im Fussball kann es schnell gehen. Nach unten, wie im vergangenen Herbst. Und nach oben, wie am Samstag in Köln.

Bald sind es drei Jahre, dass Yakin den wichtigsten Job im Schweizer Fussball ausübt. Er ist die überraschende Lösung, als sich Vladimir Petkovic nach der EM 2021 mit dem denkwürdigen Achtelfinalsieg gegen Frankreich von der Schweiz verabschiedet hat. Yakin hat sich im kleinen FC Schaffhausen seine eigene Welt eingerichtet. Bei seiner Vorstellung sagt er, «keine Sekunde» damit gerechnet zu haben, dass der Verband ihn im Auge haben könnte als Petkovics Nachfolger. Die WM-Qualifikation mit dem Gegner Italien steht bevor – hat es ein Zögern gegeben, den Auftrag anzunehmen? «So denke ich nicht», sagt er, «ich schaue nach vorne, ich verlasse mich auf mein Gefühl.» Daran hat sich Yakin immer gehalten. Auch als Nationaltrainer.

Gestärkt nach dem Sturm

Sein Gefühl sagt ihm am Samstag, dass er mit seinem Plan alle überraschen kann. Beim Start als Nationaltrainer sagt ihm dieses Gefühl, dass er auch ohne den verletzten Granit Xhaka das Ticket für die WM in Katar lösen kann.

Er reaktiviert den Basler Fabian Frei, im November liegt ihm nach dem Sieg gegen Bulgarien die Fussballschweiz zu Füssen. Auftrag erfüllt, alles richtig gemacht. Ein Jahr später sitzt Yakin ratlos in der Wüste von Katar. Schon am Tag nach dem 1:6 gegen Portugal im WM-Achtelfinal interessiert ihn vor den Medienleuten nicht mehr gross, dass er sich taktisch und personell arg verzockt hat. Er schaut lieber «nach vorne». Vor der EM-Qualifikation sagt er dann, dass «zwei, drei Sätze mit den Spielern genügen für die Aufarbeitung».

Danach erfüllt er den Auftrag, die Teilnahme am Turnier in Deutschland über die Qualifikation gegen Andorra, Weissrussland, Israel, Kosovo und Rumänien. Im letzten Herbst sind die Vorstellungen planlos, und nicht nur der Vorgesetzte Pierluigi Tami fragt sich, was das Publikum sieht: Woher kommt die plötzliche Nervosität, die Unsicherheit, die übellaunige Ausstrahlung? Yakin ist angeschlagen, die Medien und einige Funktionäre fordern die Absetzung.

Urs Fischer ist frei, auch mit Lucien Favre könnte man verhandeln. Doch die Mutlosigkeit im Verband hilft Yakin, den Sturm zu überstehen. Er geht mit gewohnter Lockerheit in die EM-Vorbereitung, neu an seiner Seite ist Giorgio Contini als Assistent, wie einst im FC Luzern. Harun Gülen als Athletiktrainer und der Videoanalyst Selcuk Sasivari stossen zum Staff, beide haben unter Yakin im FC Schaffhausen gearbeitet.

Als vor kurzem ein ganz anderes Stück Vergangenheit als ehemalige Assistenten, Athletiktrainer oder Videoanalysten auftaucht, lässt sich Yakin nicht aus der Ruhe der EM-Vorbereitung bringen. Vor dem Basler Strafgericht verlangt ein Anwalt, dass ein wegen schwerer Gewalt- und anderer Delikte verurteilter Verbrecher Uhren zurückgibt, die ihm Yakin zum Verkauf übergeben hatte. Das sei vor vier Jahren gewesen, vielleicht sei er manchmal etwas gutgläubig, sagte der Nationaltrainer. Nach vorne schauen. Der Verband fand, er könne keine «Privatangelegenheiten» kommentieren. Ein gewonnenes Pokerspiel in Köln genügt, und das alles spielt vermutlich keine Rolle mehr.

Jeder muss seine Rolle kennen

Yakin betont im Laufe der Vorbereitung, er habe viele Gespräche geführt, denn «jeder im Team muss seine Rolle kennen». Es ist ein schöner Satz aus dem Trainerlehrbuch. Was er bedeuten kann und wie ihn Yakin mit der Mannschaft und einzelnen Spielern lebt, konnte man in diesen Tagen hautnah erleben. Aebischer und Duah sagen nach dem Spiel, dass sie schon seit Tagen von Yakin gewusst hätten, dass sie spielen würden. Der Rest der Mannschaft erfährt davon erst viel später.

Auch Xherdan Shaqiri lieferte am Donnerstag ein schönes Beispiel dafür, wie Yakin vermittelt, wie «jeder seine Rolle kennen muss». Auf die Frage, ob ihn Yakin eher als Stammspieler oder als Joker sehe, sagte Shaqiri: «Darüber haben wir nicht gesprochen.» Ob er das Gefühl habe, für drei Spiele in acht Tagen physisch bereit zu sein? Selbstverständlich sei er das, lautete die Antwort, er sei «Profi». Offenbar haben sich Yakin und Shaqiri nicht wirklich verstanden, wie die Aufgaben und Rollen verteilt sein können. Aber wenn der Poker wie gegen Ungarn aufgeht, hat der Trainer eben alles richtig gemacht. Auch in der Kommunikation.

Ob er ein Pokerspieler sei oder ob das nur die Journalisten so sähen, wird Yakin nach dem Spiel gefragt. «Bin ich ein Pokerspieler?», fragt sich Yakin mit einem Grinsen gleich selber nochmals. Er antwortet: «Ich spiele lieber Schach. Das ist mein Spiel.» Vielleicht spielt Yakin auch an dieser EM weiter Schach wie gegen Ungarn, Schach wie ein Pokerspieler. Auf der Zugfahrt vom Base-Camp in Stuttgart nach Köln habe er zwei Partien gespielt, sein Opfer habe zweimal verloren, erzählt Yakin. Dann geht er. Am Mittwoch wartet Schottland.

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