Der Schweizer Goalie bringt sogar den Superstar Lamine Yamal zur Verzweiflung. Mit 36 Jahren steht Sommer vor dem Höhepunkt seiner Karriere.
Hier ein Foto, da ein Interview: Bis nach Mitternacht stand Yann Sommer in der Nacht auf Mittwoch noch in Spielkleidung auf dem Rasen des Mailänder San Siro. Nur eine blaue Jacke hatten ihm die Staff-Mitglieder von Inter gebracht.
Es regnete, es war kalt, aber es gab so viel abzubilden und so viel zu besprechen: Sommers Trophäe für die Auszeichnung als bester Spieler der Partie. Einen legendären Match, der Inter mit einem 4:3 nach Verlängerung gegen den FC Barcelona (Hinspiel 3:3) in den Champions-League-Final brachte. Und Sommers Paraden, von denen es in den 120 hochintensiven Minuten so viele gab, dass man mit Mitzählen gar nicht nachkam.
«An welche dieser Paraden wirst du dich dein Leben lang erinnern?», wurde der 36-Jährige etwa beim italienischen Fernsehen gefragt. Da nannte Sommer sein letztes Meisterwerk in der 114. Minute, als er gegen einen Schlenzer von Lamine Yamal irgendwie noch seine Fingerspitzen an den Ball bekam – und das Publikum erstaunt zur Kenntnis nahm, dass es Eckball gab: Mit blossem Auge war das in dieser rasanten Szene nicht zu erkennen gewesen. «Diese Parade war schon speziell», sagte der frühere Schweizer Nationalgoalie. «Denn Yamal ist ein wahnsinnig guter Spieler.»
Das Duell zwischen Sommer und Yamal
Sommer und Yamal: In diesem Duell kondensierte sich im San Siro letztlich der ganze Halbfinal. Schon in der vergangenen Woche hatte der Torhüter von Inter Schlimmeres verhindert gegen den 17-jährigen Superstar, der seit der Gala im Hinspiel mehr denn je die Fachdebatten prägte.
In Mailand kam schon vor dem Spiel jedes Gespräch unter Fans umstandslos auf den Jungen, den der Inter-Trainer Simone Inzaghi als historisches Ausnahmetalent bezeichnet und als Zentrum seiner taktischen Überlegungen ausgewählt hatte. Als es dann losging, war die Ehrfurcht der Mailänder Zuschauer stets zu erahnen, wann immer Yamal an den Ball kam: Einmal artikulierte sich der Respekt vor ihm in ängstlicher Stille, einmal in lauten Pfiffen. Und immer in erleichtertem Seufzen, wenn der Ball wieder bei jemand anderem war.
Doch oft kam Yamal durch – und immer war da Sommer. So auch im letzten Duell während der regulären Spielzeit: Da schoss ihm Lamine in die Arme, nachdem er wenige Minuten zuvor noch den Pfosten getroffen hatte und zwischendrin der unerwartete Inter-Ausgleich durch den unerwartet in Stürmerposition aufgetauchten Innenverteidiger Francesco Acerbi gefallen war. Diese drei Szenen ereigneten sich allein in der Nachspielzeit – so viel zur teilweise fast unerträglichen Dichte dieses Matches.
Unmöglich also, alle Paraden zu nennen, mit denen Sommer sein Team in der zweiten Halbzeit im Spiel hielt, als Barça viel mehr Tore hätte schiessen können als jene drei, die aus einem 0:2-Rückstand vorübergehend eine 3:2-Führung machten. Zumindest eine Szene aus der 57. Minute verdient aber ebenfalls eine spezielle Erwähnung: Da wurde Inters Abwehr samt Sommer nach allen Regeln der Kunst ausgekontert, Eric García schoss auf das leere Tor – doch wie aus dem Nichts kam Sommer noch herbeigeflogen und rettete.
«Danke an seine Mutter», witzelte später der Inter-Verteidiger Yann Bisseck in den sozialen Netzwerken, derweil Spaniens Sportzeitung «As» «Sommer verhindert Barças Heldentum» titelte und die Trainerlegende Fabio Capello als TV-Experte einen «enormen Beifall für Sommer» spendete: «In einer Champions League voller grossartiger Angreifer sind es die Torhüter, die bisher den Unterschied machten.»
Es ist schon ironisch: Mit 36 Jahren erhält Sommer die internationale Anerkennung, die sein komplettes, nervenstarkes Goalie-Spiel von jeher verdient. An grossen Turnieren mochte er zwar positiv auffallen mit dem Schweizer Nationalteam, von dem er mittlerweile zurückgetreten ist. Doch während seiner langen Klub-Karriere bei Borussia Mönchengladbach blieb er stets etwas unter dem Radar. Und als er 2023 dann bei Bayern München als Vertreter des verletzten Manuel Neuer einsprang, stempelte ihn der unruhige Klub schnell zu einem der Sündenböcke seiner Krise ab.
Bei Inter blüht Sommer so richtig auf
Inter bedankte sich zum Schnäppchenpreis von sieben Millionen Euro. In Mailand hat der ehemalige Sportdirektor und heutige Präsident Beppe Marotta eine Kunst daraus gemacht, anderswo Unterschätzte zu günstigen Konditionen anzuheuern. Die Fans verehren den Funktionär denn auch: Als er während der Partie gegen Barcelona einmal auf der Videoleinwand eingeblendet wurde, brandete grosser Jubel auf. So etwas erleben Anzugsträger in anderen Vereinen eher selten. Doch zusammen mit Inzaghi darf Marotta als Baumeister eines Projekts gelten, das nur Platz 14 der europäischem Umsatzrangliste belegt, aber nun zum zweiten Mal nach 2023 in einen Champions-League-Final einzieht.
Als Inter damals unglücklich 0:1 gegen Manchester City unterlag, war Sommer noch in München. Nun kehrt er zum Final am 31. Mai an seinen früheren Arbeitsplatz zurück.
«Direkt nach dem Schlusspfiff sind mir die Tränen gekommen», sagte Sommer im deutschen Fernsehen. «Ich bin 36 Jahre alt, ich bin nicht mehr der Jüngste, und ich darf jetzt mit dieser Mannschaft einen Champions-League-Final spielen. Ich könnte nicht glücklicher sein.»
Sommer wird der achte Schweizer im grössten kontinentalen Match des Klubfussballs sein. Und er könnte die Henkel-Trophäe als erst Fünfter gewinnen, nach Stéphane Chapuisat (Dortmund 1997), Ciriaco Sforza (Bayern 1999), Xherdan Shaqiri (Bayern 2013, Liverpool 2019; jeweils ohne Einsatz) und Manuel Akanji (Manchester City 2023).
Wie für ihn könnte es auch für viele Teamkollegen im mit 29,5 Jahren Durchschnitt ältesten Kader der Champions League die letzte Chance auf den grossen Wurf sein. Inter wirkt wild entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen. Der Captain Lautaro Martínez, der angeschlagen spielte und dennoch ein Tor schoss sowie einen Elfmeter provozierte, sagte: «Diese Mannschaft stirbt nie.»
Und vor allem hat sie Yann Sommer.