Vor zehn Jahren besetzte die Sonnenblumen-Studentenbewegung Taiwans Parlament. Dies prägt die Situation an der Strasse von Taiwan bis heute.
«Die Studenten, die vor zehn Jahren Taiwans Parlament besetzten, sahen eine Bedrohung, die heute die ganze Welt sieht», sagt Ho Ming-sho, Soziologieprofessor der National Taiwan University in Taipeh: «Die Bedrohung, der man sich aussetzt, wenn man sich wirtschaftlich zu stark abhängig macht von einer Diktatur.»
Die Studenten, von denen Ho spricht, überrumpelten in der Nacht vom 18. März 2014 die wenigen Polizisten, die Taiwans Parlament bewachten, drangen gewaltlos in das Gebäude ein und verschanzten sich im Plenarsaal. 23 Tage harrten sie dort aus – als sie am 10. April friedlich abzogen, hatte sich Taiwans Politik grundlegend verändert.
Höhepunkt der Annäherung zwischen Taiwan und China
Die Studenten auf den Plan gebracht hatte ein Abkommen, das die Regierung des damaligen Präsidenten Ma Ying-jeou mit der Volksrepublik China geschlossen hatte: Das Cross-Strait Service Trade Agreement (CSSTA) sollte den Handel mit Dienstleistungen zwischen den beiden Seiten der Strasse von Taiwan liberalisieren. Es hätte taiwanische Industrien wie Banken, Gesundheitswesen, Tourismus, Telekommunikation und Verlagswesen für Investitionen vom Festland geöffnet. Das war vielen Taiwanern zu viel.
Das CSSTA war eines von einem Dutzend Abkommen, die seit Mas Wahl 2008 geschlossen worden waren. Es sollte der Höhepunkt der Annäherungspolitik gegenüber China werden. Der Präsident hatte schon viel erreicht: Nachdem die beiden Seiten jahrzehntelang hermetisch getrennt waren, flogen nun Dutzende Male pro Tag Flugzeuge zwischen chinesischen und taiwanischen Städten. Der Handel mit Gütern war weitgehend liberalisiert. 3,3 Millionen chinesische Touristen besuchten in einem Jahr die Insel – ein gutes Geschäft, doch manch einer grummelte, dass man sich ja nicht mehr zu Hause fühle.
Kurz: 2014 waren sich Taiwan und das chinesische Festland so nah wie nie seit 1949, als die Nationalisten den Bürgerkrieg auf dem Festland verloren, nach Taiwan flüchteten und die Kommunisten in Peking die Volksrepublik ausriefen.
Präsident Ma und seine Nationale Volkspartei (KMT) rechtfertigten ihre Politik der Annäherung an das Festland mit wirtschaftlicher Prosperität. In ihren Augen konnte man sich auf das Wirtschaftliche konzentrieren und die politische Frage – den Status von Taiwan – auf später vertagen. Die kommunistische Führung in Peking machte hingegen nie ein Hehl daraus, dass am Ende der Annäherung die Eingliederung Taiwans in die Volksrepublik stehen müsse.
Furcht vor zu grossem Einfluss Chinas
Erst mit der Zeit habe sich in Taiwan die Einsicht durchgesetzt, dass man mit der zunehmenden wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Festland erpressbar werde, sagt Ho, der Soziologie, der sich intensiv mit der Sonnenblumen-Bewegung auseinandergesetzt hat. «Die Taiwaner entschieden, dass sie nicht ihre politischen Freiheiten aufgeben wollen für wirtschaftliche Vorteile.»
Das CSSTA löste Befürchtungen aus, dass Unternehmer vom Festland die lokalen Geschäfte verdrängen könnten, die vielfach von Familien geführt wurden. Die KMT versuchte das Abkommen mit ihrer Mehrheit im Parlament durchzudrücken. Als die Parteiführung die Debatte ohne die versprochene Detailberatung abbrechen wollte, entschieden sich die Studenten zum Sturm auf das Parlament.
Lin Fei-fan, einer der damaligen Anführer, zeigt sich im Rückblick überrascht, dass dies so einfach gelungen sei. Wie andere führende Exponenten der Sonnenblumen-Bewegung musste er sich später vor Gericht für die Besetzung des Parlaments verantworten, wurde aber freigesprochen. Jetzt sitzt er im Stiftungsrat einer Denkfabrik, welche der Demokratisch-Progressiven Partei (DPP) nahesteht.
Dass viele Teilnehmer der Sonnenblumen-Bewegung heute politisch tätig seien, zeuge davon, dass die damaligen Ereignisse eine ganze Generation politisiert hätten, sagt der Soziologe Ho. Die Studenten hätten das Vorgehen der KMT als Gefahr für Taiwans Demokratie betrachtet – und sich dagegen gewehrt. Damit reihe sich die Sonnenblumen-Bewegung an frühere Studentenproteste in Taiwan an: 1990, als Taiwan noch autoritär regiert wurde, forderte die Wilde-Lilien-Bewegung demokratische Wahlen. 2008 wehrte sich die Wilde-Erdbeeren-Bewegung erstmals gegen die Annäherungspolitik gegenüber dem Festland von Präsident Ma.
Im Frühling 2014 war auffallend, wie diszipliniert die Studenten bei der Besetzung des Parlaments vorgingen. Ein Besuch der NZZ im Plenarsaal etwa zur Halbzeit der Proteste zeigte eine straffe Organisation mit Studentenführern, Sekretären, einer Presseabteilung und Übersetzern sowie Ärzten und Krankenschwestern, die sich um die Gesundheit der Beteiligten kümmerten. Draussen vor dem Parlament lenkten freiwillige Ordner die stetig anschwellende Masse von Sympathisanten in geordnete Bahnen. An einer der Demonstrationen zur Unterstützung der Studenten Ende März nahmen eine halbe Million Personen teil.
Als die Studenten am 10. April abzogen, hatten sie dem Parlamentsvorsitzenden ein wichtiges Eingeständnis abgerungen: Das CSSTA werde erst dann zur Abstimmung gebracht, wenn es ein Gesetz gebe, das den Rahmen für alle Abkommen mit dem Festland bilde. Denn diese hängen in einem rechtlich undefinierten Raum: Weil sich China und Taiwan gegenseitig nicht anerkennen, sind es keine bilateralen Staatsverträge.
Doch dieses Rahmengesetz kam nie. Zwei Jahre nach Ende der Sonnenblumen-Bewegung verlor die KMT die Wahlen krachend. Die vormals oppositionelle DPP gewann im Parlament die absolute Mehrheit. Ihre Kandidatin Tsai Ing-wen wurde Präsidentin. Die Pekinger Machthaber sahen Tsai als Separatistin und verweigerten den Kontakt mit ihr. Der Annäherungsprozess zwischen Taiwan und China war zu Ende.
Ein Zurück zu 2014 gibt es nicht
Die Frage, wie sich Taiwan gegenüber China positionieren soll, stellt sich weiterhin. Die chinesischen Touristen bleiben zwar grösstenteils aus, damit bestraft Peking die Taiwaner dafür, dass sie aus seiner Sicht die «falsche» Partei wählen. Doch noch immer gehen 40 Prozent der Exporte Taiwans aufs Festland. Eine Diversifikationspolitik der Regierung hat daran wenig geändert – erst die Covid-Restriktionen und Chinas schwächelnde Wirtschaft liessen die Zahlen etwas zurückgehen.
Im Wahlkampf für die Präsidentschaft und das Parlament im Januar wurde das CSSTA, das formell nie zurückgezogen wurde, kurz zum Thema. Ko Wen-je, der Gründer der neuen Taiwan People’s Party (TPP), die im Parlament das Zünglein an der Waage spielt, insinuierte, dass er das Abkommen wieder aufs Tapet bringen wolle. Doch er blieb vage, und die KMT zeigte wenig Begeisterung für ihr ehemaliges Prestigeprojekt. Da die DPP erneut die Präsidentschaft eroberte – und da liegt die wirkliche Macht in Taiwans politischem System –, wird sich in den nächsten vier Jahren daran kaum viel ändern.
Selbst wenn die KMT wieder das Sagen hätte, ein Zurück zur Ära Ma Ying-jeou werde es nicht geben, sagt der Soziologe Ho: «Die Zeit war eine völlig andere: Damals sahen alle in China nur Chancen. Heute ist die globale Sicht auf das Land unter der autoritären Herrschaft von Xi Jinping viel kritischer.» Jetzt, wo sich viele demokratische Länder von China distanzierten und versuchten, ihre Volkswirtschaften weniger abhängig zu machen von Peking, würde es wohl als sehr komisch angesehen, wenn ausgerechnet Taiwan sich wieder eng an die kommunistische Diktatur anlehnen würde, meint Ho.