Dienstag, Oktober 8

Die Gewerkschaften haben mit irreführenden Zahlen einer grossen Pensionskasse im Abstimmungskampf Stimmung gemacht. Damit ist nun Schluss. Jedenfalls fast.

Wer gewinnt und wer verliert? Das ist eine der grossen Fragen im Abstimmungskampf um die berufliche Vorsorge (BVG). Alle möchten wissen, welche Folgen die Reform der Pensionskassen hätte, die am 22. September an die Urne kommt. Nur lässt sich die Frage nicht allgemeingültig beantworten. Zu stark unterscheiden sich die Folgen je nach Pensionskasse und Person.

Umso wichtiger sind anschauliche Beispiele. Im Abstimmungskampf sind beide Seiten bemüht, anhand von Einzelfällen Vor- und Nachteile zu illustrieren. Zumeist müssen sie sich mit fiktiven Fallbeispielen behelfen, aber nicht immer: Die Gegner aus dem linken Lager konnten früh einen Coup landen.

Durch eine gezielte Indiskretion haben im Juni vertrauliche Zahlen einer grossen Pensionskasse via TA-Media-Zeitungen den Weg an die Öffentlichkeit gefunden. Die Rede ist von der Sammelstiftung Proparis, bei der 71 000 Angestellte von Gewerbebetrieben versichert sind. Sie gehört zur Minderheit der Pensionskassen, die direkt von der Reform betroffen wären. Umso interessanter sind ihre Zahlen.

Sie schienen zuerst die schlimmsten Warnungen der Gegner zu bestätigen: 58 Prozent der Versicherten müssten mit Rentenkürzungen rechnen, hiess es. Noch schlimmer sei es bei den Älteren, fast zwei Drittel der über 60-Jährigen würden weniger Rente erhalten. So meldeten es die TA-Media-Zeitungen, und so repetierten es die Gegner bei jeder Gelegenheit bis hin zur «Arena» von SRF. Die Botschaft dürfte ihre Wirkung nicht verfehlt haben.

Gewerkschaften «korrigieren» die Aussage

Doch sie ist falsch. Letzte Woche – nach langem Zuwarten und unter medialem Druck – haben die Zuständigen von Proparis öffentlich zugegeben, dass es mit den Zahlen ein gröberes Problem gibt: Sie sind zwar nicht falsch berechnet, sagen aber nicht das aus, was in sie hineingelesen wurde. Sie zeigen nicht, wie viele Renten sinken oder steigen, sondern basieren auf einer komplizierten Vollkostenrechnung. Darin flossen neben der Veränderung der Renten auch die damit verbundenen Kosten ein. Gerade ältere Versicherte müssen diese Kosten aber bei weitem nicht alleine tragen. Ob dieser «Irrtum» mutwillig geschah oder nicht, ist umstritten; folgenschwer war er bestimmt.

Nun, einen Monat vor der Abstimmung, hat die Stiftung am Donnerstag neue Zahlen veröffentlicht. Diese zeigen ein ziemlich anderes Bild: Die Mehrheit der Proparis-Versicherten kann bei Annahme der Reform mit höheren Renten rechnen. Ihr Anteil beträgt je nach Altersgruppe 51 bis 55 Prozent. Allerdings gibt es durchaus auch «Verlierer»: Versicherte, die sich darauf einstellen müssen, dass ihre Rente sinken würde. Ihr Anteil liegt je nach Alter zwischen 32 und 41 Prozent. Die übrigen Versicherten können davon ausgehen, dass sich ihre Rente kaum verändert.

Man durfte gespannt sein auf die Reaktion der Gewerkschaften. Sie hatten die ursprünglichen, düsteren Zahlen prominent in ihre Kampagne eingebaut. Ihr liebstes Beispiel kam von der Proparis-Kasse für Friseurbetriebe: 80 Prozent der Coiffeure über 50 Jahre würden weniger Rente erhalten, stand ursprünglich im Argumentarium des Gewerkschaftsbunds. Nachdem der Fehler aufgeflogen war, wurde die Passage angepasst: «Für 80 Prozent der über 50-Jährigen kostet die Reform mehr, als sie ihnen bringt.»

Ist diese Formulierung nun korrekt oder nicht? Dass sie richtig verstanden wird – im Sinne einer umfassenden Vollkostenrechnung für Versicherte, Arbeitgeber und Pensionskasse –, ist jedenfalls unwahrscheinlich.

Anteil der «Verlierer» immer noch relativ hoch

Wichtiger ist aber eine andere Frage: Was soll man nun von den neuen Proparis-Zahlen halten? Die bürgerlichen Parteien, die hinter der Reform stehen, haben stets betont, ein wichtiges Ziel sei, das Leistungsniveau grundsätzlich zu erhalten. Dass dies nicht in allen Fällen gelungen ist, steht schon länger fest. Dass nun aber der Anteil der Versicherten, die mit Rentenkürzungen rechnen müssen, bei einer Kasse wie Proparis 32 bis 41 Prozent betragen soll, ist gemessen an den Absichtserklärungen immer noch relativ viel. Dasselbe gilt im Übrigen für die noch stärker verbreiteten Rentenerhöhungen.

Gleichzeitig sollte man diese Zahlen sowie alle anderen mit Vorsicht geniessen. Dahinter stehen viele Annahmen zur Entwicklung von Löhnen, Zinsen und Kapitalbezügen sowie zum Einbezug überobligatorischer Gelder, die man unterschiedlich festlegen und interpretieren kann. Offen bleibt auch, wie hoch die konkreten Renteneinbussen für die einzelnen Versicherten ausfallen würden. In der Auswertung von Proparis gilt jeder Fall, in dem eine Rente um mehr als 17 Franken im Monat abnimmt, als Reduktion.

Personen mit tiefen Löhnen erhalten höhere Renten

Aufschlussreich ist die Aufschlüsselung nach Lohn. Sie bestätigt, dass die Reform gerade für Personen mit relativ tiefen Einkommen zu einer besseren Altersvorsorge führen würde. Die grosse Mehrheit aller Versicherten mit Löhnen unter 60 000 Franken kann demnach mit höheren Renten rechnen (76 bis 95 Prozent, je nach Alter). Nur 2 bis 9 Prozent hätten Rentenkürzungen zu befürchten.

Deutlich schlechter fallen im Gegenzug die Zahlen für Angestellte aus, die höhere Löhne am oberen Rand des BVG-Obligatoriums erzielen. Hier müssen sich laut Proparis 62 bis 72 Prozent darauf einstellen, dass ihre Renten kleiner ausfallen würde. Wie viel diese Kürzungen im Einzelfall ausmachen würden, bleibt auch hier offen.

Gemäss einer Grafik von Proparis fallen die Rentenverluste jedenfalls in der Tendenz deutlich geringer aus als die Erhöhungen der Renten der Versicherten mit tieferen Einkommen. Der zuständige Experte von Proparis zieht dieses Fazit: «Viele Versicherte erhalten eine leicht tiefere Altersrente, während sich bei denjenigen mit sehr tiefen Altersguthaben die Leistung deutlich erhöht.»

Betroffene Kassen müssen zahlen

Noch etwas zeigen die Zahlen: Direkt betroffene Pensionskassen wie Proparis müssen einen relativ grossen Teil der Kosten der Reform selbst tragen. Relevant sind vor allem die Rentenzuschläge, die das Parlament beschlossen hat, um Einbussen für ältere Versicherte möglichst zu verhindern oder zumindest abzufedern. Sie kommen während einer Übergangsphase von 15 Jahren zum Einsatz und dürften gesamthaft gut 11 Milliarden Franken kosten.

Woher das viele Geld kommen soll, war im Parlament heftig umstritten. Der Bundesrat und die Linke tendierten zu einer BVG-untypischen, «solidarischen» Lösung: Die Zuschläge sollten von allen Pensionskassen der Schweiz gemeinsam finanziert werden – auch von denen, die von der Reform nicht betroffen sind und bei denen es auch keine Zuschläge geben wird. Diese Variante ging jedoch der bürgerlichen Mehrheit zu weit: Sie setzte durch, dass die direkt betroffenen Pensionskassen einen relevanten Teil selbst bezahlen.

Dies bekommt nun unter anderem Proparis zu spüren. Gemäss den getroffenen Annahmen führt die Reform in der 15-jährigen Übergangsphase für das Vorsorgewerk nicht zur erhofften Entlastung, sondern zu Mehrkosten von gut 8 Millionen Franken im Jahr. Das mag erklären, weshalb die Zuständigen so lange geschwiegen haben, während ihre irreführenden Zahlen die Runde machten.

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