Der Spanier Lamine Yamal, 16, und der Portugiese Pepe, 41, sorgen am Turnier für Altersrekorde. Warum die Karrieren der Fussballer immer länger werden.

Lamine Yamal brauchte ein wenig Zeit, um auf der Bühne einer EM anzukommen. Zunächst spielte er lieber Sicherheitspässe, als in seine gefürchteten Dribblings zu gehen. Doch als Spaniens fulminantes 3:0 im Spitzenspiel gegen Kroatien seinen Lauf nahm, beteiligte auch er sich an der Fiesta. Yamal zeigte Sololäufe, schoss Ecken und Freistösse – und bereitete den dritten Treffer von Dani Carvajal mit einer dieser Flanken vor, die in so diabolischer Kurve in den Strafraum fliegen, dass sie halbe Tore sind.

Am Sonntag kann sich Yamal dann wieder dem widmen, was Jungs in seinem Alter halt auch tun müssen – für die Schule büffeln. Aus Spaniens Teamquartier im Schwarzwald schickt er die erledigten Hausaufgaben online an die Lehrer. Lamine geht in die zehnte Klasse; ein Junge, der noch wächst, von rund 1 Meter 70 auf 1 Meter 80 im letzten Jahr, in dem er ausserdem rund sieben Kilo an Muskelmasse zulegte.

Mit 16 Jahren ist er der erste Fussballer seines Alters, der je an einem internationalen A-Länderturnier debütierte. Diese Saison avancierte er bereits zum jüngsten Torschützen der spanischen Ligageschichte wie der Nationalelf, in der er seinen derzeit verletzten Klubkollegen Gavi ablöste. Yamal steht für den Jugendtrend im Fussball. Doch bei ihm hört die demografische Revolution dieser Euro keineswegs auf.

Mediale Überwachung zwingt zu gesundem Lebenswandel

Als der Rechtsaussen am 13. Juli 2007 geboren wurde, war der Innenverteidiger Pepe gerade für 30 Millionen Euro vom FC Porto zu Real Madrid gewechselt. Wenige Monate später debütierte er in der portugiesischen Nationalelf. Mittlerweile ist er 41 Jahre alt – und immer noch da. Am Dienstag gegen Tschechien wird er als ältester Profi der EM-Geschichte grüssen. So wie er diese Saison bereits den einschlägigen Rekord für Porto in der Champions League gebrochen hat – und den für den ältesten Torschützen gleich dazu.

Yamal und Pepe, 16 und 41, zeigen, wie sehr sich Fussballerlaufbahnen verändert haben. Über Jahrzehnte kamen Teenager nur zum Schuheputzen für die Veteranen in Betracht (Ausnahmen von der Regel mussten schon das Talent des 17-jährigen Pelé haben), derweil dann mit Anfang 30 in aller Regel die Bänder und Knie so kaputt waren, dass die Weggefährten zum wohlverdienten Abschiedsspiel zusammengetrommelt wurden. Lothar Matthäus, der 2000 mit 39 noch eine EM spielte, galt demgegenüber als unverbesserlicher Methusalem und als schuldig am deutschen Desaster.

Doch im Zuge umfassender Professionalisierung wurden die Altersbarrieren sukzessive eingerissen. Die Ausbildung in Fussballerinternaten lässt Jugendliche schneller reifen, bessere Ernährung und medizinische Betreuung helfen in jedem Stadium, eine striktere Regelauslegung schont die Knochen, luxuriöse Reisebedingungen vermindern den Verschleiss, die mediale Überwachung durch Handys und soziale Netzwerke zwingt zu einem artigen Lebenswandel.

Der mit 39 Jahren zweitälteste EM-Profi nach Pepe ist dafür das beste Beispiel: Cristiano Ronaldo spielt als erster Fussballer der Geschichte seine sechste EM-Endrunde. Allein in der Nationalelf kickt der Mitbegründer des zeitgenössischen männlichen Körperkults und bekennende Anhänger von Intervallschlaf und Kältekammern also seit zwanzig Jahren auf allerhöchstem Niveau. Solche Karriereumfänge kannte man zuvor eher aus dem Golfsport.

Mehr Junge, mehr Alte

Anzahl EM-Teilnehmer pro Alterskategorie an den Turnieren 1984, 2004 und 2020

An dieser EM stehen insgesamt 27 Spieler ab 35 Jahren in den Teamkadern. Noch vor zwanzig Jahren waren es nur vier Senioren, unter ihnen der Schweizer Torhüter Jörg Stiel, 36, als Ältester. Nun will auch der Pole Robert Lewandowski, 35, um die Torjägerkrone kämpfen, während Luka Modric, 38, wie gehabt für Kroatien das Spiel macht und der bald 37-jährige Alleskönner Lionel Messi die Argentinier zu einer weiteren Copa América führen will.

Am anderen Ende der Altersskala erwarten die Fachleute gespannt die Auftritte des 17-jährigen Brasilianers Endrick; so wie sie an der Euro auch Warren Zaïre-Emery (Frankreich, 18) und Arda Güler (Türkei, 19) im Visier haben – oder mit João Neves, 19, einen besonders jungen Portugiesen. «Wir können auf vier Generationen zählen», so freut sich der Nationaltrainer Roberto Martínez.

Doch der grösste Hingucker bleibt der Jüngste von allen: In Spanien ist Yamal bereits Posterboy. Sein Konterfei mit Zahnspange prangt an Shopping-Centern und Wohnblöcken oder grüsst von den Titelseiten der Modehefte. «Die Zukunft wartet nicht» lautet dazu der Slogan seines Ausrüsters. Mit seinen instinktiven Wendungen und Tempodribblings gilt Yamal manchen als Wiedergänger des jungen Messi.

Der Sohn eines marokkanischen Vaters und einer äquatorialguineischen Mutter verkörpert die perfekte Kreuzung aus Strassenfussball und Akademie. Wie viele andere Jungstars – Gavi, der Verteidiger Pau Cubarsí oder der in letzter Zeit von Verletzungen geplagte Ansu Fati, mit 17 Jahren und 40 Tagen jüngster Torschütze der Champions-League-Geschichte – kam er bereits jung in den Nachwuchs des FC Barcelona. Im technikbasierten Fussballstil der Katalanen finden Spieler auch schon dann Verwendung, wenn ihre Muskeln noch nicht vollständig entwickelt sind. Yamal freilich verfeinerte seine Künste nebenher bis vor wenigen Jahren auch noch auf dem Beton seines Viertels Rocafonda in der nahen katalanischen Industriestadt Mataró.

Als Hommage an seine Herkunft überkreuzt Yamal beim Torjubel die Hände und zeigt mit den Fingern die Nummern 3, 0 und 4 an – es sind die drei letzten Ziffern der Postleitzahl von Rocafonda, einem als verrucht geltenden Problemviertel. Steil steigen die Strassen vom Meer auf, die Bolzplätze sind von Graffiti umgeben, und auch die Sozialstatistiken erinnern fast an eine brasilianische Favela. Das Durchschnittseinkommen beträgt ein Drittel desjenigen in reicheren Stadtteilen, fast die Hälfte der Familien in Rocafonda ist von Armut bedroht.

Der argentinische Ex-Profi «Mono» Burgos sorgte als Experte im spanischen Fernsehen diese Saison für einen Skandal, als er vor dem Champions-League-Spiel bei Paris Saint-Germain sagte, wenn es bei Lamine mit dem Fussball nicht gut laufe, «wird er an einer Strassenampel enden». Barça und PSG boykottierten daraufhin Interviews mit dem Sender, Burgos wurde geschasst. Doch für Yamals Familie sind rassistische Verunglimpfungen nichts Neues. Lamines Vater Mounir wurde nach einer Handgreiflichkeit gegen einen Wahlkämpfer der xenophoben Vox-Partei an einem Stand in Rocafonda voriges Jahr zu einer Geldstrafe verurteilt. Mounir Yamal ist übrigens vier Jahre jünger als Pepe.

Vom Brasilianer zum portugiesischen Europameister

Dieser heisst eigentlich Képler Laveran de Lima Ferreira, kommt aus Maceió im Nordosten Brasiliens und schlief bis zu seinem 17. Lebensjahr bei seiner Mutter im Bett («Ich nehme an, mein Vater war nicht begeistert»), ehe er über Nacht aus dem regionalen Fussball nach Portugal auf die Atlantikinsel Madeira transferiert wurde. Beim Umsteigen am Flughafen in Lissabon gab ihm der Verkäufer einer Sandwichkette gratis ein belegtes Baguette, weil Pepe seine einzigen fünf Euro in einen Anruf nach Hause investiert hatte. Diese grossherzige Geste habe ihn für sein ganzes Leben geprägt, erzählte Pepe einmal: «Damit wurde Portugal zu meiner ersten Option.»

Nach drei Jahren bei Marítimo Funchal wurde der FC Porto auf ihn aufmerksam, und nach fünf Jahren im Land konnte sein Einbürgerungsprozess beginnen. 2008 bestritt er an der EM in der Schweiz sein erstes Turnier, seither hat er keines verpasst. 16 Platzverweise und mancher Ausraster erzählen von einer harten Spielweise, aber Pepe beschränkt sich zunehmend nur noch auf die Qualitäten, die ihn zu einem der komplettesten Innenverteidiger des 21. Jahrhunderts gemacht haben. Mit Stellungsspiel, Zweikampfstärke, Antizipation, Spielverständnis und Kopfballstärke überzeugte er auch im EM-Final 2016 so sehr, dass er in Portugals grösster Nacht von der Uefa zum «Man of the Match» ernannt wurde: der Höhepunkt der Liebesbeziehung.

Vor dem Turnier verriet Pepe das EM-Motto für Portugal: «Träumen kostet nichts.» Es gilt auch für seine Karriere. Wie für die des 25 Jahre jüngeren Lamine Yamal.

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