Donnerstag, Dezember 26

In Österreich gab es jüngst Sperren wegen schwulenfeindlicher Parolen. Das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Dennoch sagt Thomas Hitzlsperger, als Teil einer Minderheit müsse man sich immer wieder zur Wehr setzen.

Wäre das vor zehn Jahren auch so passiert? Weil sie schwulenfeindliche Parolen geschrien hatten, bestrafte am letzten Montag die Disziplinarkommission in Österreich fünf Spieler, einen Co-Trainer und einen Geschäftsführer.

Die Meldung aus Wien ist bemerkenswert. Weniger, weil gedankenlose Fussballer schwulenfeindliche Äusserungen von sich geben. Das passiert nach wie vor, auf Fussballplätzen, in Fankurven, im Umfeld. Bemerkenswert ist die Meldung, weil die homophoben Äusserungen mit Strafen sanktioniert worden sind. Und zwar nicht nur mit Geldbussen von symbolischem Wert, sondern mit Strafen, die den Tätern und ihrem Klub weh tun: mit Spielsperren.

Zehn Jahre ist es her, seit der deutsche Nationalspieler Thomas Hitzlsperger kurz nach dem Rücktritt als Profi beschloss, den Schritt an die Öffentlichkeit zu wagen und sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Nun hat Hitzlsperger zusammen mit Holger Gertz, Autor und Reporter bei der «Süddeutschen Zeitung», ein Buch geschrieben über die Geschichte und die Folgen seines Coming-outs.

Könnte das Urteil in Österreich einen Zusammenhang haben mit Hitzlspergers Geschichte als erstem bekanntem Fussballer, der sich geoutet hat? Hat die Geschichte dazu geführt, dass die Sensibilität gegenüber diskriminierenden Reden und Gesten in den vergangenen Jahren gewachsen ist?

Hitzlsperger ist kein Aktivist

«Der Tonfall, in dem über Vielfalt gesprochen und geschrieben wird, ist selbstverständlicher und angenehmer geworden», sagt Hitzlsperger, «aber in welchem Mass dieser Wandel oder das jüngste Urteil in Österreich mit meiner Geschichte zu tun haben könnte, will ich nicht bewerten.»

Hitzlsperger sitzt gerade im Taxi auf dem Weg zum Flughafen in München. Als Mitbesitzer des ältesten französischen Restaurants in London hat er in England Geschäftliches zu erledigen. Er ist TV-Experte, Mit-Investor im dänischen Zweitligaklub Aalborg BK, gibt momentan Interviews zur Buchveröffentlichung und verhandelt mit der ARD, wie in Katar während der Euro wieder in Deutschland als Experte zu arbeiten. Hitzlsperger lacht in die Zoom-Kamera: «Ich führe ein zufriedenes, ausgefülltes Leben mit dem Gefühl, eine Normalität zu haben.»

Gehört zu dieser Normalität auch das Gefühl nach dem Aufstehen, ein Vorbild zu sein als Vorkämpfer gegen Homophobie? «Überhaupt nicht, ich sehe mich nicht als Aktivisten, denn ich habe das Thema nicht gesucht, das Thema hat mich gefunden», sagt Hitzlsperger, «aber wenn mich Menschen ansprechen und sagen, dass sie gut finden, was ich mache oder sage, dann freut mich das – es ist ein grosses Glück, zu merken, dass ich anderen Menschen vielleicht eine Hilfestellung geben kann.»

Der Weg in eine «Normalität» war für den 41-Jährigen nicht einfach. Dafür hat es Mut gebraucht, nicht nur einmal und nicht nur in den Stunden am 8. Januar 2014, als Hitzlsperger in München durch seine Wohnung tigert im Wissen, dass die Wochenzeitung «Die Zeit» jetzt gleich die Meldung über das erste Coming-out eines deutschen Nationalspielers verschickt. Hitzlspergers Coming-out. «Ich dachte damals, mein Schritt sei schwierig und anstrengend – heute weiss ich, dass es gar nicht so schwierig war», sagt Hitzlsperger.

Thomas Hitzlsperger bekennt sich zu seiner Homosexualität - Das ganze Fernseh-Interview im ZDF

Das Buch heisst «Mutproben», Plural. Das ist wichtig, denn schon die Mehrzahl ist ein Hinweis, dass es Hitzlsperger nur zum Teil um seine individuelle Mutprobe geht, sich zu outen. Sondern dass seine Mutprobe eine ist, die auch andere Menschen bestehen können. Der Buchtitel gibt auch den Hinweis, dass es immer wieder Mut braucht, um für seine Überzeugung einzustehen. Für Überzeugung und Werte, die nicht nur für den Einzelnen wichtig sind, sondern auch für andere.

Als Teil einer Minderheit müsse man sich immer wieder zur Wehr setzen und sich melden, damit man nicht ausgegrenzt werde, sagt Hitzlsperger. Denn er möchte nicht ablassen vom Glauben, «dass man auch im Fussballbetrieb ein Mensch bleiben kann, dem nicht alles egal ist», wie es an einer schönen Stelle im Buch heisst.

«Alles» kann viel bedeuten: Homophobie, Rassismus, Ausgrenzung, Ausbeutung von Arbeitsmigranten, «Sportswashing», der Glaube von Funktionären und Potentaten, mit Geld alles kaufen zu können. Das alles und einiges mehr sind Themen, die Hitzlsperger in seinem Buch anspricht. Das klingt nach Pamphlet und Kampfschrift, aber man liest auch dank der Könnerschaft des Autors Gertz das raffinierte Gegenteil: Die packende Geschichte eines ehemaligen Fussballers, der offen seine Umwelt wahrnimmt und wach ist gegenüber dem eigenen Empfinden.

«Für mich war es keine Option, mein Leben so weiterzuleben und zu schweigen – im ständigen Bewusstsein, nicht mehr hier ein wenig zu täuschen, da etwas vorzugaukeln und dort nur die halbe Wahrheit zu sagen», sagt Hitzlsperger im Rückblick auf sein Spielerleben, gegen dessen Ende er sich fragte, welches Leben er nach dem nahenden Rücktritt führen wolle. Bis dahin hatte vor allem der Fussball sein Leben bestimmt. Bis ihm Gefühle sagten, dass er homosexuell sein könnte.

Wie das Foto im Entwicklerbad

Es brauchte Zeit, bis aus den Gefühlen eine Art Gewissheit wurde, «wie man die Umrisse und Konturen auf einem Foto im Entwicklerbad ja auch erst allmählich erkennt». Im Buch ist eindrücklich geschildert, wie aus der gewonnenen Gewissheit, schwul zu sein, in der Zeit bei Lazio Rom 2010 ein Leidensdruck entstand, dem Hitzlsperger entfliehen wollte. Nicht mehr täuschen, Schluss mit Schweigen. Es dauerte nochmals vier Jahre mit langen Gesprächen mit Journalisten und Beratern, bis es so weit war.

So riesig und lärmig 2014 die Aufmerksamkeit nach dem Coming-out war, so behutsam und fast beiläufig verhandelt zehn Jahre später das Buch Hitzlspergers Homosexualität. Die Absicht ist klar: Sie ist dem grossen Ziel geschuldet, dass es keine Rolle mehr spielen sollte, ob jemand in einer Kabine von einer Frau oder einem Mann redet, wenn er von seinem Partner spricht. Hitzlsperger war nicht nur, aber vor allem ein sehr guter Fussballspieler.

Schon als jüngstes von sieben Geschwistern kickt er auf der Wiese oder an die Hauswand des elterlichen Bauernhofs in Forstinning, östlich von München. Er darf zu den Bayern, wird Profi, wechselt mit 18 Jahren nach England und bekommt bei Aston Villa wegen seines strammen Schusses den Ehrennamen «The Hammer». Er wird Nationalspieler, schiesst den VfB Stuttgart 2007 zur Meisterschaft, wird Captain im Klub und gelegentlich im Nationalteam.

Vorfreude auf die EM in Deutschland

Das ist wunderbar leicht und zügig erzählt und zeigt, wie sexuelle Orientierung, Hautfarbe und alle anderen schweren Fragen, die den Fussball überfrachten und vergrössern, ganz allmählich in Hitzlspergers Wahrnehmung gelangen wie «das Foto im Entwicklerbad». Unterdessen haben sich daraus klare Haltungen entwickelt. Am Ende des Buches freut sich Hitzlsperger auf die kommende EM in Deutschland als Möglichkeit, «dass dieses verzagte Land endlich wieder einmal aus dieser Wutstarre und Bitterkeit herausfindet . . . wenigstens für ein paar Wochen lang».

Wenigstens für ein paar Wochen lang? Es gibt die Regenbogenfahnen in den Stadien, die Captainbinden, viele grosse Vereine und Verbände, die sich Diskriminierungen entgegenstellen und für Diversität aussprechen. Aber ist es besser geworden für Sportler und Sportlerinnen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung, Hautfarbe oder Herkunft leiden, zweifeln, verzweifeln?

Im Mai 1998 erhängte sich der englische Fussballer Justin Fashanu mit einem Elektrokabel, nachdem er sich acht Jahre zuvor geoutet hatte und sein Leben nicht mehr aushielt nach einer Hetzjagd in den Medien und der Fussballbranche. Im August 2022 zahlte der damalige Luzern-Goalie Marius Müller 2000 Franken Busse, nachdem er im TV-Interview gesagt hatte, «das schwule Weggedrehe» seiner Mitspieler nerve ihn. Benjamin Kololli fand vor ein paar Jahren, homosexuelle Spieler sollten ihre Neigung besser für sich behalten. Als er vor kurzem im FC Basel einen Vertrag bekam, musste er sich nach Fan-Protesten entschuldigen.

Es brauche «neue Erzählungen und andere Geschichten», sagt Hitzlsperger. Dafür braucht es Mut, immer wieder Mut. Guido Burgstaller, Marco Grüll, der ehemalige YB-Spieler Thorsten Schick, Maximilian Hofmann und Niklas Hedl heissen die Spieler von Rapid Wien, die ihre Strafen absitzen.

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