Am 7. Januar 2015 verübten Terroristen ein Massaker in der Redaktion von «Charlie Hebdo». Das Satireblatt steht heute immer noch unter Polizeischutz. Sein jüngster Mitarbeiter sagt, dass sich in seiner Generation fast niemand mehr traue, den Islam und andere Religionen zu kritisieren.
Martin Lom war zehn Jahre alt, als er im Fernsehen die Nachrichten über den Terroranschlag vom 7. Januar 2015 sah. Er habe als Kind die volle Tragweite des Massakers gegen Mitarbeiter der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» nicht erfassen können, sagt er. Aber die Betroffenheit der Erwachsenen habe er damals deutlich gespürt. «Ich erinnere mich daran, wie sie erzählten, dass Journalisten mit Kriegswaffen erschossen wurden. Die symbolische Bedeutung hinter der Tat verstand ich nicht.»
«Nicht totzukriegen»
Lom, Politologiestudent und Gründer der Vereinigung Génération Charlie, ist der jüngste Mitarbeiter, den das französische Satireblatt je hatte. Er sitzt im Zug nach Paris und hat gerade Zeit für ein Telefonat. Einen Tag vor dem Jubiläum des Terroranschlags ist er auf dem Weg zur Arbeit, in den «Bunker». So nennen sie bei «Charlie Hebdo» den Ort, wo seit Ende 2015 die neuen Räumlichkeiten der Redaktion untergebracht sind und dessen Adresse aus guten Gründen geheim gehalten wird.
Es gibt schliesslich immer noch Morddrohungen. Zum Beispiel gegen den Cartoonisten und heutigen Verlagsleiter Laurent Sourisseau, besser bekannt als Riss, der während des Attentats von einer Kugel in der rechten Schulter getroffen wurde und nur überlebte, weil er sich danach tot stellte. Oder gegen den legendären Zeichner Rénald Luzier alias Luz, der damals durch eine glückliche Fügung die tödliche Redaktionssitzung verschlief. Zwischen 70 und 80 Polizisten sind heute, teilweise rund um die Uhr, für den Schutz der Mitarbeiter abgestellt.
Lom stiess 2022 als freier Redaktor zum Team dazu. Wenn die beiden Terroristen, die Brüder Saïd und Chérif Kouachi, nach ihrer Tat behauptet hatten, «Charlie Hebdo getötet» zu haben, so ist der Zwanzigjährige heute der beste Gegenbeweis, dass das subversive und respektlose Magazin überlebt hat. Noch immer liegt das Wochenblatt jeden Mittwoch am Kiosk aus, wenngleich die Verkaufszahlen seit 2017 um mehr als die Hälfte gesunken sind. Die Auflage soll inzwischen bei unter 30 000 Exemplaren liegen. Der Rekord von 8 Millionen Exemplaren, die die Redaktion von einer «Überlebenden»-Ausgabe am 14. Januar, eine Woche nach dem Anschlag, verkaufte, blieb einmalig.
Die Schlagzeile einer 32-seitigen Sonderausgabe zum Jahrestag des Terroranschlags lautet denn auch trotzig: «Nicht totzukriegen». Zu sehen bekommen die Leser auf vier Seiten Karikaturen zu Gott, die im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs Ende 2024 ausgewählt wurden. Aufs Korn genommen werden sollen unter dem Motto «Rire de Dieu» (Lachen über Gott) alle Religionen. Nur fällt der Spott am Islam dieses Mal auffällig milde aus. In einer Zeichnung des Belgiers Nicolas Vadot heisst es: «Und wenn ich einen Typen zeichne, der einen Typen zeichnet, der Mohammed zeichnet, geht das dann?» Neue Karikaturen des Propheten hat das Magazin seit fünf Jahren nicht mehr veröffentlicht.
Im Visier der Jihadisten
2006 hatte «Charlie Hebdo» noch zu den wenigen Blättern gehört, die sich trauten, die umstrittenen Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung «Jyllands Posten» nachzudrucken. Es folgten weitere, eigene Zeichnungen des Propheten der Muslime und ein Brandanschlag auf die Redaktion im November 2011. Zwei Jahre später rief die Terrorgruppe al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel über ihr Online-Magazin «Inspire» zum Mord am damaligen Chefredaktor Stéphane Charbonnier, genannt Charb, auf.
Die Jihadisten Saïd und Chérif Kouachi, die sich am Vormittag des 7. Januar Zugang zu der Redaktion verschafft hatten, bekannten sich zu dem Kaida-Ableger. Sie erschossen an jenem Tag mit ihren Sturmgewehren acht Zeichner und Autoren von «Charlie Hebdo», unter ihnen Charb, sowie einen zum Schutz abgestellten Polizisten, einen Hauswart, einen Besucher und einen weiteren Polizisten auf der Flucht. Mehrere Opfer überlebten teilweise schwer verletzt. Der Webmaster Simon Fieschi, auch er ein Invalide nach dem Attentat, starb erst im vergangenen Oktober allein in einem Hotelzimmer.
Amedy Coulibaly, ein Freund der Kouachi-Brüder, tötete am Folgetag eine Polizistin vor einer jüdischen Schule und am 9. Januar vier Juden in einem koscheren Supermarkt. Er wurde noch am selben Tag von der Polizei erschossen – genauso wie die Kouachis, die sich in einer Fabrik östlich von Paris verschanzt hatten. Was freilich niemand ahnen konnte: Die Taten waren erst der Beginn einer islamistischen Terrorwelle, bei der in den Jahren 2015 und 2016 mehr als 250 Personen getötet wurden. Dazu zählten die Bataclan-Anschläge in Paris und Saint-Denis mit 130 Toten und die Amokfahrt von Nizza mit 86 Toten.
Für Martin Lom sollte der ebenfalls islamistisch motivierte Mord an dem Lehrer Samuel Paty im Oktober 2020 alles verändern. Paty hatte seinen Schülern die von «Charlie Hebdo» veröffentlichten Mohammed-Karikaturen im Unterricht gezeigt, um ihnen, dem Lehrplan folgend, das Recht auf Meinungsfreiheit zu erklären. Ein 18-jähriger Tschetschene enthauptete den Lehrer danach auf offener Strasse. Frankreich stand einmal mehr unter Schock, aber plötzlich wurde vereinzelt auch über Rassismus gegen Muslime und «Islamophobie» diskutiert. Lom, der diese Vorwürfe ungerecht fand, gründete eine Vereinigung, um das Recht auf Satire und Religionskritik zu verteidigen.
«In meiner Generation sieht man kaum noch die Notwendigkeit, Religionen, und zwar alle Religionen, kritisieren und auch verspotten zu dürfen», sagt er. Viele hätten Sorge, dann gleich als Rassisten oder Islamophobe abgestempelt zu werden. Dabei, so Lom, gelte es doch zu unterscheiden zwischen Kritik an Ideen und der Diskriminierung von Personen. Genau das mache für ihn auch den «Geist von Charlie» aus.
Recht auf Spott
Nach dem Anschlag auf die Redaktion hatten am 10. und am 11. Januar 2015 in ganz Frankreich fast vier Millionen unter dem Motto «Je suis Charlie» ihre Solidarität mit den Opfern demonstriert. Mitmarschiert waren damals in der ersten Reihe sogar der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und der Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas. Dabei habe das Motto nie bedeutet, Fan seiner Zeitschrift zu sein, sagt Lom, sondern sich gegen die Ermordung von Karikaturisten zu stellen.
Der Spruch nutzte sich schnell ab, viele reagierten genervt, einige warfen den Humoristen Heuchelei und versteckten Hass auf Muslime vor. Auch Lom erzählt, ihm sei von Kommilitonen schon vorgeworfen worden, Vorurteile zu schüren. Dabei gehört «Charlie Hebdo» eigentlich dem linken, ursprünglich sogar dem anarcho-linken und antiklerikalen Spektrum an. Nur zählen sich die Redaktionsmitglieder eben zur laizistischen und nicht zur identitätspolitischen Linken (weswegen der Populist Jean-Luc Mélenchon, der mit propalästinensischen Botschaften in den Banlieues nach Wählerstimmen fischt, in der Zeitschrift regelmässig sein Fett abbekommt).