Dienstag, Oktober 8

Die Angehörigen der getöteten Demonstranten wollen Gerechtigkeit. Auch die Gegner der gestürzten Regierung nutzen die Chance, um alte Fälle vor Gericht zu bringen. Langsam wird das ganze Ausmass der Repressionen unter Hasina klar.

Die Gerichte in Bangladesh haben dieser Tage alle Hände voll zu tun. Mit dem Sturz von Sheikh Hasina am 5. August hat sich der Wind gedreht. Die gestürzte Premierministerin, deren Awami League in den letzten Jahren ihre Gegner mit Prozessen überzogen hat, sieht sich nun selber mit Dutzenden von Klagen konfrontiert. Die Zahl der Anzeigen steigt praktisch täglich und hat bereits die Fünfziger-Marke überschritten. In den meisten Fällen geht es um Mord, es geht aber auch um Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die 76-Jährige wird vor allem für die über 400 Toten während der Studentenproteste verantwortlich gemacht, die zu ihrem Sturz führten. Sie hatte neben Polizei und Armee auch regierungsnahe Schlägertrupps entsandt, um die Proteste zu beenden. Bis zuletzt drängte Hasina die Armee, auf die Menge zu schiessen, die auf ihren Amtssitz in Dhaka marschierte. Am Ende verweigerten die Generäle aber den Schiessbefehl und zwangen die Premierministerin zum Rücktritt.

Bei den Protesten wurden Studenten, aber auch unbeteiligte Passanten erschossen. Ihre Angehörigen reichen nun Anzeige gegen Hasina und weitere Vertreter ihrer Awami League ein. Oft richten sich die Anzeigen gegen mehrere hundert Personen. Neben Hasina sehen sich auch ehemalige Minister, Abgeordnete, Bürgermeister und Funktionäre der Regierungspartei wegen der blutigen Repression in den finalen Tagen der Regierung mit Klagen konfrontiert.

Über Jahre ohne Tageslicht in völliger Isolation

Ihre Gegner nutzen die veränderte Lage nach ihrem Sturz auch, um frühere Fälle von Mord, Folter und Entführung vor Gericht zu bringen. Hasina wurde schon lange vorgeworfen, mit dem Rapid Action Battalion eine Todesschwadron unterhalten zu haben. Es soll Hunderte Gegner ermordet haben. Viele Kritiker verschwanden auch spurlos. Die Presse in Bangladesh deckte nun die Existenz von geheimen Gefängnissen auf, die offenbar vom Militärgeheimdienst DGFI betrieben wurden. Dieser soll direkt der Premierministerin unterstanden haben.

Die Aynaghar (Haus der Spiegel) genannten Gefängnisse waren berüchtigt dafür, dass politische Häftlinge in den Zellen in totaler Isolation ohne Tageslicht lebten. Manche verbrachten dort Tage, andere Wochen oder gar Jahre unter unmenschlichen Bedingungen. Nach dem Sturz von Hasina tauchten mehrere Regierungsgegner wieder auf, die vor Jahren verschwunden waren und seither ohne Zugang zu einem Anwalt oder ihrer Familie festgehalten worden waren.

Die Nationale Menschenrechtskommission forderte eine umfassende Untersuchung zu den geheimen Gefängnissen, zu der Zahl der Häftlinge und den Gründen ihrer Inhaftierung. Die Übergangsregierung unter Vorsitz des Friedensnobelpreisträgers Muhammad Yunus ordnete daraufhin am Donnerstag die Einrichtung einer Kommission an, um die Fälle der Verschwundenen aufzuklären und die Verantwortlichen für die Etablierung der Aynaghar zu identifizieren.

Der Sumpf der Korruption wird trockengelegt

Ob sich Hasina für die Ermordung ihrer Gegner und die Tötung der Demonstranten wird verantworten müssen, ist ungewiss. Seit ihrer Flucht am 5. August lebt sie in Indien, wo sie auf Unterstützung von Premierminister Narendra Modi, einem langjährigen Verbündeten, zählen kann. Wie es für Hasina weitergeht, ist offen, nachdem die Übergangsregierung in Dhaka am Mittwoch sämtliche Diplomatenpässe annulliert hat. Indien hat Hasina bisher nicht offiziell Asyl gewährt, allerdings erscheint es auch unwahrscheinlich, dass Modi sie an die Justiz in Bangladesh ausliefert.

Nicht nur Polizei und Justiz haben dort alle Hände voll zu tun. Auch die Anti-Korruptions-Kommission und die Finanzaufsichtsbehörde verzeichnen ein erhöhtes Arbeitsaufkommen. Sie leiteten zahlreiche Verfahren wegen Bestechung, Geldwäsche und Amtsmissbrauch gegen frühere Mitarbeiter von Hasina, ehemalige Minister und Funktionäre aus dem Umfeld der Regierung ein. Auch verhängten sie Ausreisesperren gegen Personen, die sich bereichert haben sollen.

Hasina war 2008 bei demokratischen Wahlen an die Macht gelangt, hatte seither aber die Grundrechte stark eingeschränkt. Schon die Parlamentswahlen 2014 galten als weder frei noch fair. Die Opposition sah sich derart benachteiligt, dass sie den jüngsten Urnengang im Januar boykottierte. Zuletzt war Bangladesh ein autoritärer Einparteistaat, doch gelang es Hasina trotz aller Repression nicht, die Zivilgesellschaft ganz zu brechen, wie die Studentenproteste zeigten.

Die Polizei will nach der Gewalt neue Uniformen

Nach dem Sturz Hasinas brach zunächst die Ordnung zusammen, da die Polizei aus Angst vor Vergeltung über Tage aus der Öffentlichkeit verschwand. Die Studenten übernahmen daraufhin selbst die Aufgabe, den Verkehr zu regeln und für Ordnung zu sorgen. Allerdings kam es nach dem Sturz Hasinas auch zu blutigen Racheakten gegen Vertreter von Hasinas Awami League und Angehörige der Hindu-Minderheit, denen vorgeworfen wurde, die Regierungspartei zu unterstützen.

Die Übergangsregierung ist bemüht, das Vertrauen in die diskreditierten Ordnungshüter wiederherzustellen. Viele Polizeichefs wurden in den Ruhestand versetzt, auch will sich die Polizei ein neues Logo und eine neue Uniform geben. Es bleibt abzuwarten, ob der Umsturz jenseits solcher kosmetischer Massnahmen zu einem tiefgreifenden Wandel bei Polizei, Justiz und Regierung führt. Es steht zu befürchten, dass Hasinas Gegner den Spiess einfach umdrehen und die Justiz nutzen werden, um Rache für das erlittene Unrecht zu nehmen. Bangladesh hätte wenig gewonnen, wenn die Opposition die Politik der Awami League unter anderem Vorzeichen einfach fortsetzte.

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