Donnerstag, Oktober 10

Die Schwedische Akademie wartet dieses Jahr mit einer Überraschung auf: der Schriftstellerin Han Kang. Es ist der erste Literaturnobelpreis für Korea. Damit schliesst endlich auch die hochkarätige Literatur des Landes zum weltweiten Grosserfolg der südkoreanischen Kultur auf.

Oft hat man über die Entscheidungen der Schwedischen Akademie gestutzt oder sich gar geärgert – dieses Mal, mit der Kür der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang, darf man zufrieden sein. In ihrer Person findet eine bedeutende Nation und grosse Kultur erstmals Berücksichtigung bei der Vergabe der renommiertesten Auszeichnung der literarischen Welt.

Fast überall mischt Südkorea heute in der populären Weltkultur vorne mit. Nur die Literatur fand bisher trotz vielen originellen Talenten vergleichsweise wenig Berücksichtigung. Lange wurde als Kandidat der heute 91-jährige Schriftsteller Ko Un gehandelt, in dessen persönlichem Kampf für die Demokratie und dessen komplexem poetischen Schaffen idealtypisch das zusammenfindet, wonach der Nobelpreis begehrt – die Verbindung von Ästhetik und Moral, von Schönheit und Emanzipation, Form und Bewusstsein. Allerdings hat sich Ko Un in den vergangenen Jahren bös in den Fallstricken von «Me too» verheddert, so dass er als Laureat nicht mehr infrage kam.

Die 1970 geborene Han Kang gehört einer gänzlich verwandelten, politisch entspannten und weltoffenen Generation von Südkoreanern an. Diese hat es seit der Jahrtausendwende geschafft, das Wirtschaftswunder vom Han-River in einen popkulturellen Aufbruch zu transformieren, der den Namen «Hallyu» (Korea-Welle) trägt.

Ob Filme («Parasite») oder Serien («Squid Game»), K-Pop oder K-Rap («Gangnam Style» von Psy), Comics oder Kunst, Mode, Design oder Kulinarik – die südkoreanische Kultur ist global stilbildend geworden. Seoul hat sich in eine hippe Metropole verwandelt, einen längst nicht mehr ganz geheimen Geheimtipp für Touristen aus China, Japan, Europa und den USA.

Die Abgründe der Gewalt

Han Kang wurde in Kwangju im Südwesten Koreas geboren, wo sie einen Teil ihrer frühen Kindheit verbrachte. Der Stadt setzte sie mit dem Roman «Menschenwerk» ein literarisches Denkmal. Darin gedachte sie des brutalen Massakers der Armee an Studenten und Arbeitern, die am 18. Mai 1980 gegen die Militärdiktatur demonstrierten. Abgründig und in leisen Tönen versucht sie das tragische Grauen dieser Tage zu fassen.

Gewalt ist ein Thema, das in den Büchern Han Kangs wiederkehrt. Einen ganz anderen Zugang zu dieser Art von «Menschenwerk» bietet auf meisterhafte Weise der Roman «Die Vegetarierin», für den sie 2016 den International-Booker-Preis erhielt und der ihr die Türen zum westlichen Publikum öffnete. Han erzählt darin von einer Frau, die sich aus der Aggression der Welt ausklinkt und sich entschliesst, Vegetarierin zu werden. Ihre stille Rebellion nimmt bizarre Formen an, als sie versucht, sich immer mehr einer Pflanze anzugleichen.

Sie beschreibe Gewalt, sagte Han Kang einmal, weil sie verstehen wolle, was den Menschen ausmache, aber auch, wo die Grenzen der Verstehbarkeit des menschlichen Handelns lägen. Darüber hinaus gehe es ihr darum zu erkunden, ob und wie wir die Welt, in der Schrecken und Schönheit so hoffnungslos vermengt sind, umarmen könnten.

Han Kangs Kindheit ist geprägt durch Bücher und Lesen. Ihre literarische Karriere wurde ihr quasi in die Wiege gelegt. Ihr Vater Han Sung Won war ein bekannter Schriftsteller. Die Bücher wurden für seine Tochter ein Mittel, der Einsamkeit standzuhalten. Die Familie musste, da der Vater nicht viel verdiente, oft umziehen, und Han Kang blieb ohne feste Freunde. Früh schon entwickelte sie ein Gespür für die Fremdheit der Welt und die Verlorenheit des Einzelnen. Die Literatur wurde zum magischen Gegenuniversum, der Weg des Schreibens lag auf der Hand. Dass sie das Studium der koreanischen Literatur wählte, fügt sich nahtlos in diesen Lebenslauf.

Internationale Anerkennung

Nicht Belletristik, sondern Lyrik stand am Anfang von Han Kangs literarischer Laufbahn. 1993 veröffentlichte sie ihre ersten Gedichte, dann aber wandte sie sich ganz der Prosa zu. Seit dem Erscheinen der ersten Erzählung im Jahr 1994 hat die Autorin bis heute eine ganze Reihe von Romanen, Erzählungen und Essays vorgelegt. Ihre Werke fanden bald Resonanz bei der Kritik und beim Publikum. Die Anerkennung zeigte sich in Form von Preisen, und inzwischen hat Han Kang die meisten namhaften koreanischen literarischen Auszeichnungen gewonnen. Dem folgte der internationale Durchbruch und die Übersetzung in die wichtigsten Sprachen der Welt.

Im April gab das norwegische Future Library Project bekannt, dass Han Kang als erste Asiatin überhaupt zur Autorin des Jahres gekürt werde. Das Projekt besteht darin, dass jedes Jahr jemand ausgewählt wird, der ein Buch verfasst, bis insgesamt 100 Werke zusammengekommen sind. Alle diese Bücher sollen erst 100 Jahre nach Beginn des Projekts, also 2114 veröffentlicht werden.

Was macht Han Kangs literarisches Schaffen aus? Wie die Welt eines jeden ernstzunehmenden Autors ist auch ihre komplex und besitzt einen ganz eigenen Reichtum. Über ihr Schreiben sagte Han einmal: «Ich möchte über Menschen schreiben, die Wärme in sich tragen und deren Herzen schlagen.» Sie schreibe gern und viel im Winter. Die Kälte dieser Jahreszeit, die sie in der Kindheit spürte, sei tief in ihren Körper eingraviert und deren Empfindung habe sie zur Autorin gemacht. Denn in den kalten Tagen sei ihr besonders bewusst, wie warm und wie zerbrechlich der menschliche Körper sei. Dann fühle sie intensiv, dass sie lebe, dass sie lebendig sei.

Han pflegt eine schlichte, leise Sprache, ohne Pathos. Sie erschreibt sich damit eine ganz eigene Subtilität. Zurückhaltend und ruhig ist der Duktus ihres Erzählens und kann darum auch etwas kühl anmuten. Ihre Prosa besitzt eine ganz eigene Ernsthaftigkeit und Unmittelbarkeit, sie kommt ohne ironische Brüche aus. Han Kang ist mit 53 noch verhältnismässig jung, doch hat sich ihr Stil mit den Jahren verfeinert und erkennbar an Konturen gewonnen.

Die Farbe Weiss

Han Kang setzt gern auf vielfache Perspektive, um die Dinge möglichst in ihrer Komplexität erscheinen zu lassen. Neu ist diese Erzähltechnik nicht, aber Han schafft damit Dichte und Atmosphäre, so wie in «Die Vegetarierin» und «Menschenwerk». Der Roman «Deine kalten Hände» besitzt zwei Erzählebenen. In «Menschenwerk» wiederum treten verschiedene Sprecher auf, denen dasselbe tragische Geschehen widerfuhr. Lebende, Verwundete und Tote erzählen ihre Version. Die Realität flicht sich aus unterschiedlichen Erzählsträngen zu einem grossen Narrativ zusammen. In «Die Vegetarierin» wird die Geschichte in drei Sichtweisen aufgespalten. Drei unterschiedliche Personen erzählen, wie sie das Schicksal der Protagonistin Yeong Hye erlebten.

Ein weiteres Merkmal von Han Kangs Prosa ist die Bedeutung des Körpers. In ihren Werken spielt Leiblichkeit eine wichtige Rolle. Das umfasst sehr vieles: Wir haben stets eine subjektive Befindlichkeit. Wir sind den Blicken anderer ausgesetzt, von denen unsere Schönheit, unser Begehren und unser Selbstbild abhängen. Schliesslich sind wir verletzlich, empfinden Schmerzen, werden krank und sterben. Tragen wir Narben, versuchen wir sie zu verbergen.

Das Verhältnis zum eigenen Körper ist selten unkompliziert. Essstörung und körperliche Deformation sind Motive, die in Han Kangs Werken regelmässig wiederkehren. Der bemerkenswerte, kulturenübergreifende Erfolg ihrer Bücher liegt zweifellos auch darin begründet, dass sie die Menschen in ihrer Fragilität zeigen. Körperlich, aber auch in Bezug auf die Frage, wer oder was das Ich sei.

Mit der lyrischen Prosa «Weiss» eröffnete sich Han Kang unlängst ein neues Themenfeld. Das Buch ist ein literarisches Kleinod. Han erzählt darin von Dingen, die weiss sind. Es sind kurze Geschichten, tief und elegant. Sie machen deutlich, wie sehr die Welt der Dinge von Bedeutungen, Zeichen, Erinnerungen und Emotionen durchsetzt ist. Das weisse Wickeltuch etwa birgt das Mysterium der Geburt wie des Sterbens.

Lange rang die südkoreanische Literatur international kaum beachtet mit den historischen Traumata von Kolonialisierung und Bürgerkrieg, Teilung und Gewaltherrschaft – und dies in einer gravitätischen Ästhetik des Realismus. Han Kang ist die Repräsentantin einer ebenso verspielten wie skeptischen postmodernen Erzählergeneration, die selbstbewusst und eigensinnig den Anschluss an die Weltliteratur gefunden hat, ohne die eigene Herkunft auf dem Altar einer globalisierten Beliebigkeit zu opfern. Es ist würdig und recht, dass ihre Stimme in Stockholm erhört worden ist.

Exit mobile version