Sonntag, Oktober 6

«Seinetwegen» ist die Geschichte einer Recherche, aber auch jene eines Lebens in der Schweiz und in Berlin. Eine Begegnung

«Dort oben», Zora del Buono bleibt vor dem Zürcher Unispital stehen und zeigt hoch auf eine Reihe von Fenstern, «dort ist mein Vater gestorben». Frontalkollision in einer Kurve. Der entgegenkommende Wagen hatte trotz durchgezogener Mittellinie zu einem waghalsigen Überholmanöver angesetzt. Er raste bei voller Geschwindigkeit in den lindgrünen VW-Käfer, in dem Manfredi del Buono – Röntgenarzt am Universitätsspital Zürich, Ehemann und, seit acht Monaten, Vater – sass.

Zwei Tage habe noch Hoffnung bestanden, sagt die Tochter. Am dritten war klar, dass der Patient nicht mehr aus dem Koma aufwachen würde. Danach wartete die Belegschaft am Zürcher Universitätsspital nur noch drauf, dass Manfredi del Buono, ihr Manfredi, ihr Kollege, stirbt. Seine junge Zürcher Frau sass am Krankenbett, die italienische Familie war aus Bari angereist. Am fünften Tag, dem 18. August 1963, starb Manfredi del Buono.

60 Jahre später hat die Tochter, die statt des Vaters nur den Verlust kennt, sich ein Ziel gesetzt: Sie will den Unfallverursacher, den «Töter meines Vaters», finden.

«Für uns war es der Tod»

Aus der Suche wurde eine Reise. Durch die Schweiz und durch die Zeit. Zora del Buono sagt, sie unternehme keine Ferien, ohne unterwegs zu arbeiten, an einer Reportage oder einem Roman. Und so wurde auch aus dieser Reise ein Buch: «Seinetwegen» erzählt die Geschichte der del Buonos – jener in Bari, vor allem aber jener in Zürich. Und während del Buono an der Schnur der Jahrzehnte zurückgeht, wird ihre Geschichte auch zu einem Zeitdokument.

Da ist die Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre, die nicht weiss, wie mit einer Witwe umzugehen ist, die lieber studiert, als sich einen neuen Mann, dem Kind einen neuen Vater, zu suchen. «Erinnerung an Mama, die junge Witwe, die nicht zum Abendessen bei den Nachbarn eingeladen wurde mit dem Argument: Mit dir geht die Tischordnung nicht auf», notiert del Buono.

Erinnerungen an den kindlichen Versuch, die Mutter vor ihren Erinnerungen zu schützen: Wann immer ein VW-Käfer auf der Strasse auftauchte, wollte das Kind der Mutter den Anblick ersparen. «Es ist ein Auto, das man gerne anschaut, fröhlich, ein brummendes buntes Tier, für viele war es ihr erstes Auto überhaupt, ein Freiheitsversprechen; für uns war es der Tod.»

Bald auch Fragen. Wie klang eigentlich die Stimme des Vaters? Sprach er Hochdeutsch? Oder Züritüütsch mit italienischem Akzent? Warum bekam der Unfallfahrer nur zwei Jahre Haft auf Bewährung und eine Busse von 200 Franken? «Weil das Opfer Italiener war, än Tschingg, der Unfallverursacher aber ein Lokaler, än Iheimische?»

Ein Buch wie eine Collage

Von «Tschingg» wandern del Buonos Gedanken zu James Schwarzenbach und seiner sogenannten Überfremdungsinitiative (1974). Von dort zu den Jugendunruhen der Achtziger, «Züri brännt» und bald HIV. Infizierte Freunde. Aids führte zum Tod von Menschen, an die del Buono Erinnerungen hat; um die sie anders trauerte als um den unbekannten Vater. Dann die Neunziger, eine Freundin, die heroinabhängig wurde, auf dem Platzspitz landete und del Buonos Mutter bei einem Besuch die Stereoanlage klaute.

Zu den Assoziationen und Geschichtshappen collagiert del Buono nüchterne Begriffserklärungen aus Wörterbüchern oder Wikipedia, Absätze wie Reiseberichte aus der Region, in der der Unfall passiert ist, und immer wieder Gedanken zu dem Mann, der den Vater totgefahren hat. Auf den sie zugeht, indem sie nach ihm sucht.

«Seinetwegen» könnte eine einzige verzettelte Mühsal sein. Stattdessen ist das Buch ein Genuss. Kurzweilig, klug und zuweilen witzig. Zusammengesetzt und komponiert mit dem Gefühl der Architektin, die del Buono einmal war. Mit der richtigen Statik, die den Text von Anfang bis Ende trägt. Eben landete der Suchbericht zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

Chronik eines doppelten Verlusts

«Ausgehend vom Tod des Vaters mein Leben erzählen – als ich während des Schreibens merkte, dass das passiert, dachte ich: Das ist ja gaga», sagt del Buono, als die Sonne schon höher steht über der Uniklinik und der Kaffee auf dem Tisch nur noch lauwarm ist. Angesprochen auf all ihre Themen, Assoziationen und Gedankensprünge, sagt del Buono, so sei es eben gewesen, so habe es in ihrem Kopf ausgesehen. «Wie toll ist das Hirn?»

Und wie erschreckend, wenn sich das Gehirn verändert. Den Vater hat del Buono auf einen Schlag verloren. Die Mutter, auch davon erzählt ihr Buch und nun auch sie selbst, verliert sie gerade Stück für Stück.

«Meinsch, sig lustig, z vertubblä», habe ihre Mutter einmal gesagt. Der Satz habe sich eingebrannt. «Seinetwegen» ist die Chronik eines doppelten Verlusts. 2013 habe sie zum ersten Mal gemerkt, dass die Mutter sich verändert, sagt del Buono. Man ging zum Arzt, hoffte auf nichts, rechnete mit wenig und bekam die Diagnose: Demenz.

Mittlerweile lebt die Mutter im Heim. Wurde ins Heim gegeben, von der Tochter, die sie nur noch selten erkennt. Das Loch, das der fehlende Vater in del Buonos Leben hinterliess, habe sie vor allem darum zu spüren bekommen, weil daneben ein zweites Loch entstand: durch das langsame Verschwinden der demenzkranken Mutter. Ein Abschied auf Raten. Und die Erkenntnis darüber, was am Ende von der Familie bleibt: nur sie. Keine Eltern, keine Geschwister, keine Kinder.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Während die Mutter ihre Erinnerungen verliert, hält del Buono die ihren fest. Es sind viele. Denn del Buono scheint kein Mensch zu sein, der zögert. Zu tun, wonach ihr der Sinn steht, zu wagen, was andere vertagen, ist vielleicht die wichtigste Lehre, die der tote Vater seiner Tochter mit ins Leben gab.

Als ihr, der Architekturstudentin, das Zürich der achtziger Jahre zu still und eng und zwinglianisch wurde, packte sie ihre Koffer und ging nach Westberlin. Man sass zusammen in einem Boot, dort und damals, vor der Wende, sagt del Buono. Hier die Freiheit, dann die Mauer und darum herum die DDR. Die Haustüren seien meistens offen gewesen – und die Telefonhörer selten auf den Gabeln. Denn in Westberlin war vieles subventioniert, auch das Telefonieren. «Ein Anruf kostete 23 Pfennig, egal, wie lange er gedauert hat. Also haben wir telefoniert, den Hörer neben die Gabel gelegt, geduscht oder gekocht – und den Hörer dann einfach wieder aufgenommen und weitergeredet.»

In diesem Westberlin ab 1987 sei sie so sehr zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wie nie wieder. Als am 9. November 1989 Menschen aus der DDR über die Berliner Mauer kletterten und Trabis nach Westberlin fuhren, war del Buono allerdings gerade für ihre Diplomprüfungen in Zürich. Augenblicklich machte sie sich auf gen Norden.

Zurück in Westberlin habe sie dann aber bald festgestellt, dass diese kleine vertraute Blase, in der sie vielleicht die schönste Zeit ihres Lebens verbracht hatte, geplatzt war. «Und das war ja auch gut so», sagt del Buono, «die Menschen müssen frei sein.» Aus Westberlin, del Buono nennt es «eine geschützte Werkstadt», wurde bald eine Grossstadt wie viele andere auch. «Nach der Wende habe ich Westberlin lange nachgetrauert», sagt del Buono. Was für die einen Freiheit bedeutete, war für sie auch ein kleiner Verlust.

Das mag zynisch klingen, ist aber typisch für del Buono: Sie sagt, was sie gefühlt hat, versucht kaum zu kaschieren oder aufzumotzen. Eckt sie an, ist es halt so. Und sowieso: Berlin liebe sie noch immer, das Zimmer in ihrer Berliner WG hat sie bis heute.

Ein warmes Nest

Berlin war auch ein Paradies, weil del Buono – wie viele vor ihr – in der Ferne ein bisschen zu sich selber fand: Del Buono, bisher immer mit Männern zusammen, verliebte sich in eine Frau. Später war del Buono auch wieder mit Männern zusammen. Heute lebt sie allein. «Ein so praktisches Wort wie «queer» gab es damals allerdings noch nicht. Man war entweder – oder. Also war ich damals dann halt lesbisch.»

Das Lesbisch-Sein war gleichsam eine Entdeckung und ein Billett der Zugehörigkeit: Die Gay-Community in Westberlin habe sich damals angefühlt «wie ein warmes Nest», eine Minderheit, die zusammenstand. Seither mag del Buono die Minderheiten. Bei den Hundebesitzern und Rauchern, den Amerikafans im linken Milieu und den Autofahrern unter den Ökos, da fühlt sie sich wohl.

Ein Magazin statt Karriere

Der Tod des Vaters scheint del Buono gelehrt zu haben, dass es keine Sicherheiten gibt. Manche verunsichert das. Del Buono scheint es befreit zu haben. Als ihre Architekturkarriere Fahrt aufnahm, merkte sie, dass sie als Planerin und Bauleiterin nicht ganz glücklich würde. Statt Karriere zu machen, gründete sie mit wenig Geld und nach einem dreitägigen Journalismuskurs gemeinsam mit ihrem besten Freund das Meermagazin «Mare». Als 2008 ihr erster Roman «Canitz’ Verlangen» erschien, war sie 45. Viele beginnen früher – oder lassen das Schreiben ein Traum bleiben.

Vor fünf Jahren, während der Trend zu Wohngemeinschaften für die zweite Lebenshälfte Fahrt aufnahm, zog del Buono zurück nach Zürich und zum ersten Mal in ihrem Leben aus der Wohngemeinschaft in eine eigene Wohnung. Heute wohnt sie mit ihren beiden Hunden in Oerlikon, einem Quartier am Zürcher Stadtrand, fast schon in der Agglomeration.

Es gibt Menschen, die scheinen besser in die Welt zu passen als andere. Nicht weil sie so geformt sind, dass sie nirgends anecken. Sondern weil sie selbstbewusst genug sind, um sich davon weder aus der Bahn werfen noch umformen zu lassen. Del Buono, deren Leben mit einem grossen Unglück begann, ist eine von ihnen. Meist selbstbewusst genug, um Konflikte, innere und äussere, auszuhalten. Manche nennen das «mit beiden Beinen im Leben stehen». Andere würden vielleicht von Glück reden.

Zora del Buono: Seinetwegen. Verlag C. H. Beck, München 2024. 201 S., ca. Fr. 34.90.

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