Montag, Oktober 7

Joe Biden musste einsehen, dass er nicht mehr fit genug ist für eine zweite Amtszeit als amerikanischer Präsident. Wie sieht es bei älteren Medizinern aus? Auch sie tragen viel Verantwortung. Wann ist es Zeit aufzuhören?

Der peinliche Auftritt von Joe Biden Ende Juni ging viral. Alle sahen, wie der US-Präsident im TV-Duell mit Donald Trump patzte. Der 81-Jährige offenbarte Wissenslücken, verdrehte Dinge und Namen und brachte Sätze nicht zu Ende. Zudem wirkte er müde und teilweise abwesend.

Die ganze Welt fragte sich: Ist Biden senil? Oder diplomatischer: Wie steht es um seine körperliche und geistige Gesundheit? Ist er nicht zu alt für ein so anspruchsvolles Amt? Gut drei Wochen nach dem verheerenden Auftritt warf Biden das Handtuch.

Fragen zu Alter und Fitness stellen sich auch bei Ärztinnen und Ärzten, die über das Pensionsalter hinaus arbeiten. Auch sie haben einen verantwortungsvollen Beruf. Machen sie Fehler, kann das für den Patienten oder die Patientin fatale Folgen haben.

Andererseits herrscht in vielen Regionen akuter Ärztemangel. Besonders gravierend ist es in der Grundversorgung und der Kindermedizin. Hier ist man froh, wenn die wenigen verbleibenden Doktoren nicht mit 65 Jahren das Stethoskop an den Nagel hängen. Länger arbeiten ist also erwünscht.

Diesem Ruf folgen viele Ärztinnen und Ärzte. So hat die Zahl der älteren praktizierenden Mediziner in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Gemäss der neusten FMH-Statistik war 2023 jeder Vierte der etwas mehr als 41 000 Ärzte 60 Jahre alt oder älter. 897 hatten bereits den 75. Geburtstag hinter sich, 294 den 80.

An der Uni pensioniert, in der Praxis weiterhin tätig

Einer dieser beruflich aktiven Senioren ist der Reisemediziner Robert Steffen. Der 83-jährige Professor leitete an der Universität Zürich die Abteilung für Epidemiologie und Prävention übertragbarer Krankheiten und das WHO Collaborating Centre for Traveller’s Health.

Parallel zur Uni-Karriere arbeitete Steffen immer auch Teilzeit in einer Privatpraxis. Diese Tätigkeit hat er nach der Emeritierung beibehalten. Heute praktiziere er aber nur noch «auf kleinem Feuer», erzählt er im Gespräch. Konkret ist er an vier halben Tagen in der Woche in der Praxis anzutreffen. Neben seinem fachlichen Schwerpunkt Reisemedizin sei er «in beschränktem Mass» auch als Hausarzt tätig und befugt, die bei Piloten vorgeschriebenen Untersuchungen durchzuführen.

Warum er in seinem Alter überhaupt noch arbeite? «Ich empfinde es als Gnade, weiterhin ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein», sagt Steffen. Zudem mache ihm die Arbeit grossen Spass: «Medizin ist für mich auch ein Hobby.»

Die Frage nach dem Alter sei aber berechtigt, sagt Steffen. Auch er spüre die zurückliegenden Lebensjahre. So ermüde er heute rascher als früher. «Und stundenlanges Stehen behagt meinem Rücken gar nicht.» Er würde sich auch nichts Chirurgisches mehr zutrauen, sagt der Arzt. Denn dafür sei seine Hand nicht mehr ruhig genug.

Einige Fähigkeiten verbessern sich im Alter

Dass der Körper sich mit zunehmendem Alter verändert, ist eine biologische Tatsache. Bei vielen Funktionen ist schon mit etwa 25 Jahren der Höhepunkt erreicht. So ist der derzeit schnellste Mensch, der Amerikaner Noah Lyles, 27 Jahre alt. Danach geht aber nicht alles gleich den Bach runter. Gesunde und aktive Menschen können ihre Leistungsfähigkeit in vielen Bereichen über Jahrzehnte auf hohem Niveau halten und teilweise sogar noch steigern – bis es dann infolge von Krankheit oder sehr hohem Alter zur Verschlechterung kommt.

Auch das Gehirn und die geistigen Fähigkeiten sind dem Alterungsprozess unterworfen. Man unterscheidet dabei zwei Arten von kognitiver Leistung, die als fluide und kristalline Intelligenz bezeichnet werden. Die fluide Intelligenz betrifft grundlegende Prozesse des Denkens, der Aufmerksamkeit und des Kurzzeitgedächtnisses. Sie ist genetisch festgelegt und weitgehend unabhängig von Lernen und Erfahrung. Diese Art der Intelligenz nimmt schon früh im Erwachsenenalter ab.

Ganz anders die kristalline Intelligenz, die bis ins hohe Alter erhalten bleiben kann. Sie wird durch Üben und Erfahrung gesteigert und steht mit dem Langzeitgedächtnis in Verbindung.

Was bedeutet dieser kognitive Dualismus für ältere Ärztinnen und Ärzte? Dass einige ihrer Fähigkeiten wie die Schnelligkeit der Bewegungen und der Informationsverarbeitung natürlicherweise abnehmen, während andere stärker werden können. Dazu zählen etwa Sozialkompetenz, Zuverlässigkeit oder Verantwortungsgefühl.

Diese Fähigkeiten machen ältere Ärzte in den Augen vieler Menschen besonders vertrauenswürdig. Einen solchen «Altersbonus» stellt auch der Zürcher Arzt Steffen fest. «Ich bin immer wieder erstaunt, wie auch jüngere Patienten Vertrauen zu mir haben», sagt er. Zudem ist Steffen mit über 80 Jahren angefragt worden, die medizinische Leitung des Covid-19-Impfzentrums in Meilen zu übernehmen, und war bis Ende 2023 als Berater für das Bundesamt für Gesundheit tätigt.

Steffen ist aber realistisch. Um seine altersbedingten Einschränkungen zu kompensieren, arbeite er heute noch vorsichtiger als früher, sagt er. So lasse er zum Beispiel die Termine aller Patientinnen und Patienten, die er am Tag gesehen habe, später nochmals im Gedächtnis Revue passieren. «Dabei frage ich mich, habe ich an alles gedacht?» Beim leisesten Zweifel rufe er die Person an, so erklärt Steffen seinen persönlichen Kontrollmechanismus.

Ein brillanter Chirurg als Negativbeispiel

Nicht alle Ärzte sind so. Es gibt auch solche, die sich überschätzen und uneinsichtig sind, wenn ihre Leistungsfähigkeit im Alter nachlässt. Ein schillerndes Beispiel ist der deutsche Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Laut mehreren Quellen soll der brillante Mediziner, der unter anderem eine Unterdruckkammer für die operative Öffnung des Brustkorbs entwickelte, am Ende seiner Karriere trotz fortschreitender Demenz weiter operiert haben.

«Sauerbruch hat damals für viele Kollegen erkennbare Fehler gemacht», sagt der Chirurgieprofessor Markus Furrer vom Kantonsspital Chur. «Doch niemand stoppte den berühmten Arzt.» Dadurch sei nachweislich ein Kind gestorben.

Um solche Fälle zu verhindern, hat die Schweizerische Gesellschaft für Chirurgie (SGC) diesen Februar ein Programm zur Evaluation der chirurgischen Fähigkeiten von älteren Operateuren vorgestellt. Laut SGC sind rund zehn Prozent der aktiven Chirurginnen und Chirurgen über 65 Jahre alt, rund fünf Prozent über 70. Furrer selbst ist 65 Jahre alt. Er hat seine Funktion als Chefarzt abgegeben, ist aber weiterhin als Berater für das Spital tätig.

Mit dem in einem Pilotprojekt evaluierten Chirurgen-Assessment wolle man überprüfen, ob die operierende Person ihre Eingriffe noch gut und sicher bewältigen könne, sagt Furrer, einer der Initianten des Programms. Dieses besteht aus drei Phasen. Im Vorgespräch sprechen anerkannte Chirurgie-Experten mit dem älteren Kollegen über seine ärztliche Tätigkeit und darüber, was er noch operiert und wo er Schwierigkeiten verspürt. Im zweiten Teil beobachten die Experten eine typische Operation des Kandidaten und sprechen mit dem beteiligten Personal über dessen Erfahrungen und Eindrücke – insbesondere darüber, ob sie beim Kandidaten in letzter Zeit Veränderungen festgestellt hätten.

Alle diese Informationen kommen im Abschlussgespräch auf den Tisch. Die Experten geben dann ihre Empfehlung ab. «Zum Beispiel, dass der ältere Kollege besser nur noch einfachere Operationen durchführen oder sich nichtoperativen Tätigkeiten zuwenden sollte», erklärt Furrer. Bei Verdacht auf eine Demenz müsse der Experte dem Kandidaten raten, seine kognitive Leistungsfähigkeit abklären zu lassen.

Um eine Altersdiskriminierung zu verhindern, schlägt die SGC ihren Mitgliedern vor, die chirurgischen Fähigkeiten schon ab 55 Jahren überprüfen zu lassen. Danach werde das freiwillige Assessment idealerweise alle fünf Jahre wiederholt.

Ein Bewusstsein für das Thema schaffen

Was aber passiert, wenn ein Chirurg trotz schlechtem Assessment weiter operieren will? «Das Expertenteam ist nicht zahnlos», sagt Furrer. «Bei gravierenden Mängeln haben wir trotz fehlender Meldepflicht ein Melderecht und würden dem Kollegen sagen, dass bei Uneinsichtigkeit die festgestellten Probleme den Gesundheitsbehörden gemeldet werden müssten.» Vorher würde er den Kollegen aber fragen: «Willst du wirklich am Ende deiner Karriere noch einen Haftpflichtfall riskieren?» Eine solche Frage fahre den meisten ein und beschleunige die Selbstreflexion.

Das wichtigste Ziel des Assessments ist laut Furrer, dass alle Chirurginnen und Chirurgen über das eigene Alter und die damit verbundenen Veränderungen im Berufsalltag nachzudenken beginnen. «Denn dass man bei diesem Thema etwas machen muss, ist den meisten klar.» Wie das geschehen soll, wolle man in der Chirurgie gerne selber regeln, sagt Furrer. Nicht dass die Politik plötzlich eine Alterslimite für Ärzte vorschreibt.

Genau das hatte Margrit Kessler, die frühere Präsidentin der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO), 2015 in einer Anfrage an den Bundesrat angeregt. Doch sie scheiterte. Ihrem Vorstoss vorausgegangen waren Berichte über schwere Fehlleistungen eines 78-jährigen Schönheitschirurgen im Kanton Zürich.

Kämpft die SPO immer noch für eine «Altersguillotine» für Ärzte? «Wir verfolgen heute eine andere Strategie», sagt die Geschäftsführerin Susanne Gedamke. «Wir versuchen, mit den Spitälern und den Leistungserbringern einen Dialog zu führen, um ein gutes Qualitätsmanagement zu erreichen.»

Gedamke begrüsst die Initiative der Schweizer Chirurgen. Sie fragt sich aber, ob die Fachgesellschaften das selber regeln können. «Reicht ein freiwilliges Assessment?» Noch zu oft seien die Koryphäen in einem Fachgebiet praktisch unantastbar, sagt sie. «Ich tendiere daher zu einer verpflichtenden Qualitätskontrolle für alle.»

Laut Gedamke stehen die alten Ärzte derzeit nicht im Fokus der SPO: «Wir sehen bei unseren Abklärungen bei möglichen Sorgfaltspflichtverletzungen nicht gehäuft Fälle mit älteren Medizinern», sagt sie.

Das deckt sich mit der Aussage der Zürcher Gesundheitsdirektion. Auf Anfrage schreibt sie, dass sie bei älteren Ärztinnen und Ärzten über 70 nur selten die Berufsausübungsbewilligung entziehen müsse. In den letzten fünf Jahren habe man im Kanton Zürich dreimal interveniert. In der Regel greife man ein, wenn eine «mangelnde physische oder psychische Gewähr für eine einwandfreie Berufsausübung infolge einer Erkrankung wie Demenz oder Parkinson vorliege».

Um die Praxisbewilligung zu behalten, müssen ältere Ärzte deshalb in vielen Kantonen wie in Zürich ab 70 Jahren nachweisen, dass sie noch genügend fit sind und regelmässig Fortbildungen besuchen und Notfalldienst leisten.

Denn grundsätzlich hängt die Erlaubnis zur Ausübung des Arztberufs von der Eignung und der Gesundheit ab – und nicht vom Alter. Ist ein Arzt aus irgendwelchen Gründen nicht mehr in der Lage, seinen Beruf korrekt auszuüben, kann ihm die kantonale Gesundheitsbehörde die Praxisbewilligung entziehen.

Aufhören mit 70, 80 oder 90?

Dass ein solcher Bewilligungsentzug bei älteren Ärztinnen und Ärzten selten vorkommt, könnte ein Indiz dafür sein, dass die meisten Mediziner vernünftig sind und selber wissen, wann genug ist. Aber wann ist genug? «Mit 90 sollten sie ganz sicher nicht mehr praktizieren», sagt die SPO-Geschäftsführerin Gedamke. Schon mit 80 könne es problematisch werden. Denn in diesem Alter würden die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten bei vielen Menschen nachlassen.

«Irgendwo ab 70 gibt es für operative Tätigkeiten eine Grenze», sagt der Chirurg Furrer. Auch er schert nicht alle Jobs und Fachgebiete über den gleichen Kamm. «Eine Position an vorderster Front in einem Spital mit langen Nachtdiensten ist nicht zu vergleichen mit einer beratenden Tätigkeit in der Praxis.» Zudem sei es in der Chirurgie meist offensichtlich, wenn ein Arzt nicht mehr so gute Leistung erbringe, sagt Furrer. «Offensichtlicher als vielleicht bei einem Hausarzt, der fachlich nicht mehr à jour ist.»

«Die ärztliche Leistungsfähigkeit ist so individuell, dass ich keine starre Grenze setzen würde», sagt der 83-jährige Reisemediziner Steffen. Studien zeigen zudem, dass sich die körperlichen und geistigen Fähigkeiten von Seniorinnen und Senioren in den letzten Jahrzehnten verbessert haben.

Hat sich Steffen selber eine Grenze gesetzt? «Mit 90 werde ich wahrscheinlich nicht mehr praktizieren», sagt er. Andere entscheiden sich anders. So gab es im vergangenen Jahr in der Schweiz 26 über 90-jährige Ärzte und 2 über 90-jährige Ärztinnen mit Berufsausübungsbewilligung. Präsident Biden ist also nicht der Einzige, der Mühe bekundet, aus dem aktiven Berufsleben auszusteigen.

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