Dienstag, Oktober 8

Im September wird im deutschen Osten gewählt. In Thüringen dominiert die rechte Alternative für Deutschland Wahlkampf und Umfragen. Das hat sie auch ihrem Spitzenmann Höcke zu verdanken. Eine Momentaufnahme.

Unterwegs mit Björn Höcke im ostdeutschen Thüringen: In wenigen Tagen könnte dieses kleine Bundesland mit seinen gut zwei Millionen Einwohnern zum Epizentrum eines politischen Bebens werden, das Deutschland erschüttert. Die putinfreundlichen Anti-Establishment-Parteien Alternative für Deutschland (AfD), Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und Die Linke kommen nach Umfragen gemeinsam auf 65 Prozent, zwei Drittel der Stimmen.

Die deutsche Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP erreicht zusammen nur 12 Prozent. Noch amtiert in Erfurt der Linke-Ministerpräsident Bodo Ramelow mit einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung. Doch deren Ende scheint sicher.

Vor Ort sieht es nach krasser Wechselstimmung aus – aber eigenartig undramatisch. Man tut beispielsweise dem Städtchen Hildburghausen wohl kein Unrecht, wenn man sagt, dass hier schon am späten Freitagnachmittag die Bürgersteige hochgeklappt werden. Die Buchhandlung am Markt hat bereits geschlossen. Das Eiscafé macht noch ein bisschen Umsatz. Wenige Gäste sitzen vor dem Asia-Restaurant. Über dem Platz liegt tiefer sommerlicher Frieden. Normalerweise würde der einzige vernünftige Weg an einem solchen Augusttag ins Freibad führen. Oder zum Grillen in den heimischen Garten.

Wahlkampfstände anderer Parteien sucht man vergeblich

Doch an diesem Wochenende ist in der Kreisstadt etwas los. Die Alternative für Deutschland hat zum «Familienfest» eingeladen, so heisst das populäre Kundgebungsformat der AfD im Thüringer Landtagswahlkampf. Als träte hier die nette SPD von früher auf, gibt es nahezu jeden Tag irgendwo im Land Musik, Bratwurst, Bier, Softgetränke und Luftballons für die Kinder – von Saalfeld bis Bad Salzungen, von Sömmerda bis Hildburghausen.

400, 500, 600 Zuhörer kommen zu diesen Veranstaltungen. Sie sind gutgelaunt, die Sonne scheint, und die Rechtspartei, mit der sie sympathisieren, liegt in Umfragen bei 30 Prozent. Am 1. September wird gewählt, hier in Thüringen, aber auch im Nachbarland Sachsen, drei Wochen danach in Brandenburg. Überall im Osten ist die AfD stärkste Partei oder konkurriert jedenfalls um Platz eins.

Gegendemonstrationen sind meist klein, wenn sie überhaupt stattfinden. Wahlkampfstände anderer Parteien sucht man im ländlichen Thüringen oft vergeblich.

Die Ansprachen, die bei diesen Anlässen von AfD-Landtagskandidaten, von Kreisverbandsfunktionären und Vertretern der Jugendorganisation Junge Alternative gehalten werden, schwanken in ihrer rhetorischen Qualität, werden aber vom Publikum tapfer ertragen. Die meisten warten ohnehin nur auf einen, den Star des Nachmittags: auf den 52-jährigen Björn Höcke, Spitzenkandidat, Landes- und Fraktionsvorsitzender der AfD Thüringen.

Gefährlich oder überschätzt?

Höcke, den die NZZ vor einigen Jahren als «den wohl meistgehassten Politiker Deutschlands» beschrieben hat, den andere Zeitungen in eine Reihe mit Adolf Hitler stellen und der vom Verfassungsschutz beobachtet wird, ist eine wichtige, aber schwer zu fassende Figur innerhalb der AfD. Einerseits ist er ein Zugpferd und Aushängeschild über seinen Landesverband, den er mitgegründet hat, hinaus; andererseits ein Störenfried mit extremen Ansichten, den die Bundespartei 2017 auszuschliessen versuchte. Manche Parteifreunde nennen ihn «gefährlich». Andere halten ihn für überschätzt.

Jedenfalls hat er sie alle politisch überlebt, die früheren Parteivorsitzenden Konrad Adam und Bernd Lucke, Frauke Petry, Jörg Meuthen und Alexander Gauland. Die aktuellen Bundessprecher Tino Chrupalla und insbesondere Alice Weidel, die gern AfD-Kanzlerkandidatin werden möchte, haben vorerst offenbar ihren Frieden mit dem unheimlichen Rechtsaussen-Flügel-Mann gemacht.

Der Thüringer FDP-Vorsitzende Thomas Kemmerich, der 2020 für vier turbulente Wochen schon einmal mit Höckes Hilfe (und CDU-Stimmen) Ministerpräsident des Freistaats sein durfte, sagt heute gegenüber der NZZ: «Ich mag die AfD auch nicht und lehne eine Zusammenarbeit ab, aber sie ist demokratisch gewählt, und insofern müssen wir parlamentarisch damit umgehen.» Bei Höcke selbst sieht Kemmerich «inhaltliche Lücken», er werde «zu wenig in öffentlichen Debatten gestellt».

«Das Thüringer Volk steht vor mir!»

Persönlich ist Björn Höcke einerseits ein zurückhaltender Mann, der seine Bescheidenheit vielleicht nur etwas zu ostentativ betont – andererseits ist er ein Parteifunktionär, der seine politische Linie kompromisslos durchsetzt und seinerseits nicht zögert, Gegner aus der Partei werfen zu lassen. Einerseits ist er ein umgänglicher Bildungsbürger, vierfacher Vater und naturverliebter Langstreckenläufer – andererseits ein rechter Scharfmacher. Einerseits wird Björn Höcke gelegentlich absichtsvoll missverstanden, andererseits sagt er auch häufig Missverständliches.

Ziemlich pünktlich um 17 Uhr steigt der Hauptredner auf die Wahlkampfbühne des jeweiligen «Familienfests», in Jeans und weissem Hemd – sein Outfit ist zu einer Art Uniformvorbild für die überwiegend männlichen Kandidaten der Partei geworden. Unter dem Hemd trägt Höcke eine Schutzweste; auf dem Weg zu seinen Auftrittsorten muss er den Wagen wechseln. Die Polizei stufe ihn als anschlagsgefährdet ein, berichtet er.

Der AfD-Spitzenmann wird mit «Höcke, Höcke»-Rufen begrüsst. Er spricht immer frei, in Bad Salzungen klingt er mitunter wie ein CSU-Politiker aus der Franz-Josef-Strauss-Zeit, am nächsten Tag in Hildburghausen deutlich extremer.

Obwohl die Wärme lähmend wirken könnte, ist Höcke dort auf Krawall gebürstet. Aber bevor er gegen Regierung und Medien in die Vollen geht, lobt er erst einmal das Publikum: Im Gegensatz zum Landtagswahlkampf 2019 seien diesmal neben den Älteren auch viele «Arbeitstätige» gekommen, also Menschen, die normalerweise gar keine Zeit hätten, sich um Politik zu kümmern. «Und ich sehe viele Frauen!», ruft Höcke: «Und viele junge Leute! Das Thüringer Volk steht vor mir!»

Selfies mit dem Kandidaten

Das «Volk» spendet Applaus – ganz besonders, so will es scheinen, klatschen die Frauen und die Jugendlichen. Sie stehen später auch ganz vorn in der Schlange, als es Autogramme und Selfies mit dem Kandidaten gibt.

Deutschlands Gesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD gehöre wegen seiner Corona-Politik in Handschellen abgeführt, ruft Höcke. Das «Altparteiengeseiere» habe er satt. Vom Flughafen Erfurt aus werde es für Maschinen mit Migranten an Bord nur noch Start- und keine Landeerlaubnisse mehr geben. Die «Abteilung Thüringen» des «Weltsozialamts Deutschland» werde geschlossen, sobald er Ministerpräsident sei, ruft Höcke: «Ende der Durchsage!»

Der Spitzenkandidat warnt vor angeblichen Plänen, die deutsche Bevölkerung durch «replacement migration» zu verdrängen – das deutsche Wort «Bevölkerungsaustausch» dürfe man ja nicht mehr verwenden, ohne vor Gericht gezerrt zu werden. Er selbst hat gerade zwei Urteile wegen der Verwendung der NS-Parole «Alles für Deutschland» kassiert. Doch von «replacement migration» sprächen sogar die Vereinten Nationen und die Europäische Union, sagt Höcke: Und dieses «replacement» werde natürlich zu gesellschaftlichem Widerstand führen – auf den die deutschen «Systemparteien» nur mit autoritären staatlichen Massnahmen reagieren könnten. Ein Bürgerkrieg sei also geradezu programmiert.

Es sei denn, natürlich, man wählt rechtzeitig AfD: «Also kämpft um diese letzte Chance, die die Demokratie noch hat!», ruft Höcke.

Überall sieht Höcke «Hintermänner»

Es sind auch solche Verschwörungstheorien, die ihn immer wieder als so fanatisch erscheinen lassen. Überall sieht er «Hintermänner» mit irgendwelchen Absichten: hinter der amerikanischen Regierung; hinter dem «Multikulturalismus als Programm gegen die autochthonen Völker»; hinter der «bewusst geförderten muslimischen Masseneinwanderung».

Wenn man Höcke fragt, wer diese «Hintermänner» seien und ob das alles nicht doch arg nach dem bekannten antisemitischen Klischee von der jüdischen Weltverschwörung töne, murmelt er etwas von mächtigen amerikanischen Think-Tanks und der extrem starken Vernetzung der «transatlantischen Führungskader der Christlichdemokraten». Ein Dementi klingt anders.

Manchmal verwendet er Begriffe anders, als sie gemeint sind, so zum Beispiel bei seiner Hildburghausener Rede: Den Begriff «replacement migration» haben Bevölkerungswissenschafter tatsächlich jahrzehntelang technokratisch verwendet, um die Notwendigkeit der Arbeitskräftezuwanderung in alternde Gesellschaften zu beschreiben. Man konnte durchaus kritisieren, dass mögliche kulturelle Begleitkonflikte dabei ausgeblendet wurden – nie aber war der «Ersatz» der Deutschen durch Migranten gemeint.

Drei Stunden und etliche Autobahnkilometer, Berge, Wälder und Tunnel früher, in seinem Fraktionsvorsitzenden-Eckbüro im Erfurter Landtag, wirkt Björn Höcke bei einem Gespräch noch viel friedlicher.

Die «Polarität» von Männern und Frauen

Er erzählt von seinen Kindern, die unter der politischen Prominenz des Vaters, unter brutaler Kritik in den Medien und unter «antifaschistischen» Aktionen in Höckes Wohnort Bornhagen durchaus zu leiden hätten. «Das gibt schon manchmal Tränen», sagt er. Trotzdem sei das Klima in der Familie harmonisch.

Auf Nachfrage sagt Höcke, er habe seine Frau, mit der er seit 20 Jahren verheiratet ist, als eher unpolitischen Menschen kennengelernt – aber bei seiner Arbeit für die AfD unterstütze sie ihn voll und ganz. Sie ergänzten sich gut, ihre Beziehung sei «komplementär». Auch über seine persönliche Erfahrung hinaus sieht Höcke das Wesen von Männern und Frauen als «Polarität»: Dem Mann ordnet er in seinem Interview-Buch «Nie zweimal in denselben Fluss» aus dem Jahr 2018 «Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung» als typische Eigenschaften zu, der Frau «Intuition, Sanftmut und Hingabe».

Mit den Medien habe er viele ernüchternde Erfahrungen gemacht, sagt Höcke: Er werde falsch zitiert, «entlarvt», dämonisiert. «Ich empfinde es als ungerecht, wie ich regelmässig zum Teufel der Nation stilisiert werde», sagt der vormalige hessische Geschichtslehrer: «Viele Ihrer Kollegen stellen gar keine normalen Fragen mehr, sie suchen nur eine Bestätigung für das, was sie sowieso schon zu wissen glauben.»

Selbstgleichschaltung der Journalisten?

Er sehe jegliches journalistische Ethos im Schwinden begriffen, sagt Höcke: «Dabei müssten Journalisten eigentlich einen ähnlichen Anspruch haben wie Historiker – und zumindest versuchen, ihr Gegenüber zu verstehen.» Doch dieses Gefühl habe er kaum noch, nicht einmal bei früher konservativen Blättern wie der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»: «Über die AfD berichten praktisch alle extrem einseitig. Wir werden als ‹rechtsextrem› diffamiert, dann braucht man sich mit unseren Argumenten nicht mehr auseinanderzusetzen.»

Bei Themen wie der Migrationspolitik, den Corona-Massnahmen oder dem Ukraine-Krieg wirke die Berichterstattung in Deutschland auf ihn so, als wollten die Journalisten sich selbst gleichschalten, sich um jeden Preis auf Regierungslinie bringen, sagt Höcke: «Dabei würde ich doch von einer kritischen Presse gerade erwarten, dass sie auch die Opposition zu Wort kommen lässt.»

Der «Kampf gegen rechts», den ein Grossteil der Medien, der «Kartellparteien» und der «steuerfinanzierten Zivilgesellschaft» sich auf die Fahne geschrieben habe, schade der AfD allerdings nicht, sagt Höcke, sondern verschaffe ihr eher Zulauf: «Doch diese überdrehte Diskussion lenkt in unverantwortlicher Weise vom Zustand des Landes ab.» Der ist laut Höcke in vielerlei Hinsicht prekär: wegen der unkontrollierten Einwanderung. Wegen des überlasteten Bildungs- und Gesundheitswesens. Wegen einer aus AfD-Sicht verfehlten Energie- und Wirtschaftspolitik.

«Tanzen für Demokratie und Weltoffenheit»

Und was ist die «steuerfinanzierte Zivilgesellschaft»? Das seien zum Beispiel die Vereine und Initiativen, die aus dem 200-Millionen-Euro-Bundesprogramm «Demokratie leben!» bezahlt würden, sagt Höcke, und die ganz überwiegend «gegen rechts» kämpften.

Die Lokalzeitung kündigt für das Wochenende eine Veranstaltung «Tanzen für Demokratie und Weltoffenheit» in Weimar an.

Was müsste die politische Gegenseite denn tun, um der AfD tatsächlich zu schaden, wenn der gegenwärtige «Kampf gegen rechts» ihr die Anhänger in die Arme treibt? Höcke zögert – und grinst dann zum ersten Mal in diesem Gespräch: «Sie müssten die Interessen Deutschlands an die oberste Stelle setzen.»

Doch die Gefahr bestehe nicht. Die Alternative sei auf dem Vormarsch. Gefühlt stehe die AfD in Thüringen bei mehr als den 30 Prozent aus den Umfragen, sagt Höcke: «Und wenn kleinere Parteien wie FDP und Grüne den Einzug in den Landtag verpassen sollten, dann könnten uns schon 41 Prozent der Stimmen zur absoluten Mehrheit reichen». Nur so ein Gedankenspiel – wie Tolerierungsmodelle oder Expertenregierungen. Sahra Wagenknecht und ihre Thüringer BSW-Statthalterin Katja Wolf können sich jedenfalls vorstellen, sinnvollen AfD-Anträgen im Parlament zuzustimmen.

Auch später in Hildburghausen macht Höcke klar, dass es nach zehn Jahren in der Opposition nun ums Regieren gehe: «Natürlich wollen wir Verantwortung übernehmen», ruft er dort: «Wir sind fähig und fit! Wir werden stärkste Kraft! Und wir machen aus Thüringen wieder einen richtigen Freistaat!»

Dem «Familienfest»-Publikum gefällt das. Sie klatschen. Höckes antipluralistische, geschichtsrevisionistische und verschwörungstheoretische Positionen stören sie nicht. Im Gegenteil.

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