Mittwoch, Oktober 9

Michel Canonica / TBM

Zu Besuch beim Schweizer Nationalzirkus.

Vor dem Zirkuszelt mischt sich der derbe Geruch von Heu mit dem süsslichen Duft von Popcorn. Ein passender Vorbote für einen Abend voller Glitzer und Konfetti, voller Arm- und Bauchmuskeln, die der Schwerkraft trotzen. Ein Abend irgendwo zwischen High-School-Musical, Variété und Schweizer Chilbi.

Der Zirkus Knie hat für seine 105. Saison geladen. Er tourt durch die Schweiz, macht halt an 23 Orten. Erst Zürich, dann Basel, und im Spätsommer die Südwestschweiz. Es ist das zweite Jahr nach dem schweren Corona-Jahr 2022, der schlechtesten Spielzeit der Unternehmensgeschichte.

An diesem Abend Anfang Juni ist das Zelt fast ausverkauft, das Publikum gemischt, Tendenz sechzig plus. Ein paar wenige Jacketts, einige Lederjacken, vereinzelt Kinderschuhe.

Schon im quietschroten Eingangsbereich war spürbar: Hier beginnt eine andere Welt. Kinder tragen riesige Lollis vor sich her, ihre Zuckeraugen sind hypnotisiert. Es gibt Popcorn, Eiscrème, Gummibärchen, gebrannte Mandeln und Prosecco für die Erwachsenen. Mitten auf den scheppernden Metallstufen, die in die Manege hinabführen, bleibt eine Frau stehen, probiert von ihrer Zuckerwatte und verzieht das Gesicht.

Zu süss, das Ganze?

Diese Frage stellt man sich an diesem Abend immer wieder. Im Zelt werden die Zuschauer von dampfigem rot-blauem Licht empfangen, sie reiben sich die Augen. Als jeder seinen Platz gefunden hat, sagt eine Stimme aus dem Off: «Lassen Sie sich verzaubern!» Und plötzlich wird das Getuschel und Geraschel von einem deftigen Bass verschluckt. Es «wummst».

Eine Truppe Tänzer – bauchfrei, in Röckchen und Turnschuhen – zieht ein und verkündet «The Power of Love», die Kraft der Liebe. Sie schmeissen die Beine Musical-mässig in die Höhe und singen mit gespitzten roten Lippen: «Set yourself free in the Circus Knie.»

«Hazawazawazahaza»

Die Familie Knie tischt ordentlich auf. Seit der Zirkus 2015 die letzten Wildtiere aus dem Repertoire genommen hat, müssen die Artisten die Show allein stemmen. Aber dieses Jahr scheint man nicht allein auf das Ensemble zu vertrauen, sondern fährt üppig Technik auf. Um die Showeinlagen hat der Zirkus ein Multimedia-Universum arrangiert. Neben Lichtshow und feuerspeiender Bühne gibt es eine durchsichtige Leinwand, auf die Feuerwerke, Vögel, Federn und Stadtlandschaften projiziert werden. Es dampft, dröhnt, flirrt. Géraldine Knie, die den Zirkus in siebter Generation leitet, sagt: «Man muss mit der Zeit gehen.»

Dabei zeigen die Artisten, dass sie bestens ohne Schnickschnack auskämen. Den meisten reicht Stange, Seil oder eine Handvoll Kugeln, damit tiefes Raunen und Staunen durch das Zelt zieht. Im blauen Glitzerbody tänzelt Victor Moiseev, Meister der horizontalen Jonglage, in die Manege. Erst eine, dann zwei, dann drei und plötzlich neun (oder waren es zwölf?) rot leuchtende Kugeln fliegen wie kleine Feuerbälle durch die Luft. Mit schier übermenschlichem Geschick lässt der Jongleur sie durch die Manege fliegen.

Der grösste Meister der Sparsamkeit ist Great Coperlin, Clown und Magier aus Las Vegas. Er verzichtet auf Technik und setzt voll auf Show. Seine Kunst besteht darin, die eigenen Tricks mit unbestechlichem Charme zu demontieren.

Coperlin hält ein rotes Tuch in die Höhe, dann ein schwarzes. Beide steckt er in einen Samtbeutel. Während er magisch die Hände über dem Beutel kreisen lässt, sagt er «Hazawazawazahaza» und stellt erfreut fest: Es hat funktioniert! Das rote Tuch ist schwarz geworden, das schwarze rot. Oder so ähnlich. Das Publikum ist quietschvergnügt. «It’s all about the show», sagt Coperlin munter, greift in die Hosentasche und lässt eine Handvoll Konfetti in die Luft fliegen.

Dem Publikum gefällt das bestens. Es klatscht im Takt, feuert an, singt mit. Ein Abend zwischen Traumreise und Volksfest.

Der Zirkus Knie will mit der Zeit gehen, fährt einen technischen Clou nach dem anderen auf. Aber eigentlich ist das Publikum gar nicht so anspruchsvoll. Es freut sich über ein Tuch, das (vermeintlich) die Farbe wechselt.

Schenkelklopfer mit Schweiz-Färbung

Es ist Pause, drei Damen sitzen bei Weisswein im Vorzelt. «Absolut super», so ihre Einschätzung der ersten Hälfte. Aber wie die Suva diese halsbrecherischen Darbietungen erlauben kann, sei ihnen nicht klar. Gekicher.

Dann läuten Peter Pfändler und Carlos Amstutz die zweite Hälfte ein. Die beiden Moderatoren sind für die Erwachsenen-Schenkelklopfer mit Schweiz-Färbung zuständig und grasen alle erdenklichen Witze über das Eidgenössische ab. Über den Kleinkrieg zwischen Städten und Regionen («Verstehen Sie den Basler ohne Untertitel?»), die SBB, den Böögg, den Schwingerverein.

Ein Teenager scheint sich nicht ganz sicher zu sein, ob der das Ganze lustig oder blöd finden soll. Er ist mit seiner Mutter gekommen, die Prosecco aus einem Plastikglas trinkt. Wenn das Publikum wieder zum rhythmischen Mitklatschen ansetzt, lehnt er sich entweder mit verschränkten Armen zurück oder klatscht so übertrieben, dass seine Mutter entgeistert die Augen verdreht.

In Sachen Publikum macht der Zirkus einen Spagat. Einerseits will man Kinder, andererseits Eltern bespassen. Wahrscheinlich fallen da Teenager einfach aus dem Raster. Dabei ist das grosse Technikaufgebot wohl ein Versuch, die Jugendlichen abzuholen, von denen man annimmt, dass sie sich ohne Wumms und Spezialeffekte gar nicht mehr beeindrucken lassen.

Die Welt ist voller Vergnügen

Und weil der Zirkus eine Geschichte von Dynastien ist, muss auch der Familie Knie die höchste Ehre erwiesen werden. Höhepunkt ist die Pferdeshow der Knie-Kinder. Trotz dem technischen Tamtam ist etwas so geblieben, wie es immer war: Die Familie Knie feiert sich selbst.

Ivan, 22 Jahre, reitet wie ein Prinz mit zurückgegeltem schwarzem Haar und Glitzerjäckchen in die Manege. Zwar machen die weissen Pferde an diesem Abend nicht ganz das, was Ivan von ihnen verlangt, aber das ist vor allem sympathisch. Manchmal stehen sie stur herum oder beschnuppern das Publikum. Auch sie dürfen einmal machen, was sie wollen. Später wird der sechs Jahre alte Maycolino Zwergponys über Attrappen springen lassen, deren zerzauste Mähnen im Galoppwind flattern. Und seine Schwester Chanel, 13, lässt ein paar Pferde rückwärts laufen.

Am Ende der Show stehen die Knie-Nachfahren auf einer Hebebühne und werden zu herzzerreissender Geigenmusik in die Höhe gefahren. Ein Springbrunnen schiesst Wasser in die Luft, zu den Füssen der Kinder tanzt das gesamte Ensemble. Der Zirkus ist der Ort, an dem masslos übertrieben werden darf. Aber das ist dann doch etwas dick aufgetragen.

Die Effekte überschlagen sich, so laut, so bunt, so zuckersüss. Manchmal entfaltet diese Welt aus Kitsch, Wundern und Absurditäten eine gewaltige Kraft. Liebe, Konfetti, Kunst: Die Welt ist voller Abenteuer und Vergnügen – vergesst das nicht, scheint der Zirkus Knie sagen zu wollen. Dann wieder fühlt es sich an, als würden einem Knallfrösche ins Hirn verpflanzt.

Das Publikum aber tobt. Es gibt Standing Ovation. Vielleicht ist das die Logik der Zirkus-Läuterung: Reizüberflutung als Methode. Nach der Vorstellung sagt eine junge Frau zu ihrer Familie: «Das war soooooooo kitschig», und biegt sich vor Lachen. Aber: Sie lacht.

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