Mittwoch, Oktober 9

Butler, Foucault, Rorty oder Habermas brauchen Nachfolger. Die jüngeren Generationen haben bisher keine hervorgebracht. Woran liegt das?

Seit der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey ihnen an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert einen gemeinsamen Namen gab, haben die als Geisteswissenschaften bekannten akademischen Disziplinen einen Diskurs von der eigenen Krise kultiviert. Diese erstaunliche Bewegung mag sich zunächst aus dem scharfen Kontrast gegenüber den Naturwissenschaften ergeben haben.

Während die Erforschung der Natur solch grenzenloses Ansehen vor allem genoss, weil ihre Ergebnisse der etablierten Industrie wie der entstehenden Technologie neue Ziele und Verfahren der Produktion lieferten, schien die Wirkung der Geisteswissenschaften auf Prozesse individueller Bildung beschränkt. Doch die permanente Selbstverpflichtung, gegen einen Eindruck von Unterlegenheit eigene Leistungspotenziale herauszustellen, wurde für die Geisteswissenschaften langfristig zu einem Erfolgsrezept.

Der Kampf um Anerkennung hat ihnen einen sicheren Status in der Öffentlichkeit eingebracht – und über Jahrzehnte wohl auch eine Beliebtheit bei Studenten.

Ohne den andauernden Kampf um die Anerkennung besonderer Funktionen hätten sie wohl nie diesen öffentlichen Status und ihre lange bestehende Beliebtheit bei Studierenden gewonnen. Mittlerweile ist jedoch eine paradoxale Entwicklung eingetreten, die angesichts handfester Krisensymptome den traditionellen Pessimismus in bequeme Selbstzufriedenheit umgekehrt hat.

Lob auf die absteigenden Disziplinen

Unter lokal je spezifischen Bedingungen sind die Belegzahlen der Geisteswissenschaften international seit 2010 um mehr als vierzig Prozent gesunken, und keine gegenläufige Tendenz ist abzusehen. Verwaltungen wie zuständige Ministerien sehen die Verluste als «strukturell» an und reagieren mit herabgestuften Finanzzuweisungen auf allen Ebenen.

Ausgerechnet in dieser Situation tauchen eigentümlich triumphalistische Töne zum Lob der absteigenden Disziplinen auf. Gemäss einem Bericht des Magazins «The New Yorker» wollen Englischprofessoren entdeckt haben, dass, entgegen den vorherrschenden Erwartungen, College-Studenten, die sich auf Literatur, Philosophie oder Geschichte konzentrieren, langfristig grössere Einkommen erzielen als die Absolventen der sogenannten STEM-Fächer (Science, Technology, Electronics, Mathematics).

Eine entsprechende Verschiebung soll sich auch hinsichtlich der Qualifikationsvoraussetzungen für einflussreiche politische Ämter abzeichnen, und europäische Autoritäten wie der Philosoph Markus Gabriel schlagen kurzerhand ihren Fächern Führungskompetenz bei der Lösung praktisch-politischer Probleme zu.

Die mitreissenden Denker fehlen

Nur wenige Aussenbeobachter trauen im Ernst einem derart gehobenen Selbstgefühl, doch sie schenken den Geisteswissenschaften gerne taktvolles Bedauern, wie es angeschlagenen Helden der Vergangenheit gebührt. Nie zur Rede kommt dabei allerdings der eine ins Auge springende Anlass für abnehmende Studentenzahlen und schwindende Unterstützung, weil ihm offenbar der Verdacht anhängt, sachfremd oder gar populistisch zu sein.

Den Geisteswissenschaften von heute fehlen mitreissende Protagonisten, Denker, deren Vorlesungen Erlebniswert haben, deren Meinungen öffentliche Kontroversen auslösen und deren Bücher zu Bestsellern werden. Gestalten aus ihrer goldenen Epoche wie Hélène Cixous oder Judith Butler, wie Michel Foucault, Richard Rorty oder Jürgen Habermas haben keine Nachfolger in den jüngeren Generationen gefunden – und sich sympathischerweise darüber kaum Gedanken gemacht. Hier aber liegt ein Grund der gegenwärtigen Krise in den Geisteswissenschaften, den niemand im Visier hatte und mit dem ihre angestrengte neue Euphorie nicht zurechtkommt.

Die Zahl herausragender individueller Begabungen im Denken und Schreiben hat keine dramatischen Veränderungen durchlaufen. Also können wir aus historischer Perspektive zu erklären versuchen, unter welchen Voraussetzungen weithin sichtbare Gestalten die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer grossen Zeit der Geisteswissenschaften gemacht haben. Zudem: Warum gelingt es ihren Fächern heute nicht, aus dem Schatten jener Vergangenheit herauszutreten?

Aufbruch der Brüder Grimm

Lange vor Diltheys programmatischen Schriften waren nach 1800 unter dem Eindruck der bürgerlichen Revolutionen erste Lehrstühle für Nationalliteraturen, klassische Philologie oder Kunstgeschichte entstanden. Ihren Inhabern war daran gelegen, die Versprechen der Aufklärung von einer besseren Zukunft im Rückgriff auf kulturelle Traditionen der Vergangenheit zu illustrieren und als motivierenden Horizont der Existenz am Leben zu halten.

Die Brüder Grimm verkörperten diesen Aufbruchsmoment durch die Konvergenz ihrer Arbeit als philologisch ausgebildete Herausgeber volkstümlicher Erzählungen mit dem Engagement für demokratische Formen der Politik in der Gruppe der «Göttinger Sieben», Professoren wie ihnen war es zu verdanken, dass Literatur und ihre Geschichte während des neunzehnten Jahrhunderts fortschreitend die Funktion der Religion als Sinnrahmen europäischer Gesellschaften übernahmen.

An solche Traditionen konnten ihre Kollegen im Zeitalter der Ideologien zwischen den beiden Weltkriegen kaum anschliessen, ohne sich auf problematisch politische Rollen im Spannungsfeld zwischen Kommunismus und Faschismus einzulassen. Erst nach einer Phase der Reaktion mit demonstrativer Nüchternheit und ausschliesslicher Konzentration auf kulturelle Gegenstände der Vergangenheit. Dazu gehören die Methoden der immanenten Interpretation und die Theorien des Strukturalismus.

Nach 1960 setzte eine Epoche unerhörter Produktivität und Resonanz für die Geisteswissenschaften ein, der herausragende Gestalten ihren singulären Glanz gaben. Drei Veränderungen waren eingetreten, welche ihnen auf die Bühne der Öffentlichkeit halfen.

Vor allem hatten der Kollaps des Faschismus und die Distanz gegenüber dem Kommunismus in den westlichen Ländern zusammen mit fortschreitender Säkularisierung auf Kosten der Religion ein Vakuum der Orientierung hinterlassen. Dieses besetzten neben existenzialistischen Intellektuellen nun auch Professoren durch ihre Ideen.

Es gab eine Sehnsucht nach ebenso gut begründeten wie attraktiven Weltentwürfen. Zugleich war die Überzeugung lebendiger als je zuvor, dass verbindliche Wahrheit durch systematisches Denken und einfühlende Interpretationen zu erreichen sei.

Ein Theoriegebäude wie den Neomarxismus von Theodor W. Adorno oder die Textauslegungen einer Autorität der Literaturwissenschaft wie des Zürcher Germanisten Emil Staiger zu kritisieren, hiess damals nicht, grundsätzlich an der Möglichkeit von Wahrheit zu zweifeln. Selbst Antagonisten gingen davon aus, dass sich am Ende scharfer Auseinandersetzungen die wahre Position zum Gewinn der Gesellschaft durchsetzen würde.

Schliesslich löste auch die Frage leidenschaftliche Debatten aus, ob Wirklichkeitsbeschreibungen immer vom Standpunkt ihrer Autoren abhängen mussten (also «Konstruktionen» waren) oder einen absoluten («realistischen») Stellenwert in Anspruch nehmen konnten.

Prominente, manchmal abgehobene Intellektuelle

Solche von den Geisteswissenschaften ausgehende Fragen galten auch in der nichtakademischen Welt als «praxisrelevant» (ein Lieblingswort jener Jahre). Zwei ineinander verwobene öffentliche Debatten entfalteten sich. Im Vordergrund stand die Konkurrenz zwischen «progressiven» und «konservativen» Vorstellungen vom gemeinsamen Leben. Oder jene zwischen Zukunftsvisionen wie der auf umgreifenden Konsens abgestellten «Theorie des kommunikativen Handelns» von Jürgen Habermas und auf der anderen Seite Büchern wie Hans Blumenbergs «Legitimität der Neuzeit», die Errungenschaften und Chancen der historisch entstandenen Welt hervorhoben.

Doch auch die Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsstatus und die Frage nach möglichen Konsequenzen fanden ein breites Interesse, das den Fokus der Feuilletons auf geistige Diagnosen der Gegenwart verschob. Ihren Horizont markierten Positionen wie Jean-François Lyotards Begriff von der «Postmoderne» als Grenze zu einer neuen Erkenntnispraxis, die der Geschichte ihre Autorität nahm. Genauso Jacques Derridas «Dekonstruktion» als Kritik des Glaubens an adäquater menschlicher Selbstbeobachtung und Michel Foucaults Analysen zur Dekadenzgeschichte einer überoptimistischen Konzeption von der Menschheit.

Vor dem Hintergrund ihrer akademischen Karrieren bildeten solche Autoren vor allem in Frankreich eine neue Rolle des prominenten und manchmal abgehobenen Intellektuellen aus. Zu Foucaults in mehrere Säle übertragenen Vorlesungen am Collège de France versammelten sich Tausende faszinierte Hörer, denen es nicht um Studienbelege ging; von der ersten persönlichen Begegnung zwischen Habermas und Derrida berichteten die Tageszeitungen auf ihren Titelseiten mit Fotos, die Derrida wie einen weltlichen Propheten aussehen liessen; und Lyotards «Condition postmoderne» musste man einfach gelesen haben, um mitreden zu können.

Schwer vermittelbar

Heute erreichen auch Geisteswissenschafter von vergleichbarem intellektuellen Kaliber nie solch intensive Aufmerksamkeit, und selbst die Aura der verbliebenen Protagonisten aus dem goldenen Zeitalter ist verloschen. Dies mag mit der Tatsache zu tun haben, dass sich ihre Disziplinen seit Beginn des Millenniums immer mehr und inzwischen beinahe ausschliesslich auf Phänomene kollektiver Identität konzentrieren, die mit universalem Publikumsinteresse nur schwer vermittelbar sind.

Wenn die Perspektiven von Geschlechteridentität vielleicht noch gelegentlich die «je anderen» Gruppen angehen mögen, so neigen Diskussionen über nationale, soziale und kulturelle Identitäten dazu, sich in Zirkeln von Selbst-Affirmation oder Selbst-Variation zu isolieren.

Neben übergreifenden Themen ist den Geisteswissenschaften aber auch das Vertrauen ihrer Studierenden und Leser auf Einsichten verlorengegangen, zu denen allein das Denken führen kann. Selbst unter Bildungsbürgern sind mittlerweile an die Stelle von Begriffen und Theorien als Medium zur Erfassung von Wirklichkeit elektronisch ermittelte Statistiken getreten. Ihre trocken-definitiven Zahlen lassen brillanten Spekulationen kaum noch Raum.

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature, emeritus, an der Stanford University, Distinguished Professor of Romance Literatures an der Hebrew University, Jerusalem, und Distinguished Emeritus Professor an der Universität Bonn.

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