Aufgrund des hohen Milchkonsums müssen viele Kälber geboren werden. Doch diese will niemand. Sie werden schlecht behandelt oder einfach getötet. Ausgerechnet die Biobranche wehrt sich gegen eine der technologischen Lösungen des Problems.

Das letzte Käsebrot liegt nur ein paar Stunden zurück. Ein nussiger Appenzeller war es. An das jüngste Kalbsschnitzel fehlt indes jede Erinnerung. Den meisten Menschen dürfte es wohl so ergehen: Sie essen mehrmals jeden Tag Milchprodukte. Kalbfleisch verspeisen sie allenfalls selten. Mit diesen ungleichen Vorlieben beginnt ein tierethisches Problem.

Denn damit eine Kuh Milch gibt, muss sie kalben: Gemäss einer bewährten Bauernregel alle 205 Tage, damit sie eine Spitzenleistung von bis zu 60 Liter Milch am Tag erzielt. Jedes Jahr gebären deshalb Millionen Hochleistungsmilchkühe ebenso viele Kälber. Aber diese gigantische Herde Jungtiere brauchen die Menschen nicht. Nicht zum Essen. Nicht zum Aufziehen, noch dazu mit teurer Milch, die man auch an Menschen verkaufen kann.

Das possierliche Kalb mit dem zarten Flaum ist deshalb in den meisten Fällen unerwünscht. Es landet in einer dramatisch grossen Herde von «Überschusskälbern». So nennen Fachleute die Jungtiere, die kaum etwas wert sind. Sie werden gar nicht erst sorgsam vom Muttertier entwöhnt, wie es artgerecht wäre. 20 Millionen solcher überzähligen Kälbchen sollen es allein jedes Jahr in der EU sein, wie die Universität Wageningen in einer Studie für die Europäische Kommission schreibt.

Jeder Kanarienvogel ist mehr wert als ein Kalb

Besonders «unnütz» sind im bestehenden landwirtschaftlichen System Bullenkälber der Milchkühe. Die männlichen Nachkommen der verbreiteten Rasse Holstein Friesen setzen schlecht Fleisch an, weil sie auf maximale Milchmenge getrimmt ist. Aber auch der weibliche Nachwuchs in dieser Zahl ist zu viel.

Bauern können deshalb neugeborene Kälber nur für wenig Geld verkaufen. Besonders drastisch ist das in Deutschland. Manchmal sind es nur symbolische 25 Euro pro Tier. Mitunter fällt sogar ein Malus an, damit das überzählige Kalb vom Hof kommt, wie aus den Preismeldebögen des Viehhandels in Deutschland hervorgeht. Jeder Kanarienvogel sei mehr wert, klagt die Branche.

In der Schweiz ist die Situation nicht ganz so dramatisch. «Aber auch wir spüren den rauen Wind der EU», kommentiert Martin Kaske, Tierarzt und Geschäftsführer des Schweizer Kälbergesundheitsdienstes. Für ein Kalb einer Milchkuh gebe es allenfalls bis zu 400 Schweizerfranken. Das Mästen der Tiere lohnt sich nicht und ist auf den meisten Betrieben unüblich.

Nur oben in den Bergen, wo die Milch nur einmal pro Woche im Schritttempo zu Tal gefahren wird, trinken die Kälber noch die Milch der Mutterkuh. Sonst würde das Getränk schlicht verderben. Hier existiert ein letztes Rückzugsgebiet, in das die moderne Landwirtschaft mit ihrer Maximierung der Leistung und der Arbeitsteilung noch nicht vorgedrungen ist. «Die Alplandwirtschaft schwindet jedoch auch, weil sie wenig Erlös bringt», sagt Kaske.

Kälbertransporte ohne Tränke

Was aber geschieht mit Millionen Kälbern, die niemand recht braucht? Deutsche Bauern verkaufen sie zu Hunderttausenden überwiegend an Mäster in den Niederlanden und in Spanien. Kälberschlachtungen im Inland sind in Deutschland die Minderzahl. Zigtausende der vier Wochen alten Jungtiere kommen zusammengepfercht in grossen Lkw über die Grenze. «Damit sind wir dann beim Reizthema Tiertransporte», sagt Martin Kaske.

«Die Neugeborenen sind sehr empfänglich für Infektionen, wenn man sie Stress aussetzt. Und ein Tiertransport von mehr als vier Stunden ist drastischer Stress. Dann werden Antibiotika gegeben, die wir eigentlich nicht mehr im Fleisch haben wollen.» Es gebe nicht einmal Tränkesysteme für die Kälbertransporte, ergänzt Iris Baumgärtner von der Organisation Animal Welfare Foundation.

Unter Vertrag von niederländischen Grossbetrieben wie Denkavit werden die Kälber in grossem Stil und unter Bedingungen, die in Deutschland so nicht erlaubt sind, gemästet. Jedem Kalb stehen maximal 80 Zentimeter in festen Buchten zu. Damit sie möglichst schnell an Gewicht zulegen, erhalten die Kälber Milchersatz auf der Basis von tierischen oder pflanzlichen Fetten und billigen Eiweissen mit Kraftfutter.

In den Niederlanden werden jedes Jahr 1,4 Millionen Kälber geschlachtet. Das Land ist Marktführer in der Kälbermast. Besonders paradox ist aber: Als billiges Kalbfleisch kommt die Ware dann wieder zurück in die Nachbarländer, auch nach Deutschland. Über die Hälfte ihres Kalbfleisches bezieht die Bundesrepublik von den Niederlanden.

In Nordafrika werden die Kälber geschächtet

Kälberüberschuss auf der einen Seite und Massenmast auf der anderen Seite, dazwischen lange Tiertransporte – das sind die Folgen einer auf maximalen Gewinn ausgerichteten, arbeitsteiligen Landwirtschaft.

Weil aber die Nachfrage nach Kalbfleisch in Europa viel kleiner ist als der Hunger auf Milchprodukte, verfrachtet insbesondere Spanien einen erheblichen Teil der gemästeten Tiere per Schiff nach Nordafrika. Sie würden nach Libanon, Marokko und Algerien verkauft, berichtet der Agrarexperte Nikos Förster.

Dort werden sie nach islamischen Regeln geschächtet. Eine Infrastruktur zum Schlachten der Tiere in Europa und zur Ausfuhr des Fleisches existiert nicht. Die genaue Zahl der Rinder, die auf dem Seeweg Europa verlasse, sei nicht bekannt, sagt Förster. Gemäss den offiziellen Statistiken seien es einige tausend Tiere jedes Jahr. Das wäre ein kleiner Teil. Doch überprüfen lassen sich diese Angaben nicht. Und ein Insider meint: Es soll auch niemand durchblicken.

Mit einer Studie für einen Untersuchungsausschuss hatte eine Expertengruppe um Maria Boada 2021 auf die problematischen Bedingungen der Tiere auf See aufmerksam gemacht. Die meisten ausgeführten Tiere werden in ungeeigneten Schiffen transportiert: Nur rund fünf der 78 in der EU zugelassenen Tiertransportschiffe wurden speziell für den Transport von Tieren hergestellt. Die Schiffe seien mehrheitlich überaltert und führen unter Billigflagge. 2019 und 2020 seien auf solchen Schiffen insgesamt 2504 Mängel festgestellt worden, die oft das Wohl und die Gesundheit der Tiere bedrohten.

Schiffsreisen verursachen immer Leid

Seit 2017 seien Tiertransportschiffe weltweit die Kategorie von Schiffen, die am häufigsten wegen schwerwiegender Mängel gestoppt würden. Die genauen Bedingungen an Bord aber kenne niemand. Die Todesfälle würden nicht erfasst. Der Veterinärmediziner Martin Kaske sagt: «Jedes Tier, das auf diesem Weg die EU verlässt, ist eines zu viel. Eine tagelange Schiffsreise verursacht immer Leid, Krankheit und Tod unter den Tieren.»

In der Schweiz sei der Kälberüberschuss nicht so ausgeprägt wie in Deutschland, meint Kaske. «Beim Tierwohl haben wir mehr Ehrgeiz als andere Länder, was sich schon in unseren Regelungen zeigt.» Auch lägen die Kälberpreise zu hoch für den Export. Deshalb blieben die überzähligen Jungtiere zumeist im Land.

Ausserdem dürfe das überschüssige Kalbfleisch eingefroren werden, was der Staat mit einer sogenannten Marktentlastungsmassnahme nach dem Landwirtschaftsgesetz finanziell unterstütze, berichtet Stefan Muster von der Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft Proviande. Denn das Lagern der Fleischstücke kostet. Nahezu das gesamte Kalbfleisch, das in der Schweiz verspeist wird, kommt aus dem Inland. Tiertransporte ins Ausland und Billigimporte, wie sie in Deutschland Usus sind, sind die absolute Ausnahme.

«Es stimmt aber nicht, dass die Schweiz gar kein Problem mit überzähligen Kälbern hat», sagt Baumgärtner. Sichtbar wird das bei Ungereimtheiten: Schon einfache Mathematik entlarvt, dass die Zahlen nicht zusammenpassen. Wenn jede Milchkuh jedes Jahr ein Kalb gebärt, ergibt das bei 680 000 Milchkühen – laut Agrarbericht in der Schweiz – jedes Jahr 680 000 Kälbchen.

Schweizer Kälber verschwinden – wohin?

Nur jedes fünfte Jungtier wird gebraucht, um den Bestand an Milchkühen zu erhalten. Das Schlachtgewicht für Kälber beträgt gewöhnlich durchschnittlich 150 Kilogramm. Das ergäbe 102 000 Tonnen Kalbfleisch made in Switzerland jedes Jahr. Doch laut Proviande liegt die Inlandsproduktion nur bei einem Fünftel: bei 18 800 Tonnen.

Es verschwinden Kälber – aber wohin? Zu Wurstwaren und Döner, so genau wolle das auch niemand wissen, meint Kaske. Auch Tierfutter mit Kalbfleisch gibt es. Baumgärtner erhebt dagegen einen schlimmen Vorwurf: «Die Neugeborenen werden üblicherweise erschlagen und damit illegal getötet. Wir konnten das noch nicht filmen. Aber es hat es mir erst jüngst wieder ein Lehrling, der auf einem Milchviehbetrieb ausgebildet wurde, als übliche Praxis berichtet.»

In wissenschaftlichen Studien beschreiben Experten wie etwa Laura Webb von der Universität Wageningen die Praxis des Kälbertötens nach der Geburt. Auch eine schottische Expertin schildert die Euthanasie der Kälber oder die frühe Schlachtung kurz nach Geburt als gebräuchliche Praxis in Grossbritannien. Stefan Muster von Proviande weist den Vorwurf für die Schweiz indes als «böse Behauptung» zurück.

Eines ist klar: Es war nicht immer so und müsste nicht so sein, dass die Kälber wie minderwertige Ware behandelt werden. Verschiedene Initiativen zeigen gleich mehrere Lösungsansätze auf. Die Biobäuerin Anja Frey gründete 2019 in Baden-Württemberg die Initiative «Bruderkalb», die auf Qualität und Tierwohl setzt. Jedes Kalb wird am Geburtshof grossgezogen und bei einem Schlachtbetrieb in unmittelbarer Nähe geschlachtet.

Unwissen mündet in einen unmoralischen Umgang mit Tieren

Milch- und Fleischproduktion werden wieder auf einem landwirtschaftlichen Betrieb zusammengeführt. Das Kalb bleibt beim Muttertier und erhält für drei Monate auch seine Milch. Die Zeit zwischen den Geburten dehnt Frey von 205 auf bis zu 500 Tage aus. Damit kommen insgesamt deutlich weniger Kälber zur Welt. Zudem setzt sie auf eine Zweinutzungsrasse, die weniger Milch gibt als jede Hochleistungskuh, dafür aber mehr Fleisch ansetzt. Frey und die knapp fünfzig angeschlossenen Betriebe der «Bruderkalb»-Initiative können mit der Aufzucht der Kälbchen beim Muttertier und dem Vertrieb der Milch weniger verkaufen als spezialisierte Hochleistungsbetriebe.

Sie müssen einen höheren Preis verlangen. «Wenn die Leute wissen, dass das Kalb quasi zum Abfall wird, wenn sie konventionelle Billigmilchprodukte kaufen, sind sie gern bereit, etwas mehr Geld auszugeben. Aber die meisten wissen es nicht, und es braucht mehr als zwei Sätze, um es zu erklären», sagt Frey. Der Kälberüberschuss ist ein Symbol für die Entkoppelung des Menschen von der Nahrungsmittelproduktion. Die meisten wissen nicht, wie ihr Essen entsteht. Das verheerende Unwissen mündet in einen unmoralischen Umgang mit den eigenen Nutztieren.

Das bestätigt etwa die Studie der Universität Hohenheim im Projekt «Wertkalb». Die meisten empfinden zwar Mitleid mit den zarten kleinen Kälbern. Aber dass beispielsweise ein vegetarischer Lebensstil das Problem sogar noch verschärft, indem Milchprodukte konsumiert, die Tiere aber nicht gegessen werden, ist vielen nicht einmal ansatzweise bewusst.

Lösungen für den Kälberüberschuss gibt es längst. Im Projekt «Wertkalb» arbeiteten die Forschenden heraus, dass die Zeit zwischen den Geburten verlängert werden muss. Dann werden deutlich weniger Kälber geboren. Wenn die Milch- und die Fleischproduktion zudem über Zweinutzungsrassen wieder zusammenkommen, gäbe es ebenfalls weniger vermeintlich überflüssige Tiere.

Gesextes Sperma wäre eine Lösung

Verbreitet ist inzwischen schon der Einsatz von gesextem Sperma: Samenzellen, die Bullen ergeben, werden von Biotech-Betrieben, in der Schweiz von Swissgenetics, inaktiv gemacht. Die Milchkühe werden sodann mit Sperma besamt, das nur ein Weibchen ergibt. Seit zehn Jahren weitet sich diese Methode mehr und mehr aus. Auf Biobetrieben ist die Geschlechtswahl bei der Besamung allerdings oft verboten. Der Schweizer Dachverband Bio Suisse votierte 2021 für ein Verbot des Verfahrens.

Das gesexte Sperma liegt im Trend, weil Bullenkälber von Hochleistungsmilchrassen besonders oft unerwünscht sind. Eine Studie der Tierärztlichen Hochschule Hannover an 765 Milchviehbetrieben ergab 2020, dass es vor allem den männlichen Jungtieren auf den Höfen schlecht ergeht: Sie waren öfter krank und wurden schlechter versorgt. Jedes zehnte Kalb starb in den ersten drei Monaten.

Die Empfehlungen aus der Wissenschaft besagen klar, dass die Trennung von Milch- und Fleischproduktion, in Milch- und Masttiere und die auseinandergehende Nachfrage nach Milchprodukten, vor allem Käse, und Fleisch Kern des Kälberüberschussproblems sind. Doch die Milchleistung, auch der Schweizer Kühe, ist in den letzten Jahren weiter gestiegen. Der Käsekonsum ist hoch, höher als vor zehn Jahren. Und gerade dafür braucht es viel Milch. Der Verzehr von Kalbfleisch ist von 2010 bis 2020 von 2,8 auf 1,9 Kilogramm pro Jahr deutlich gesunken. Eine Umkehr des Trends ist nicht in Sicht.

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