Mittwoch, Oktober 2

Wurde das Dokument bewusst unter Verschluss gehalten, oder ist es gar nicht authentisch?

Natalie Rickli tritt auf wie eine Tennis-Schiedsrichterin, die den krakeelenden Pöbel auf den Rängen zur Ordnung ruft: «Quiet, please!» Die Zürcher Gesundheitsdirektorin hat die grosse Bühne im Kantonsrat diese Woche genutzt für eine dringende Ermahnung: Niemand brauche «Klatsch und Gerüchte» und «anonyme Berichte», um die ein Geheimnis gemacht werde. Was es jetzt brauche, sei Ruhe.

Aber natürlich war es da längst passiert: Ein mysteriöser Bericht hatte alle in Aufregung versetzt, von der Kantonsregierung über das Parlament bis zum wichtigsten Spital im Kanton, dem Unispital. Ein Papier voller schwerer Anschuldigungen. Und alle versuchten jetzt, dieses in die Hände zu bekommen. Eine Schnitzeljagd für Fortgeschrittene.

Was war geschehen? Die «Welt am Sonntag» hatte Ende Juni einen langen Artikel publiziert, in dem sie die epische Skandalgeschichte um die Herzklinik am Zürcher Unispital, den gefallenen Klinikchef Francesco Maisano, fragwürdige Implantate und ihre tödlichen Folgen nacherzählt.

Nichts daran war wirklich neu, bis hin zu schaurigen Details wie zwei losen Schrauben, die in einer geöffneten Herzkammer herumkullerten. Quasi ein Remake dieses modernen Zürcher Klassikers fürs internationale Publikum, ergänzt um einen Subplot mit Verästelungen nach Deutschland.

Aber fast nebenher erwähnte der Artikel auch einen Bericht, den die Zürcher Kantonsregierung bestellt habe und der bislang nicht veröffentlicht worden sei. Verfasst worden sei er von einer 24-köpfigen interdisziplinären Expertengruppe. Die zitierten Stellen haben es in sich: Unter Maisano sei die Mortalitätsrate «zehn- bis 15-mal höher» gewesen als in vergleichbaren Kliniken. Jede zweite Herztransplantation sei tödlich ausgegangen statt wie früher eine von acht. Ungewöhnlich viele Herzpatienten seien nach der Operation auf der Intensivstation gelandet.

Dass die Mortalität in jenen Jahren zu hoch war, war bekannt – aber gleich so hoch? Und vor allem warf dies die Frage auf: Hielt die Regierung ein brisantes Papier mit Absicht unter Verschluss?

Ricklis Direktion reagierte prompt: Es handle sich um eine Falschaussage, sie habe nie einen solchen Bericht bestellt. Auf Intervention bei der «Welt am Sonntag» korrigierte diese den Bericht. Jetzt soll es der Zürcher Kantonsrat gewesen sein, also das Parlament, das den Bericht in Auftrag gegeben hatte. Bloss weiss auch dort niemand etwas davon. Weder die Präsidentin der fürs Unispital zuständigen Kommission noch jene der Subkommission, die damals die Vorgänge an der Herzklinik untersuchte.

Die «Welt»-Redaktion hat bislang nicht auf ein Schreiben des Kantonsrats reagiert und die Bitte um Einsicht in das mysteriöse Dokument ignoriert. Damit beginnt die Detektivgeschichte erst richtig: die Jagd nach einem brisanten Bericht, von dem angeblich niemand weiss.

Geschrieben von einer Task-Force, die es nie gab

Ein paar sachdienliche Hinweise liefert der Finanzblog «Inside Paradeplatz» des Journalisten Lukas Hässig, der den Bericht ebenfalls in die Hände bekommen hat. Auch er gibt ihn nicht heraus.

Hässig ist seit kurzem in einen Rechtsstreit mit der Gesundheitsdirektorin Rickli verwickelt, weil er in einem Artikel suggerierte, sie habe schon früh von den hohen Mortalitätsraten gewusst, aber nicht reagiert. Seine wichtigste Referenz: der Herzchirurg Paul Vogt, der nach der Ära Maisano für Ruhe am Unispital sorgen sollte, sich aber inzwischen öffentlich mit diesem überworfen hat, weil er sagt, das Spital habe das Ausmass der Todesfälle und die Gefährdung der Patienten wissentlich heruntergespielt. Da kommt einiges zusammen.

Hässig also präsentiert auf seinem Blog einen Ausriss des Berichts und erwähnt ein paar Details. Der Text sei nicht datiert, im Titel stehe «Interdisziplinäre Task-Force HGT (Herz-Gefäss-Thorax)», und adressiert sei er an die «Subkommission der Aufsichtskommission für Bildung und Gesundheit». Nach der Publikation wendet sich ein Informant an ihn und sagt, es handle sich dabei lediglich um eine Zwischenversion, die Übung sei später abgebrochen worden.

Das ist eine eindeutige Spur. Die erwähnte Subkommission war federführend, als der Zürcher Kantonsrat 2021 aufgrund der Skandalgeschichten um die Herzklinik 74 Empfehlungen abgab. Eine davon lautete: «Dem Medizinbereich HGT wird empfohlen, eine interdisziplinäre Task-Force einzusetzen, um den erhöhten Mortalitätsraten auf den Grund zu gehen.» Adressatin dieser Empfehlung war das Unispital.

Der Kommunikationsleiter des Unispitals, Stefan Wyer, versichert allerdings, dass die Spitaldirektion nie den Auftrag erteilt hat, eine solche Task-Force einzusetzen. Sie kann demnach auch nicht in offiziellem Auftrag einen Bericht in Angriff genommen haben, den das Spital später unterband. Überdies trifft laut Wyer die zitierte Aussage zur Sterberate – «zehn- bis 15-mal höher» – inhaltlich nicht zu.

Doch das bedeutet nicht, dass das Spital in jenem Jahr gar keine Berichte bestellt hat. Es gab sogar deren drei. Verfasst wurden sie von unabhängigen Auditoren, die die Abläufe vor, während und nach den Herzoperationen untersuchten. Laut Wyer geschah dies in Absprache mit der neuen Klinikleitung, den Chirurgen Paul Vogt und Thierry Carrel. Ziel sei es gewesen, so schnell wie möglich Massnahmen umzusetzen, um die medizinische Qualität zu verbessern und die Mortalität zu senken.

Einer der drei Audit-Berichte behandelte die Intensivmedizin – das macht hellhörig, weil die Tamedia-Zeitungen schon 2022 in einem Artikel über die von Paul Vogt deutlich reduzierten Sterberaten einen «bisher unbekannten Bericht» zur Intensivstation der Herzklinik erwähnten. In Auftrag gegeben und verfasst worden sei dieser 2021, genau wie die Audits. Gleichzeitig gibt es auch eine auffällige Gemeinsamkeit mit dem mysteriösen Bericht, dem derzeit alle hinterherjagen: In beiden wurde explizit kritisiert, dass Herzpatienten nach dem Eingriff vergleichsweise oft auf der Intensivstation landeten.

Es ist also denkbar, dass es sich beim mysteriösen Bericht um einen Entwurf des Audit-Berichts handelt oder um ein Derivat davon.

Wie die «Task-Force» in den Titel kam, ist damit aber nicht geklärt. Ebenso wenig, was es mit der 24-köpfigen Autorengruppe auf sich hat. Eine der aufgeführten Personen nennt der Journalist Lukas Hässig auf Anfrage namentlich, sie arbeitet in der Gesundheitsdirektion. Dort dementiert man aber, dass die Frau je an einem solchen Bericht mitgearbeitet habe oder Teil einer Arbeitsgruppe gewesen sei.

Dass die Mortalität zu hoch war, ist längst bekannt

Es bleibt also spannend – spannender, als der Führung des Unispitals lieb sein kann. Die Aufregung um den mysteriösen Bericht kommt für sie gerade denkbar ungelegen. Eigentlich wollte sie am 8. Mai dieses Jahres einen Schlussstrich unter die Affäre Maisano ziehen, mit der sie seit über vier Jahren zu kämpfen hat. Der CEO André Zemp kündigte an jenem Tag an, dass eine internationale, unabhängige Expertengruppe sämtliche Todesfälle an der Klinik für Herzchirurgie zwischen 2016 und 2020 noch einmal untersuchen werde.

Die Einsetzung dieser Expertengruppe war eine Reaktion auf eine Attacke des ehemaligen Chefarztes Paul Vogt. Dieser hatte eine Woche zuvor seinem Vorgänger Francesco Maisano öffentlich vorgeworfen, ein «Desaster» an der Klinik angerichtet zu haben. Die NZZ berichtete darüber. Er selbst habe in den Wochen nach seinem Arbeitsantritt lange «Listen mit toten Patienten» durchgesehen, die ihn stutzig gemacht hätten. Er sprach von nicht zugelassenen Implantaten, von «unethischem und kriminellem Verhalten» unter der Ärzteschaft. Der Standpunkt des Unispitals, das Patientenwohl sei nie gefährdet gewesen, lasse sich nicht halten.

Diese Anschuldigungen wirbelten viel Staub auf, die Expertengruppe soll deshalb für das Unispital die Geschichte nochmals aufarbeiten. Doch nur zwei Monate nach der Ankündigung erschien der Artikel in der «Welt am Sonntag».

Dass die Herzklinik Qualitätsprobleme hatte, ist unbestritten und längst bekannt – auch ohne den mysteriösen Bericht. Die Mängel sind belegt durch Zahlen, die der Bund jährlich publiziert. In endlosen Listen ist aufgeführt, wie viele Eingriffe pro Kategorie ein Spital gemacht hat und wie viele Patienten dabei gestorben sind.

Interessant ist vor allem, dass das BAG errechnet, wie hoch die erwartete Mortalitätsrate bei einem bestimmten Eingriff in einem Spital ausfallen sollte – und diese Zahl mit der tatsächlichen Mortalitätsrate vergleicht. Dabei schneidet die Herzchirurgie des Unispitals in den Jahren 2016 bis 2020 schlecht ab. In diesem Zeitraum starben in allen Operationskategorien mehr Patienten als erwartet.

Ein Beispiel sind die Bypassoperationen an Patienten ohne Herzinfarkt: Von 2016 bis 2020 führte das Unispital diesen Eingriff 975-mal durch. Die Mortalitätsrate lag bei 2,6 Prozent, zu erwarten gewesen wären laut BAG 1,5 Prozent. Es starben also fast doppelt so viele Patienten, wie aufgrund des Risikoprofils zu erwarten war. In absoluten Zahlen: 25 statt 15.

Im Vergleich mit Bern steht Zürich schlecht da

Heisst das also, dass es allein in dieser Kategorie zu 10 vermeidbaren Todesfällen gekommen ist? Das wäre wohl zu kurz gegriffen – auch weil die Berechnung des Risikoprofils keine exakte Wissenschaft ist. Um die erwartete Mortalität zu berechnen, berücksichtigt das BAG lediglich zwei Faktoren: das Alter und das Geschlecht der Patienten. Andere Risikofaktoren wie Vorerkrankungen oder frühere Operationen ignoriert es.

Gerade Unispitäler kritisieren die Berechnungsmethode, denn sie müssen sich um jene Patienten kümmern, die besonders schwierig zu behandeln sind. Doch Zürich schnitt in den Jahren 2016 bis 2020 auch gegenüber anderen universitären Herzkliniken wie jener des Berner Inselspitals schlecht ab. Die Berner liegen in der gleichen Zeitspanne bei fast allen Eingriffen unter der erwarteten Mortalitätsrate, zum Teil deutlich.

Das Inselspital hat in diesem Zeitraum 916 Bypassoperationen an Patienten ohne Herzinfarkt durchgeführt. Verstorben sind 0,5 Prozent der Patienten, gemäss den Berechnungen des BAG wäre eine Mortalitätsrate von 1,2 Prozent zu erwarten gewesen. In Bern starben also weniger als halb so viele Bypasspatienten, wie zu erwarten gewesen war, und ein Fünftel so viele wie am Zürcher Unispital.

Die Qualitätsprobleme in der Zürcher Herzchirurgie in der Ära Maisano lassen sich also nicht wegdiskutieren. Seinem Nachfolger Paul Vogt gelang es ab 2020 bis zu seiner Pensionierung, die Mortalitätsraten rasch zu senken. Auch unter dem neuen Chef Omer Dzemali, seit Dezember 2022 im Amt, sollen die Zahlen gemäss eigenen Aussagen gut sein. Die Daten für 2023 wurden vom BAG noch nicht veröffentlicht.

Die Task-Force soll nun aufzeigen, warum die Qualität unter Maisano so schlecht war. Transparenz zu schaffen, scheint in diesen Tagen umso nötiger, in denen wieder Spekulationen aufkommen, die Wahrheit werde unterdrückt.

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