Nachdem sich Union und SPD für ihre Einigung auf Koalitionsverhandlungen gelobt haben, setzt es nun scharfe Kritik. Auch Vertreter der Wirtschaft sind unzufrieden, obwohl Friedrich Merz gerade ihnen entgegenkommen wollte.

Nach dem Ende der Sondierungsverhandlungen von Union und SPD sind die Reaktionen in Deutschland geteilt. Sie reichen vom Vorwurf des Wortbruchs über «Katastrophe» bis hin zu Lob für die mögliche Asylwende. Massive Kritik kommt aus der Wirtschaft.

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Der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger lobte am Sonntag zwar in einer Mitteilung, dass Union und SPD nun über eine Koalition verhandeln wollten. Es sei richtig, die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen. Doch dann übte er scharfe Kritik an den Plänen von Schwarz-Rot.

Sie bezieht sich vor allem auf die mutmasslich von der SPD geforderte Einführung eines Tariftreuegesetzes. «Wir erwarten mehr Respekt vor der Tarifvertragsautonomie und der Unabhängigkeit der Sozialpartner.» Dulger spricht von mehreren Eingriffen in die Autonomie der Sozialpartner, die im Sondierungspapier vorgeschlagen würden.

Scharf geht er auch gegen das im Sondierungspapier festgesetzte Ziel vor, ab 2026 den Mindestlohn auf 15 Euro zu erhöhen. «Wir verbitten uns jede Einmischung bei der Festsetzung des Mindestlohns in der zuständigen Kommission.» Es sei ein «sachlicher Fehler», wie die potenziellen Koalitionäre zu behaupten, es gebe eine Grundlage für eine Mindestlohnhöhe von 15 Euro im kommenden Jahr. Dies dürfe nicht in den Koalitionsvertrag aufgenommen werden.

Nicht ambitioniert und nicht weitreichend genug

Neben Details kritisieren die Arbeitgeber das Sondierungsergebnis auch generell. Es seien keine ambitionierten Massnahmen erkennbar, die zur Stabilisierung oder gar Senkung der Sozialversicherungsbeiträge beitrügen, heisst es. Zu den Sozialversicherungsbeiträgen zählen die Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Derzeit betragen sie durchschnittlich 41,9 Prozent des Bruttolohns. Laut Dulger müssten sie dauerhaft bei 40 Prozent liegen, um Arbeit wieder attraktiver zu machen und den Standort Deutschland zu stärken.

Die von Schwarz-Rot angestrebte Sicherung des derzeitigen Rentenniveaus könnte mit Kosten in den nächsten zwanzig Jahren von 500 Milliarden Euro eine schwere Hypothek werden. «Für einen echten Politikwechsel reicht dies nicht», sagt Dulger zusammenfassend.

Grüne: «Völlig aus der Zeit gefallen»

Am Sonntag haben auch die Grünen ihre Kritik an der schwarz-roten Einigung untermauert. Die Verteidigungsexpertin und Fraktionsvize Agnieszka Brugger sprach von einem Sondierungspapier, das völlig aus der Zeit gefallen sei. Sie habe, sagte sie der «Süddeutschen Zeitung», trotz mehrfachem Lesen «ausser etwas Floskeln am Anfang nichts, wirklich nichts zu Aussenpolitik» gefunden. Innere Sicherheit finde bei Union und SPD ebenfalls nicht statt. Das sei etwa daran zu sehen, dass Polizei und Nachrichtendienste in dem Sondierungspapier völlig vergessen worden seien.

Tatsächlich findet sich zu den Sicherheitsaspekten im Sondierungspapier wenig. Das sorgt auch im Ausland für massive Kritik. So zeigte sich der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andri Melnik, bei X entsetzt darüber, dass sein Land in dem Papier von Union und SPD nur als Randnotiz erscheint. «Das ist für uns Ukrainer eine wahre Katastrophe», schreibt er. Das Wort «Ukraine» kommt in dem elfseitigen Sondierungspapier genau zweimal vor. Tenor: «Deutschland steht weiter an der Seite der Ukraine.»

Scharf äussert sich der linke Flügel der Grünen zur Einigung von Union und SPD bei der Migration. Merz hatte am Samstag mitgeteilt, auch Asylsuchende an den Grenzen zurückweisen zu wollen. Ausserdem sollen der Familiennachzug für geduldete Migranten ausgesetzt und mehr Menschen nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden. Timon Dzienus, in den Bundestag gewählter, früherer Sprecher der Grünen Jugend, sagte dazu, vor ein paar Wochen habe Merz für diese Massnahmen «noch die Faschisten» gebraucht, jetzt wolle die SPD abstimmen wie die AfD.

Er spielte damit auf eine Abstimmung im Bundestag Ende Januar an. Damals hatte die Union einen Antrag eingebracht, der zu einer Verschärfung der Migrationspolitik führen sollte. Darin wurde unter anderem die umfassende Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen gefordert. CDU und CSU erzielten eine Mehrheit, weil die AfD mit ihnen stimmte. Die SPD hatte sich dagegen ausgesprochen und anschliessend von einem Tabubruch gesprochen.

Scharfe Kritik von AfD, Linken und Liberalen

Neben den Grünen üben aber auch andere Parteien massive Kritik an den Sondierungsergebnissen. Die AfD spricht von einer «Einigung zum Schaden Deutschlands». Die Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla äusserten, es gebe «lediglich vage Versprechungen und Formelkompromisse in der Migrationspolitik». Pläne wie ein Industriestrompreis und Subventionen für Elektroautos würden weder Wohlstand noch Wirtschaftswachstum schaffen.

Gemäss der Linkspartei sei das Sondierungspapier «so katastrophal wie erwartet». Soziale Themen seien ein blinder Fleck. Es scheine, Union und SPD hätten ihre Energie vor allem darauf verwendet, das Asylrecht bis zur Unkenntlichkeit zu schleifen, teilten die Fraktionsvorsitzenden Heidi Reichinnek und Sören Pellmann mit. Sie sprachen von einem Blankocheck für Aufrüstung.

Auch die aus dem Bundestag abgewählte FDP kritisierte das schwarz-rote Papier als unzureichend. Dem gigantischen Schuldenpaket stehe nur einzelnes Stückwerk gegenüber, sagte Fraktionschef Christian Dürr. Es bleibe bei Bürokratie durch Lieferkettengesetz und ideologisierter Klimapolitik. Dies sei das Gegenteil dessen, was für eine Wirtschaftswende gebraucht werde.

Drastische Kritik kommt aus der Union selbst. Der langjährige bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer beklagte vor allem die Bereitschaft bei CDU und CSU zur massiven Aufnahme neuer Schulden. Das sei «das Gegenteil dessen, was wir vor der Wahl gesagt haben». Die Union habe sich hier des «Wortbruchs» schuldig gemacht, äusserte Seehofer in der «Bild am Sonntag».

Gemeinden loben Begrenzung der Migration

Lob kommt derweil von den Städten und Gemeinden in Deutschland. Die sehr deutliche Begrenzung der illegalen Migration, die Beschleunigung der Rückführungen und die zusätzlichen Mittel für die Integration der Menschen mit Bleiberecht seien richtige Akzente, sagte Andre Berghegger, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, der Funke-Mediengruppe. Er sprach von «wichtigen Schritten auf dem Weg zu einer echten Migrationswende».

Das Festhalten an der Bezahlkarte für Asylmigranten und die Wiedereinführung der «Sprach-Kitas» seien weitere wichtige Signale. Unter «Sprach-Kitas» sind Kindertageseinrichtungen zu verstehen, in denen insbesondere Kinder aus Migrantenfamilien vor der Einschulung gezielt gefördert werden, um die deutsche Sprache zu lernen.

Auch die Gewerkschaft der Polizei äusserte sich zufrieden über die Einigung von Union und SPD. In der «Bild-Zeitung» forderte der Gewerkschaftschef Jochen Kopelke «deutlich mehr Personal». Bei einem massiven Ausbau der Grenzkontrollen brauche die Bundespolizei bis zu zehntausend Beamte mehr.

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