Sonntag, November 16

In einem aufsehenerregenden Schritt erlauben die USA der Ukraine den Einsatz von Waffen gegen Ziele im Innern Russlands. Doch die Entscheidung kommt zu spät. In der Rückblende wird Bidens ewige Zögerlichkeit wohl als Wurzel des Scheiterns in Erinnerung bleiben.

Die Ukraine braucht Waffen, nicht Worte. Es erstaunt deshalb niemanden, dass die ukrainische Generalität keine Zeit vergeudete, als in der Nacht auf Montag der langersehnte Entscheid Washingtons durchsickerte: Endlich erlauben die Amerikaner, dass weitreichende Raketen des Typs Atacms auch gegen Ziele im Innern Russlands zum Einsatz kommen dürfen. Die bis dahin geltende Beschränkung auf Ziele in den russisch besetzten, völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Gebieten hatte militärisch schon lange keinen Sinn mehr ergeben. Die Ukrainer schritten sogleich zur Tat – bereits am frühen Dienstagmorgen sausten erstmals Atacms-Raketen auf eine Militärbasis in Russland nieder.

Auch wenn in Kiew die Erleichterung über das amerikanische Nachgeben gross ist, mischt sich in dieses Gefühl ein anderer Gedanke: Weshalb haben die USA mit ihrer Erlaubnis so lange zugewartet? Warum rang sich Biden dazu erst durch, als sich die Ukrainer militärisch bereits in einer prekären Lage befanden? Zum wiederholten Male verpasste Biden den besten Moment zum Handeln – ein Muster, das nicht nur die amerikanische Ukraine-Politik kennzeichnet, sondern viele Aspekte dieser Präsidentschaft, von der Einwanderungspolitik über die Inflationsbekämpfung bis hin zum viel zu lange hinausgezögerten Entscheid, im Wahlkampf gegen Donald Trump Platz zu machen.

Ende für die «Schutzzone» der Russen

Kleinreden sollte man die endlich erfolgte Lockerung der Einsatzregeln zwar nicht. Die Ukrainer können nun Dutzende von wichtigen militärischen Zielen im russischen Hinterland ins Visier nehmen. Darunter sind Militärflugplätze, Truppenlager, Führungseinrichtungen und logistische Knotenpunkte. Jenseits einer Distanz von etwa 70 Kilometern von der Grenze konnten sich die russischen Angreifer bisher sicher vor Angriffen mit westlichen Lenkwaffen fühlen – eine absurde Situation. Gefahr drohte höchstens von ukrainischen Kamikaze-Drohnen, die aber viel leichter abzuwehren sind und über eine geringere Sprengkraft verfügen.

Videobilder deuten darauf hin, dass die Ukrainer bei ihrem ersten Atacms-Angriff auf russischem Boden ein riesiges Munitionsdepot bei Karatschew in der Grenzprovinz Brjansk angegriffen haben. Ein Feuerball und mehrere Nachexplosionen sprechen für einen gewissen Erfolg. Nach ukrainischen Angaben lagerten in Karatschew Artilleriegranaten, Munition für Raketenwerfer und Luft-Boden-Raketen, darunter auch Munition aus Nordkorea, was im Zusammenhang mit dem Einsatz von angeblich 10 000 Nordkoreanern an der nahen Kursk-Front gesehen werden kann.

Aber insgesamt bleibt der Eindruck einer allzu zögerlichen Entscheidung. Monatelang hatten das Weisse Haus und das Pentagon argumentiert, den Ukrainern würde eine Lockerung der Einsatzregeln nichts nützen. 90 Prozent der von Russland eingesetzten Kampfflugzeuge seien ausserhalb der maximalen Atacms-Reichweite von 300 Kilometern stationiert, und ohnehin seien die Bestände an solchen Raketen gering. Weshalb Biden nun kurz vor Ende seiner Amtszeit zu einem anderen Schluss kam, erläuterte seine Regierung nicht.

Klar scheint, dass die Furcht vor einer russischen Eskalation – bis hin zum Einsatz von Atomwaffen – die Zurückhaltung mitbestimmt. Doch das Kreml-Regime weiss solche Ängste geschickt zu instrumentalisieren. Am Dienstag unterzeichnete Präsident Putin eine neue Nukleardoktrin, die eine Reihe zusätzlicher Szenarien vorsieht, in denen sich Russland den Einsatz von Atomwaffen vorbehält. Es ist als ein propagandistischer Schachzug zu sehen, als gezieltes Mittel der Einschüchterung. Denn in Tat und Wahrheit deutet nichts darauf hin, dass die Gefahr einer atomaren Eskalation gestiegen ist.

Zu den Konstanten russischer Machtpolitik zählt, «rote Linien» zu ziehen und diese fallen zu lassen, wenn die Gegenseite hart bleibt. So hatte Putin nacheinander schwerste Konsequenzen angedroht, zunächst für den Fall, dass der Westen die Ukraine überhaupt in ihrem Abwehrkampf unterstütze, später für den Fall der Lieferung schwerer Waffen, danach für das Szenario von westlichen Lenkwaffen und Kampfjets in der Ukraine. Er handelt im Rahmen seiner Weltsicht durchaus rational und hat nach Überzeugung der allermeisten Militärexperten keinen Grund, mit einem Atomkrieg seine Existenz zu riskieren. Im westlichen Lager gibt es aber weiterhin viele Anhänger der These, man könne Putin mit Beschwichtigungen gnädig stimmen.

Es bleiben Einschränkungen

So hat Biden auch diesmal seine Entscheidung eingeschränkt. Laut inoffiziellen Angaben gilt das grüne Licht für die Atacms nur für den Grossraum Kursk, wo die Ukrainer ihr im August erobertes Territorium auf russischem Boden zu halten versuchen. Zudem blockieren die USA weiterhin den Einsatz britisch-französischer Marschflugkörper des Typs Storm Shadow / Scalp. Biden hat es auch unterlassen, gleichzeitig grosszügigen Nachschub für die schwindenden ukrainischen Atacms-Bestände anzukündigen. Immerhin rang er sich zur Lieferung von Anti-Personen-Minen durch, die sich sehr gut eignen, um die gefürchteten russischen Infanterie-Sturmtruppen auf Distanz zu halten. Bitter für die Ukrainer ist dabei aber, dass auch dieser Schritt erst erfolgte, als sie in diesem Herbst bereits Hunderte von Quadratkilometern Land verloren hatten.

«Eure Hilfe ist vergebens, wenn sie zu gering ist oder zu spät» – mit diesen Worten beschwor 1627 der Vertreter des britischen Königs Charles das Parlament, angesichts der bedrohlichen Lage im Dreissigjährigen Krieg keine Zeit mehr bei der Aufrüstung zu verlieren. «Too little, too late» ist seither zum geflügelten Wort geworden. Es dürfte als unfreiwilliges Motto von Bidens Präsidentschaft und der westlichen Ukraine-Politik insgesamt in die Geschichte eingehen.

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