Donnerstag, Oktober 10

Gegner warfen der Vizepräsidentin vor, keine klare Wirtschaftspolitik zu verfolgen. Nun hat Harris reagiert und ein Bündel von moderaten und radikaleren Massnahmen vorgelegt. Sie steht wegen der hohen Inflation der Biden-Jahre unter Zugzwang.

Kamala Harris hat am Freitag erstmals im Detail erklärt, welche Wirtschaftspolitik sie als Präsidentin verfolgen will. In einer halbstündigen Rede in Raleigh, im umkämpften Gliedstaat North Carolina, hat die Vizepräsidentin eine Reihe von konkreten Vorschlägen präsentiert.

Damit will Harris, getreu ihrer optimistischen Wahlkampagne, eine «Chancenwirtschaft» schaffen, wie sie sagt. Im Zentrum aller Massnahmen stehe der Kampf gegen hohe Preise. Amerikaner mit niedrigen und mittleren Einkommen sollen mehr sparen und sich wieder ein Haus leisten können.

Kindergeld und tiefere Medikamentenpreise

Harris will Pharmafirmen zwingen, zahlreiche Preise verschreibungspflichtiger Medikamente zu senken. Zudem soll ein Preisdeckel für Insulin, von dem heute bereits Senioren profitieren, künftig für alle Amerikaner gelten. Niemand solle mehr als 35 Dollar im Monat für Insulin zahlen müssen, versprach Harris. Überhaupt sollen die Ausgaben für Medikamente, welche die Patienten selber tragen müssen, gedeckelt werden.

Weiter will sie gegen «Wucher» im Lebensmittelhandel vorgehen – und zugleich kleine Lebensmittelläden subventionieren. Ins Visier nimmt die Vizepräsidentin auch grosse kommerzielle Vermieter, welche die Mieten in die Höhe treiben würden. Sie nutzten unter anderem Software, um Mietpreise in gewissen Gegenden abzusprechen, kritisierte Harris. Dagegen werde sie vorgehen.

Zudem verspricht sie Subventionen für alle, die erstmals ein Haus kaufen. Der Staat soll einen Zuschuss von bis zu 25 000 Dollar ans Eigenkapital leisten, damit sich wieder mehr Amerikaner für eine Hypothek qualifizieren.

Zudem will Harris werdenden Eltern einen Steuererlass von 6000 Dollar für jedes Neugeborene gewähren. Ein bestehender Kinderabzug soll weitergeführt werden, ebenso wie generelle Steuererleichterungen für die Unter- und Mittelschicht, die noch aus der Präsidentschaft von Donald Trump stammen. Finanzieren will Harris die neuen Programme, indem sie Trumps Steuerrabatte für Vermögende und für Firmen kürzt. Diese Rabatte laufen 2025 aus und müssten vom Kongress erneuert oder angepasst werden.

Nimmt man Schätzungen etwa des unparteiischen Congressional Budget Office als Grundlage, dürfte diese Massnahme bei weitem nicht ausreichen, um das sehr grosse Haushaltsdefizit der USA auf ein nachhaltiges Niveau zu bringen. Immerhin sprach Harris das Defizit, das bisher im Wahlkampf kaum eine Rolle spielte, überhaupt an.

Achillesferse Inflation

Harris wagte in ihrer Rede einen rhetorischen Spagat. Einerseits redete sie die wirtschaftliche Bilanz der Regierung Biden stark, da sie als Vizepräsidentin auch daran gemessen wird.

Andererseits weiss sie, dass viele Wähler ihre Regierung dafür verantwortlich machen, dass Lebensmittel heute deutlich teurer sind als vor vier Jahren. Auch die Hypothek, Miete, Autoversicherung oder die Kinderbetreuung kosten mehr als noch 2020.

Viele Amerikaner haben deshalb das Gefühl, wirtschaftlich nicht voranzukommen, selbst wenn die Arbeitslosigkeit im Land tief ist und die Gesamtwirtschaft wächst. Harris kann diesen Unmut nicht ignorieren und braucht daher einen anderen Schuldigen für die hohen Preise. Sie hat ihn offenbar in profitgierigen Vermietern, Händlern und Grossunternehmen gefunden.

Einige Vorschläge der Demokratin sind trotz der kämpferischen Rhetorik moderat. Besonders die «tax credits» haben viele Befürworter; auch der republikanische Kandidat fürs Vizepräsidium, J. D. Vance, schlägt höhere Kinderabzüge vor.

Dass das Gesundheitssystem erhebliche Probleme aufweist, steht ebenfalls ausser Frage. Die Amerikaner zahlen im Schnitt viel höhere Medikamentenpreise als Europäer oder Asiaten. Sie subventionieren damit die globale Pharma-Forschung. Es war klar, dass die USA diesen Zustand nicht ewig hinnehmen würden.

Die Biden-Regierung hat vor zwei Jahren die Gesetzesgrundlage geschaffen, damit der Staat mit den Pharmafirmen direkt die Preise verschreibungspflichtiger Medikamente verhandeln kann. Dies in erster Linie für das staatliche Gesundheitssystem Medicare, das Amerikaner ab 65 Jahren nutzen dürfen. Harris möchte die Verhandlungen nun auf deutlich mehr Präparate ausdehnen.

Gute Gewinne, schlechte Gewinne

Radikal und sehr interventionistisch ist Harris’ Vorschlag, direkt die Nahrungsmittelpreise beeinflussen zu wollen; mit einem neuen Gesetz gegen Wucher im Lebensmittelhandel. Künftig sollen Firmen bestraft werden, die Krisen ausnutzen, um Lebensmittelpreise über Gebühr zu erhöhen und daraus Profit zu schlagen.

Die Vizepräsidentin argumentiert, sie wolle damit die Konkurrenz in der Branche stärken und so die Preise senken. Aber ihr Vorschlag ist unscharf und geht weit über den Kampf gegen illegale Preisabsprachen hinaus. Es besteht die Gefahr, dass der Staat willkürlich und opportunistisch strafen wird, weil es keine allgemeingültige Regel gibt, ab wann ein Gewinn zu hoch ausfällt.

Im Fokus dürften zum Beispiel die Fleischverarbeiter stehen. Bereits die Biden-Administration hat 2021 vier grosse Schlachthof-Betreiber als Schuldige für steigende Fleischpreise angeprangert. Diese Unternehmen kontrollieren rund 80 Prozent der Verarbeitung von Rindfleisch in den USA. Tyson Foods und JBS konnten ihre Gewinnspanne in den Jahren 2021 und 2022 tatsächlich deutlich vergrössern; 2023 lief es ihnen aber bereits wieder viel schlechter. Solche Fluktuationen gehören zur Marktwirtschaft; was es für den Staat sehr schwierig macht, «gute» von «schlechten» Gewinnen zu unterscheiden.

Harris› Massnahme zur Subventionierung des Kaufs von Wohneigentum wiederum könnten sogar preistreibend wirken: Mehr Amerikaner würden für eine unveränderte Zahl von Häusern mitbieten.

Zwar hat Harris auch angekündigt, in ihrer ersten Amtszeit dafür zu sorgen, dass in den USA drei Millionen neue Wohnungen und Häuser gebaut würden; etwa indem die lokale und gliedstaatliche Bürokratie zurückgestutzt wird. Das mag ein sinnvoller Ansatz sein. Aber es haben sich schon manche Politiker die Zähne ausgebissen am erbitterten Widerstand von Nachbarn, die in ihrem Quartier einfach keine neuen Wohnungen sehen wollen.

Wechselwähler müssen nicht moderat sein

So unterschiedlich die einzelnen Massnahmen sein mögen, sie fügen sich doch in eine übergeordnete Strategie: Kamala Harris richtet ihre Positionen konsequent auf Wechselwähler in den «Swing States» aus, die ihr die Wahl sichern sollen.

Deshalb hat sie radikale Positionen von früher mühelos fallengelassen. Vor fünf Jahren forderte Harris etwa noch ein Fracking-Verbot, jetzt nicht mehr. Vor allem im wichtigen Swing State Pennsylvania, dank Fracking der zweitgrösste Erdgasproduzent unter allen Gliedstaaten, hätte sie diese Haltung Stimmen gekostet.

Donald Trump, der republikanische Präsidentschaftskandidat, bezeichnete Harris› Vorstösse auf Truth Social als «Preiskontrollen in sowjetischem Stil». Sein Problem ist, dass Harris› Wirtschaftsstrategie im Wahlkampf bereits rege getestet wird – und funktioniert. Zahlreiche Demokraten, die ihre Senatssitze in konservativen und umkämpften Staaten verteidigen, wettern sehr erfolgreich gegen «Big Business», überrissene Preise und billige Importe aus China.

Bob Casey etwa, der langjährige demokratische Senator aus Pennsylvania, hat sich den Kampf gegen «shrinkflation» auf die Fahne geschrieben. Er kämpft also gegen Unternehmen, welche die Packungsgrösse ihrer Produkte verkleinern, die Preise aber nicht senken. Das kommt beim Wahlvolk gut an. Casey liegt in Umfragen derzeit mehr als 10 Prozentpunkte vor seinem republikanischen Rivalen David McCormick – während Kamala Harris und Donald Trump in Pennsylvania in etwa gleichauf liegen.

Sherrod Brown aus dem inzwischen republikanisch geprägten Ohio hat sich die grossen Immobilienunternehmen vorgeknöpft, Ruben Gallego aus Arizona und Jacky Rosen aus Nevada kämpfen gegen «Big Pharma». Auch Gallego und Rosen liegen deutlich vorn, Brown kann das Rennen immerhin ausgeglichen gestalten. All diese Rezepte kopiert Harris nun. Warum eine neue Strategie erfinden, wenn diese schon gut funktioniert?

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