Ein Betrieb in Russikon trotzte Wirtschaftskrisen und Weltkriegen. Nun scheitert er an der Inflation – und politischen Unruhen in Westafrika.
Es war einmal vor langer Zeit, da war Zürich Textilhochburg. Entlang der Flüsse drehten sich Wasserräder, die Webstühle surrten, es entstanden Seidentücher, Baumwollbahnen, Brokatballen. Die Webereien und Handelsbetriebe gehörten zu den besten ihres Fachs. Chanel, Dior, Givenchy, alle rissen sich um die Schweizer Fabrikate. Dank der Seide wurde Zürich reich.
Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Das ganze 20. Jahrhundert lang kämpfte die Textilindustrie mit Weltkriegen und Wirtschaftskrisen. Ein Betrieb nach dem anderen verschwand. Bis nur noch einer übrig blieb: die Weberei in Russikon. Nun wird auch sie geschlossen. Ihr letzter Chef, Martin Frick, sagt: «Stoffe aus der Schweiz werden nicht mehr nachgefragt.» Hat die Weberei in Russikon während 135 Jahren allem getrotzt, ist mit ihrem Ende die einst so stolze Zürcher Textilindustrie Geschichte.
3 Millionen Meter exklusiver Damast, von Hand kontrolliert
650 Mal reichen die beiden Greifer der Webmaschine den Faden hin und her, um einen Strang zu weben. Die Bewegungen der Maschine sind so schnell, dass man die einzelnen Griffe mit blossem Auge kaum sieht. Reisst ein Faden, wird er von Hand repariert – es ist Kleinstarbeit. 100 Webmaschinen stehen in der Weberei Russikon, zusammen produzieren sie 3 Millionen Laufmeter Stoff jedes Jahr. Dabei dröhnen sie laut, der Boden der Weberei vibriert.
Die Maschinen der Weberei Russikon sind speziell: Mit ihnen kann man Damast produzieren, einen schweren, glänzenden, teuren Stoff. 500 Millionen Franken erzielt die Weberei damit jährlich.
Dass die Weberei Russikon auf Luxus setzt, ist in der langen Firmengeschichte eine neue Entwicklung – die mit einem Zufall angefangen hat.
Lange Zeit spezialisierte sich die Weberei auf Baumwoll- und Seidenstoffe. Vor allem Seide war gefragt, als der Betrieb 1890 als Weber & Bosshart eröffnet wurde. Damals waren Textilunternehmen noch im Verlagssystem aufgebaut: Bauern, Bäuerinnen und sogar ihre Kinder produzierten zu Hause am Webstuhl Stoffe, die dann vom Textilunternehmer eingesammelt und verkauft wurden. Für die Weberei in Russikon webten Bauernfamilien in Zürich, aber auch solche im Berner Oberland und in der Innerschweiz.
Doch die Industrialisierung setzte der Branche zu. Zuerst entlassen die Unternehmer die Heimarbeiter, um zentraler und effizienter zu arbeiten. Dann geraten die Unternehmen selbst in Bedrängnis.
Die Weltwirtschaftskrise bringt den ersten grossen Abschwung. Gefragt sind in diesen schwierigen Zeiten keine seidenen Luxusprodukte, sondern einfache Baumwollfabrikate. Also orientiert sich Weber & Bosshart neu – und wird zur Baumwollweberei. Aus der Baumwolle von Weber & Bosshart werden exklusive Herrenhemden genäht, arabische Kopfbedeckungen, Schals und Foulards traditioneller nordafrikanischer Baumwollkleidung.
So überlebt Weber & Bosshart das 20. Jahrhundert. An dessen Ende wird der Betrieb mehrmals verkauft, das letzte Mal im Jahr 1996 an das österreichische Textilunternehmen Getzner, das über die Hälfte der Aktien der Weberei kauft. Ab 2007 ist Getzner schliesslich alleiniger Eigentümer.
Als Teil der Getzner-Gruppe produziert die Weberei Russikon erst weiter Baumwollstoffe. Sie wird damit zur letzten Baumwollweberei der Schweiz und platziert ihre Produkte prominent: Die orangen Hemden der Migros-Verkäuferinnen und -Verkäufer wurden einige Jahre lang in Russikon gewebt.
Doch dann erschüttert 2008 die nächste Wirtschaftskrise die Welt. Und wieder muss die Weberei Russikon ihren Kurs ändern.
Aus Russikon nach Mauretanien
Nach Seide und Baumwolle widmet sich die Weberei nun dem Damast. Statt Migros-Verkäufer sollen damit reiche Menschen in Westafrika eingekleidet werden. Entstanden ist die Idee quasi per Zufall: 2002 verkaufte Getzner Restposten von Schweizer Bettwäsche in Westafrika. Das Unternehmen stellte fest, dass daraus schliesslich Kleider genäht wurden – und Westafrika wurde zu einem möglichen Absatzmarkt.
Als während der Wirtschaftskrise die Nachfrage nach Baumwollprodukten einbricht, holt Getzner ein Konzept für die Damastproduktion hervor, das bereits zuvor entwickelt wurde. 2012 baut die Weberei in Russikon zusätzliche Jacquard-Maschinen, mit denen man den Damaststoff weben kann. Die Nachfrage danach ist gross – wenn auch nicht in der Schweiz.
Die Weberei Russikon wird zu einem der exklusivsten Textillieferanten für Senegal, Côte d’Ivoire, Mali oder Nigeria. Damast von Getzner wird in Rosenwasser getränkt und in Österreich von Hand veredelt. In den westafrikanischen Ländern werden aus den glänzenden Stoffen festliche Gewänder genäht, die etwa an Eid al-Fitr getragen werden, dem Fest des Fastenbrechens zum Ende des Ramadans. Ein Boubou, eines der traditionellen Gewänder, kostet umgerechnet zwischen 60 und 200 Franken. Das entspricht in manchen westafrikanischen Ländern einem Monatslohn. Doch der Stoff wird nachgefragt. Die Weberei Russikon landet in Westafrika einen Erfolg.
Aber dieser Erfolg hat einen Preis: Getzner ist komplett regional ausgerichtet, abhängig vom Markt in Westafrika. Für einige Jahre funktioniert diese Strategie der Weberei Russikon gut. Ab 2018 ist die ganze Produktion auf den Export nach Westafrika ausgerichtet, Produkte für die Schweiz gibt es kaum mehr. Die Nachfrage aus Westafrika reicht, und die Weberei Russikon wird zu einem Namen für reiche Senegalesen, Nigerianer, Malier. Als die Wirtschaft in Westafrika jedoch schwächelt, wird es für die Weberei abermals ernst. Und dieses Mal ist es zu spät für einen Kurswechsel.
Die Inflation trifft Westafrika heftig, in manchen Staaten herrschen politische Unruhen. Martin Frick, Verwaltungsratspräsident der Weberei Russikon, sagt: «Das ist ein Klima, in dem die Leute ihr Geld nicht ausgeben, sondern sparen.»
Weil das Geschäftsmodell der Weberei so stark auf Westafrika beruht, brechen die Einnahmen der Weberei mit der Nachfrage in Westafrika ein. Im Herbst 2024 schickt Getzner die Textiltechnologen in Russikon in Kurzarbeit, wenige Wochen später folgt die Nachricht: Die Weberei wird wahrscheinlich schliessen. Bis Ende Januar läuft das Konsultationsverfahren, in dem sich alle 56 Mitarbeiter zu den geplanten Kündigungen äussern können.
Eine Umstellung der Produktion auf andere Stoffe kommt diesmal kaum infrage. Der Verwaltungsratspräsident Frick sagt: «Diese Maschinen sind so spezialisiert, dass wir den gesamten Bestand ersetzen müssten. Das wäre weder nachhaltig noch sinnvoll.»
Schliesslich kämen zu den teuren neuen Maschinen in der Schweiz der teure Franken und die Löhne der Mitarbeitenden, die in der Schweiz höher sind als im Ausland. «Vor allem der starke Franken spielt gegen uns, eine international wettbewerbsfähige Produktion ist nicht möglich», sagt Frick. Deshalb lohne sich die Produktion im Zürcher Oberland nicht mehr.
Lohnkosten, Währungsprobleme, neue Maschinen: Heute haben Textilproduzenten noch andere Probleme als zu jener Zeit, als Baumwollbahnen in nahe gelegenen Bauernstuben gewebt wurden und die Textilproduktion in Zürich zuverlässig Geld brachte.
Mit der Schliessung der Weberei Russikon ist diese Ära endgültig vorbei.