Dienstag, Oktober 15

Immer mehr ausländische Fachkräfte ziehen nach Zürich. Dort finden sie kaum Anschluss. Eine Reportage.

Kurz vor 20 Uhr legt das zweistöckige Partyschiff MS «Helvetia» am Bürkliplatz in der Stadt Zürich an. Am Quai vermischen sich Schweizerdeutsch, Englisch, Spanisch, Hochdeutsch. Unter den Partygästen ist eine Gruppe von Zurich Together, der grössten Expat-Vereinigung der Stadt. An diesem Freitagabend geschieht etwas Ungewöhnliches: Schweizer und Expats feiern gemeinsam in der Stadt.

Beim Einstieg ins Schiff bekommen die 300 Passagiere Kopfhörer in die Hand gedrückt, und es wird bald ruhig an Bord. Es handelt sich um eine «Silent Party». Deshalb kommt die Musik statt aus Lautsprechern über die Kopfhörer.

Schweizer und Expats arbeiten an verschiedenen Orten, wohnen in anderen Quartieren, treffen sich in unterschiedlichen Vereinen. Kommen sie wie auf der MS «Helvetia» einmal zusammen, schotten sie sich mit einem Gehörschutz voneinander ab. Sie leben in Zürich mehr nebeneinander als miteinander. Wieso eigentlich?

Auch die Freunde sind meist Expats

Zürich ist neben Genf die internationalste Stadt der Schweiz, auch wegen der vielen internationalen Fachkräfte, die hier arbeiten und wohnen. Die Zahl der Expats ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen. Jede dritte Person zwischen 26 und 35 Jahren ist inzwischen ein Jahresaufenthalter, wie Statistiken der Stadt Zürich zeigen.

Expats arbeiten bei Tech-Firmen, Pharmakonzernen, bei Banken, im Gesundheitswesen. Sie sind gut gebildet, oft alleinstehend, arbeiten Vollzeit und verdienen in der Regel überdurchschnittlich viel. Wer aus einem Drittstaat kommt, wie zum Beispiel aus Brasilien oder Indien, muss besonders qualifiziert sein, um in der Schweiz zu arbeiten. Die Anzahl der Aufenthaltsbewilligungen ist beschränkt, nur die Besten und Fleissigsten schaffen es.

Die Expats mögen die Schweiz und Zürich. Wäre da nicht das Problem mit der Integration. In einer weltweiten Umfrage des Expat-Netzwerks Internations rühmten sie die Lebensqualität in Zürich, die Sicherheit, die zentrale Lage in Europa. Aber ihnen fällt es schwerer als anderswo, sich einzugliedern. Mehr als die Hälfte gab an, dass ihr Freundeskreis ausschliesslich aus anderen Expats bestehe.

Wandern, feiern, Salsa tanzen

Die MS «Helvetia» hat unterdessen die Schiffstation verlassen und fährt gemächlich über den Zürichsee. Ein Schweizer Paar tanzt auf dem Bug eng umschlungen, seine Kopfhörer leuchten rot. Im Innenraum des Schiffes bildet eine Gruppe von Expats einen Kreis. Sie kommen aus Nepal, England, Indien und gehören zur Expat-Gemeinschaft Zurich Together. Sie treffen sich, um sich in Zürich mehr zu Hause zu fühlen.

Der Brite Ben Crawshaw hat die Expat-Organisation vor sieben Jahren gegründet. Sein Vater arbeitete in den 1990er Jahren für eine Grossbank in Zürich. Die Familie fand Anschluss, Crawshaw besitzt heute den Schweizer Pass. Aber er sagt auch: «Zürich ist eine schwierige Stadt, um Freunde zu gewinnen.» Mit Zurich Together will er einen Wandel anstossen.

Inzwischen ist Zurich Together eine der grössten Communitys der Stadt. Rund 40 000 Personen folgen der Gemeinschaft in den sozialen Netzwerken. Hunderte kommen mehrmals wöchentlich an die Anlässe, treffen sich zum Wandern, Feiern, Salsa-Tanzen, zum Sprachaustausch, zum Skifahren. Die Aktivitäten stehen allen offen, auch Schweizerinnen und Schweizern. Doch Zurich Together bleibt eine riesige Expat-Bubble.

Der Nepalese Suvash, 37, Informatiker, ist seit Beginn bei Zurich Together. Auf der Tanzfläche der MS «Helvetia» wird er von den anderen Expats der Gruppe umringt. Dank dieser Gemeinschaft ist er gut vernetzt, überall kennt er jemanden. Doch Schweizer Freunde hat Suvash kaum, obwohl er seit elf Jahren hier wohnt. Er sagt: «Manchmal frage ich mich schon, was ich falsch mache.»

Suvash gesteht auch ein: Aktiv um Schweizer Freundschaften bemüht habe er sich nicht. Die kulturellen Differenzen empfindet er als gross, in der Expat-Bubble trifft er auf Gleichgesinnte: «Wir Ausländer sind offen, herzlich, spontan, reden viel.» Eigenschaften, die er bei Schweizern und Schweizerinnen manchmal vermisst.

Auf Deutsch einen Kaffee bestellen geht gerade noch

Suvash spricht eine Mischung aus Hochdeutsch und Schweizerdeutsch. Mit anderen Expats redet er meistens Englisch. Weil es anders nicht geht. Er sagt: «Viele schaffen es gerade einmal, auf Deutsch einen Kaffee zu bestellen.»

In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil der Englischsprachigen in der Stadt Zürich von 9 auf 14 Prozent angestiegen. Bei der Arbeit sprechen laut offiziellen Statistiken bereits 40 Prozent regelmässig Englisch, das sind 136 000 Personen. In einer Stadt, in der man in Restaurants und Läden auf Englisch angesprochen wird, ist Deutsch für die gut Qualifizierten nur noch ein «nice to have».

Das stösst auf Unmut. Die Zürcher, so liest und hört man es immer wieder, ärgerten sich über das Englisch, das in der Badi, im Restaurant, auf dem Üetliberg gesprochen werde. Sie klagen über hohe Mieten, gentrifizierte Stadtviertel. Sie fürchten, dass sie in der eigenen Stadt zu Fremden werden.

Die Frage, wie viele Expats eine Stadt verträgt, ist politisch aufgeladen. Die SP wollte 2022 Gelder an die Standortmarketing-Organisation Greater Zurich Area kürzen. Der Vorwurf: Gut situierte Expats nähmen den Schweizerinnen und Schweizern den Wohnraum weg.

Der Kampf um die Wohnungen polarisiert auch auf der MS «Helvetia». Eine Frau am Bartresen findet es zwar «grossartig», dass die Partygäste so international sind. Aber bei der Wohnungssuche kennt ihre Toleranz Grenzen. Sie sagt: «Wir Zürcher brauchen den Wohnraum. Dass so viele Expats an Wohnungsbesichtigungen kommen, macht mich schon ein wenig wütend.»

Ein Problem wie einst die Gastarbeiter

Christof Meier leitet die Integrationsförderung der Stadt Zürich. Er betont, dass sich Expats bemühten, in Zürich Anschluss zu finden, erwähnt neue Projekte, bei denen Schweizer und Expats zusammenkämen, und Unternehmen, die für ihre Mitarbeitenden Deutschkurse anbieten würden.

Ziel der Integrationsarbeit sei es, dass sich alle am Stadtleben beteiligten, sagt Meier. Für ihn spricht nichts dagegen, dass es Bubbles wie Zurich Together gibt – solange sich Expats auch ausserhalb der Gruppe einbringen, zum Beispiel Mitglied eines Sportvereins sind.

Doch die Integration der Expats bleibt eine Herausforderung, sie beruht auf Freiwilligkeit. Meier sagt: «Jemanden, der Sozialhilfe bezieht, können wir zu einem Deutschkurs verpflichten. Bei Expats hingegen können wir nur mit Anreizen arbeiten.» Oder anders formuliert: Entzieht sich ein Expat der Integration, kann die Stadt nur zuschauen. In Zeiten von Fachkräftemangel sind Expats die privilegierten Ausländer.

Meier warnt davor, dass bei den Expats das Gleiche passiert wie mit der ersten Generation von südeuropäischen Gastarbeitern. Viele von ihnen blieben in der Schweiz, wider Erwarten. Deutsch hatten sie nie gelernt; sie sind Fremde in der Schweiz geblieben.

Auf dem Bug der MS «Helvetia» trinkt ein Mann mit grauen Haaren und einem neonfarbigen Shirt ein Bier. Er stellt sich als Martin vor. Seit fünf Jahren arbeite er als Marketingexperte in Zürich, sagt er auf Englisch mit britischem Akzent. «Ich hätte Deutsch lernen sollen, aber als ich hierherkam, hätte ich nie gedacht, dass ich so lange bleiben würde.»

Neben ihm trällert eine Frau «Empire State of Mind» von Alicia Keys: «Now you’re in New York, these streets will make you feel brand new, let’s hear it for New York». New York, Paris, Singapur oder vielleicht doch noch Zürich – wer weiss, wo man nächstes Jahr ist.

Freunde fürs Leben

Auf der MS «Helvetia» tanzen nun Expats gemeinsam mit Schweizern Polonaise, sie singen schräg zur Musik aus den Kopfhörern. Etwas abseits steht eine junge Frau. Sie heisst Anna, ist aus Polen und arbeitet in der Pharmaindustrie.

Anna erzählt von schwierigen Zeiten: «Wenn man in Zürich lebt und für ein internationales Unternehmen arbeitet, trifft man kaum auf Schweizer. Man lebt in einer Bubble. Das ist manchmal beängstigend, denn wie kann man sich so ein Zuhause aufbauen? Was verbindet dich mit hier?» Doch sie gibt nicht auf, sie will bleiben, denn es gefällt ihr hier. Sie sagt: «Wenn man in der Schweiz eine Freundschaft schliesst, ist es eine fürs Leben.»

Es ist kurz vor Mitternacht, die MS «Helvetia» legt wieder am Bürkliplatz an. Am Schiffssteg steht Suvash und verteilt Tickets. Es sind Gratiseintritte für eine Expat-Party, diesmal ohne Kopfhörer. Alle sind eingeladen.

Exit mobile version