Mittwoch, Oktober 2

Drei Viertel des Zürcher Stadtgebiets sind inventarisiert. Das ist zu viel des Guten.

Die Schweizer Bevölkerung wächst, die 10-Millionen-Marke liegt in Reichweite. Der Bedarf an zusätzlichem Wohnraum sowie an energetischer Optimierung führt vor allem in den Städten dazu, dass sich das Ortsbild verändert.

Dem gegenüber steht das Bedürfnis, wichtige bauliche Zeitzeugen für die Zukunft zu erhalten. Im Bundesinventar für schützenswerte Ortsbilder der Schweiz (Isos) sind, wie der Name schon sagt, solche Gebiete definiert.

Daran ist per se nichts auszusetzen. Am Beispiel der Stadt Zürich zeigt sich aber, was passiert, wenn die Inventarisierung über das Ziel hinausschiesst. Zürcherinnen und Zürcher wissen natürlich, dass die Limmatstadt die schönste Stadt der Schweiz ist. Aber dass mehr als drei Viertel des Stadtgebiets im Isos verzeichnet sind, scheint doch arg übertrieben.

Die Konsequenzen, die mit den grossflächigen Schutzgebieten einhergehen, sind zudem entweder nicht zu Ende gedacht oder wurden schlicht unterschätzt.

Denn wie sich immer mehr zeigt, bietet das Isos ein Einfallstor für Rekurse. Nun zeichnet sich auf Bundesebene endlich eine Lockerung des Lärmschutzes ab, und just zu diesem Zeitpunkt wird der Ortsbildschutz zum beliebten Blockade-Instrument für Rekurrenten, die missliebige Bauvorhaben bekämpfen wollen.

Aus den Rekursen erwachsen gerichtliche Leitentscheide, welche die Handhabe des Isos weiter erschweren. Etwa indem sie Bundesaufgaben definieren. Liegt ein Bauvorhaben in einem inventarisierten Gebiet und tangiert zudem eine Bundesaufgabe, kommt es zur Direktanwendung des Isos.

Die Liste der Bundesaufgaben umfasst inzwischen viele Themen. Bei einigen ist der Zusammenhang mit dem Ortsbildschutz nachvollziehbar: Solarpanels und Mobilfunkanlagen sind sichtbar und können das Ortsbild verändern. Anders ist es etwa beim Gewässerschutz oder bei Luftschutzkellern. Da ist der Zusammenhang gesucht und nicht sinnvoll.

Widerspruch zu den raumplanerischen Zielen

Gerade der Gewässerschutz löst bei einer Vielzahl der jährlich rund 4000 Stadtzürcher Baugesuche eine Direktanwendung aus. Die Böden sind vielerorts feucht, für Fundamente müssen Pfähle eingeschlagen werden, die das Grundwasser tangieren können.

Für die Bauwilligen bedeutet das eine grosse Verzögerung oder gar das Ende des Projekts. Denn bei der Isos-Direktanwendung muss zuerst der Kanton prüfen, ob das vorliegende Bauprojekt das Ortsbild beeinflusst. Ist das auch nur möglicherweise der Fall, muss entweder das Projekt angepasst werden. Oder aber das Baugesuch wird Kommissionen auf Bundesebene zur Beurteilung unterbreitet.

Wie viel Zeit diese Abwägungen kosten, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Vor allem aber geschieht die Beurteilung nicht mit den lokalen Interessen im Fokus, sondern rein aus nationaler, denkmalpflegerischer Sicht. Das ist ein Missstand, der behoben gehört. Alles andere wäre verheerend, insbesondere in Zeiten, in denen der Zürcher Wohnungsmarkt nach Entlastung und zusätzlichem Wohnraum lechzt.

In Sachen Ortsbildschutz ist Bund und Gerichten der gesunde Menschenverstand abhandengekommen. Mit nostalgischer Begeisterung für Architektur und Geschichte wird auf Vorrat geschützt – auch an Orten, an denen es nicht zielführend ist. Fast alle für Verdichtung und Wachstum ausgewiesenen Gebiete in der Stadt Zürich sind inventarisiert. Raumplanerische Ziele werden ausgehebelt. Der Blick aufs grosse Ganze fehlt. Die Bundespolitik muss schleunigst nachbessern.

Die mit Wachstum einhergehenden raumplanerischen und denkmalpflegerischen Herausforderungen bilden zweifellos ein komplexes Spannungsfeld. Ganz besonders in den Städten. Umso mehr sind pragmatische Lösungen gefragt, die den heutigen Bedürfnissen und Zielen Rechnung tragen.

Der grundsätzliche Entscheid gegen die Zersiedelung und für die Verdichtung ist in der Raumplanung festgehalten. Explizit für verdichtetes Bauen ausgewiesene Gebiete sollten daher möglichst nicht inventarisiert sein. Zürich ist kein Ballenberg – Entwicklung und Veränderung liegen in der Natur der Städte. Es ist Teil ihres Charmes, dass sie sich nicht unter einer Glasglocke bewahren lassen.

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