Montag, November 25

Keinen Autoverkehr mehr am Bahnhofplatz, kein Tram mehr an der Löwenstrasse, dafür viel Grün: Was ist von diesen Ideen zu halten?

Christian Schmid ist ein kritischer Beobachter städtebaulicher Projekte. Die Stadt Zürich ist nicht sein einziges, aber eines seiner liebsten Forschungsobjekte. Schmid, Jahrgang 1958, ist Geograf und Soziologe. Er war als Video-Aktivist, Kulturveranstalter und Stadtforscher tätig und arbeitete unter anderem im Kulturzentrum Rote Fabrik in Zürich.

Schmid hat zahlreiche Schriften zur Stadtentwicklung Zürichs und zur international vergleichenden Analyse der Urbanisierung verfasst. Wissenschaftlich hat er unter anderem mit Alt-Stadtrat Richard Wolff (AL) zusammengearbeitet. Seit 2001 ist er Dozent für Soziologie und seit 2009 Titularprofessor am Departement Architektur der ETH Zürich.

Herr Schmid, die Stadt plant am Hauptbahnhof den umfassenden Umbau. Die Pläne, die die NZZ publik gemacht hat, stossen vielerorts auf Unverständnis. Können Sie uns erklären, warum eine Stadt eine derartige Planung überhaupt an die Hand nimmt?

Es ist die Aufgabe einer vorausschauenden Stadtentwicklung, sich Gedanken zu neuralgischen Punkten zu machen und die Debatte darüber anzustossen, wie wir unsere Stadt gestalten wollen. Ein Schönheitsfehler ist es natürlich, dass die Pläne bekanntwurden, bevor sie fertig ausgearbeitet sind. Noch während die Stadtbehörden daran arbeiten, werden sie von manchen bereits in der Luft zerrissen.

Der Autoverkehr soll verbannt, Tramlinien verlegt und Grünflächen im grossen Stil angelegt werden. Sind die Pläne gut oder schlecht?

Für mich ist es schwer nachvollziehbar, warum die zentralste Lage der Stadt zu einer Flaniermeile werden soll. Flanieren kann man in Zürich am See oder auch am Limmatquai. Unklar ist aus meiner Sicht auch, was auf dem freigespielten Bahnhofplatz entstehen soll. Die Autos sollen weg, zum Teil auch die Trams – und dann soll eine Art Einkaufsparadies entstehen? Ist das wirklich urbane Qualität?

Was stört Sie daran?

Ich sehe viel Grün und leere Räume. Ich befürchte, dass es recht langweilig wird.

Auf «grün» und «flanieren» läuft es eigentlich immer hinaus, wenn die Stadt Zürich derzeit plant. Warum?

Wahrscheinlich, weil man denkt, dies sei nicht kontrovers. Grün ist angesagt, es gefällt allen, und aufgrund der Klimaerwärmung sind Massnahmen gegen die innerstädtischen Hitzeinseln ja auch wichtig. Ursprünglich plante die Stadt ja sogar, das Globus-Provisorium mit einem Park zu ersetzen. Das wurde nach massiver Kritik aus Architekturkreisen dann wieder fallengelassen. Aus städtebaulicher Sicht gibt es am Hauptbahnhof wenige Gründe für diese Stossrichtung.

Weshalb nicht?

Wir befinden uns im Zentrum Zürichs, und ein Zentrum soll pulsieren. Es braucht Leute auf der Strasse, die sich treffen, sich austauschen. Ein städtischer Raum braucht Möglichkeiten zur Interaktion. Der Bahnhofplatz als grosse Flaniermeile hingegen ist das Gegenteil. Die Visualisierungen, die man gesehen hat, strahlen eine merkwürdige Leere aus. Muss es immer so domestiziert sein? Es gäbe ja auch aufregendes Grün.

Ist denn der heutige Zustand wirklich so schlecht? Ja, es hat viel Verkehr. Aber das erwartet man doch auch am wichtigsten Bahnhof der Schweiz mit 400 000 Pendlern pro Tag.

Dass man Verkehrsströme entflechten möchte und intelligentere Lösungen sucht, finde ich richtig. Aber es gibt Orte, wo der Autoverkehr dazugehört. Am HB ist beispielsweise die Erschliessung durch Taxis wichtig.

Die Autos werden einfach weggedacht, ohne dass geklärt wäre, wohin sich der Verkehr verlagern liesse. Kann das aufgehen?

Wenn die Autos hier nicht mehr fahren, wo fahren sie dann? Ich kann das Vorgehen der Stadt nur beschränkt beurteilen, aber ich nehme eigentlich an, dass sie das neue Verkehrsregime mit Verkehrssimulationen berechnet hat. Allerdings ist autofrei an sich ja keine Qualität. Wenn man schon die Autos wegplant, dann müsste man doch überzeugende Ideen vorlegen und aufzeigen, warum so ein wirklich spannender Ort entsteht. Das sehe ich im Moment nicht.

Müsste am Hauptbahnhof die Mobilität über allem stehen?

Der Verkehrsanschluss ist wichtig, keine Frage. Warum man manche Gebiete tramfrei machen will, ist für mich nicht klar. Was ist ein Tram? Aus Sicht der Verkehrsplanung ist es ein Hindernis – für Autos, für Velos, auch für Fussgängerinnen. Aber das Tram hat auch Vorzüge – es kann Urbanität generieren: Es bewegt viele Menschen gleichzeitig, es bringt einen ständigen Strom von Leuten mit sich, die den urbanen Raum beleben. Urbanität ist auch eine Frage der Personendichte. Ein Tram bietet zudem eine viel bessere Orientierung als ein Bus. Anhand der Schienenstränge lässt sich erkennen, wo die Linien durchführen. Man kann eine Stadt dadurch viel besser lesen.

Was halten Sie vom tramfreien Löwenplatz?

Es wäre zweifellos ein Verlust für die Löwenstrasse. Heute steigt man dort aus und geht in den Globus oder Richtung Bahnhofstrasse. Ohne Tram wäre sie ziemlich leer. Denn es gibt wenige Gründe, auf der Löwenstrasse zu flanieren. Sie ist nicht der Limmatquai, sondern eine eher anonyme Geschäftsstrasse mit wenigen Attraktionen. Die Idee, das Tram stattdessen zum Europaplatz und zum dortigen Eingang zum HB zu führen, ist nicht neu – aber sie bringt kaum städtebaulichen Gewinn.

Und wie beurteilen Sie das Central? Es soll zur reinen Tram-Kreuzung werden. Mehrere Haltestellen sollen verschoben werden, unter anderem auf die Bahnhofbrücke.

Das Central ist eine fast unlösbare Frage. Aber wieso muss immer alles gelöst sein?

Es heisst, man wolle die Verkehrsströme dort entflechten.

Das Central wirkt heute unordentlich, und dass man den Verkehr anders organisieren will, ist nachvollziehbar. Vielleicht hat eine Haltestelle auf der Bahnhofbrücke Vorteile. Aber auch hier hätten wir am Schluss einen Platz ohne Leute. Jeder, der am Central schon einmal auf das Tram warten musste, weiss, was das Central ist. Dieser Ort hat Charakter. Die Alternative wäre eine kalte, funktionalistische Lösung ohne klaren Mehrwert.

Charakter ist Ihnen wichtiger als die ideale Planung?

Ja sicher! Ich kritisiere seit Jahren den Swiss Finish in unseren Städten. Wir haben viele Interviews gemacht mit Leuten in Neubauquartieren, beispielsweise in Neu-Oerlikon oder an der Europaallee. Der Satz «Es ist so kalt hier» ist immer wieder gefallen. Die Aussage ist wörtlich zu nehmen: Eine perfekte Planung lässt uns emotional kalt.

Und das erkennen Sie auch am HB?

Auf diesen Visualisierungen und Plänen sehe ich nichts, was Spass macht. Diese Bilder sind entlarvend, sie haben etwas Sedierendes. In diesem Raum passiert nichts. Es gab in der Architektur die grosse Debatte über den funktionalen Städtebau der sechziger Jahre, dem man genau diese Kritik ebenfalls vorgehalten hat – die Urbanität geht verloren. Heute haben wir wieder einen Funktionalismus, einen, der grün und distanziert daherkommt. Aber gelungene Stadtplanung hat viel mit Emotionen zu tun, die wir in einem städtischen Umfeld erleben wollen, mit Begegnung, mit Überraschungen. Man muss sich diese Räume aneignen können, sie beeinflussen und mitgestalten können. Es darf nicht alles durchgeplant sein.

Was läuft Ihrer Ansicht nach falsch?

Die Stadt hat hier nur eine sehr kleine Zahl von Architekturteams eingeladen. Dazu wurde noch eine sogenannte Begleitgruppe in den Prozess integriert, die aber die Bedürfnisse der Leute kaum abbilden kann. Die Zahl der Beteiligten an diesem Prozess ist effektiv sehr gering.

Ein Planungsprozess ist immer schwierig. Man will die Leute einbeziehen – aber engagieren sich die richtigen? Und am Schluss entscheidet ja doch der Stadtrat.

Ja, aber man könnte den kreativen Prozess von Anfang an viel breiter und offener anlegen. Zum Beispiel mit einem Ideenwettbewerb, der es erlaubte, den Horizont für neue Sichtweisen zu öffnen. Die Erfahrung zeigt, dass so rasch viele überraschende Vorschläge zusammenkommen, aus denen man dann schöpfen könnte.

Welche Idee würde Sie denn am HB überzeugen?

Es müssten Nutzungen sein, die die Leute zusammenbringen, Nutzungen, die nicht kommerziell sind und allen offenstehen. Orte, wo man sich zwanglos treffen kann.

Was heisst das konkret?

Es wäre nicht angebracht, wenn ich nun eigene Vorschläge einbrächte. Aber ich kann ein Beispiel nennen, wo es gelungen ist: den MFO-Park beim Bahnhof Oerlikon. Dort war man mutig. Man hat statt eines Platzes ein begehbares, von Pflanzen bewachsenes Gerüst gebaut, eine Art vertikalen Park, der Begegnungsorte und Rückzugsräume bietet. Von all den neu gebauten Pärken in Zürich Nord war er der einzige, der bei den Leuten etwas ausgelöst hat. Solche Beispiele sind viel zu selten. Die Stadt hat grosse Angst vor Wagnissen und auch vor öffentlichen Diskussionen.

Wenn grosse Pläne wie am HB vorgestellt werden, heisst es gerne, sie liessen sich vielleicht nicht komplett verwirklichen, aber gäben wichtige Denkanstösse. Ist das glaubhaft?

Ich denke schon. Ich gehe eigentlich davon aus, dass die Stadt diese Planung nicht eins zu eins umsetzen wird. Man wird sie aber auch nicht in Bausch und Bogen verwerfen. Es dürfte ein Flickwerk werden. Das ist auch gut so.

Der Stadtrat will demnächst eine Masterplanung verabschieden. Dann ist die Richtung doch klar vorgegeben.

Davon muss man ausgehen. Man hat viel in die Planung investiert und will sie umsetzen. Aber dann läuft der Stadtrat womöglich Gefahr, dass die Stimmbevölkerung am Ende Nein sagt. Es gibt am HB keinen zwingenden Grund, etwas zu ändern. Ohne eine begeisternde Idee ist es gut möglich, dass sich am Schluss die Widerstände kumulieren: von jenen, die das Tram nicht verlegen wollen, jenen, die sich bessere Taxistandplätze wünschen, und so weiter. Mich dünkt das Projekt bis anhin nicht überzeugend. Ich hoffe, dass es eine breitere und vor allem lustvollere Diskussion über die Gestaltung am Hauptbahnhof gibt. Und Pläne, die mehr Spass machen als die jetzigen.

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