Dienstag, April 22

Protokoll eines aussergewöhnlichen Frühlingsfests.

Ein letztes Mal an diesem Abend wird noch einmal tapfer ein Marsch gespielt. So, als wäre es wie immer. Kurz vor halb acht am Montag leert sich der Sechseläutenplatz in der Stadt Zürich langsam, feierlich soll es zu und her gehen. Aber an diesem Sechseläuten ist alles anders. Davon zeugt der Böögg auf dem Scheiterhaufen, der noch immer dasteht.

Er konnte nicht abgebrannt werden. Zu stark ist der Wind, der am Nachmittag aufkommt. Erst ist es nur ein Gerücht, das auf dem Sechseläutenplatz umgeht: Bei Windböen um 80 Kilometer pro Stunde darf der Scheiterhaufen nicht angezündet werden. Zu gefährlich. Schliesslich stehen nur wenige Meter entfernt Tausende Zuschauer, Reitergruppen der Zünfte sollen mit ihren Pferden um die Holzkonstruktion galoppieren.

Das ist nicht ungefährlich. Im Schneemann hat der Böögg-Bauer unzählige Feuerwerkskörper eingebaut. Im Böögg stecken 100 Knaller, am Fundament 40, und im Kopf liegt der grösste Knallkörper. Nicht auszudenken, was passiert, wenn ein Böller in die falsche Richtung fliegt.

Kurz vor 18 Uhr – dann sollte der Scheiterhaufen angezündet werden – ist es definitiv: Das Verbrennen des Bööggs ist abgesagt, aus Sicherheitsgründen, wie der Mediensprecher Victor Rosser sagt. Doch das bekommen viele Zuschauerinnen und Zuschauer auf dem Sechseläutenplatz gar nicht mit. Ein paar Minuten Verspätung, he nu. Erst als die Zeit verstreicht, dämmert es ihnen langsam: Das wird nichts an diesem Montag. Der Wind war stärker, zum ersten Mal in der Geschichte des Sechseläutens.

Dabei kennt das Zürcher Frühlingsfest durchaus Pleiten, Pech und Pannen.

Vor über hundert Jahren wird mit dem Böögg Schabernack getrieben: 1921 zündet ein Bub den Scheiterhaufen am Sechseläuten-Montag bereits um 13 Uhr 30 an. Angeblich wurde er von Kommunisten angestiftet.

Zwei Jahre später ist es der Regen, der dem Schneemann den Garaus macht. Es ist so nass, dass das Sechseläuten buchstäblich ins Wasser fällt.

Während des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1944, wird der Sechseläutenplatz zum Gemüseacker umfunktioniert – und das Frühlingsfest wird in den Hafen Enge verlegt. Dort kommt es zu einem Unglück: Der Böögg kippt in den See.

Und im Jahr 2006 wird der Böögg entführt. Die Gruppierung «1. Mai – Strasse frei» stiehlt ihn aus der Werkstatt des damaligen Böögg-Bauers in Stäfa. Später wird er im Keller des Kanzleischulhauses beim Helvetiaplatz entdeckt, «befreit» und in die Stadtgärtnerei gebracht. Wenig später wird er noch einmal gestohlen. Das Sechseläuten kann trotzdem stattfinden – mit einem Ersatz-Schneemann.

Zürichs Frühlingsfest ist also krisenerprobt. Während der Pandemie konnte es zweimal hintereinander gar nicht erst durchgeführt werden. Am Montag kann immerhin der Zug der Zünfte wie gewohnt stattfinden, einzig ein Störmanöver von Umweltaktivisten sorgt kurz für Unruhe: Sie übergiessen sich auf der Bahnhofstrasse mit blauer Farbe.

Nach der Absage der Böögg-Verbrennung ist die Enttäuschung bei den Veranstaltern riesig. Der Böögg-Bauer Lukas Meier sagt den Tamedia-Zeitungen: «Ich könnte heulen.»

Besonders bitter ist das abgesagte Fest für die Vertreterinnen und Vertreter aus dem Gastkanton Appenzell Ausserrhoden. Die Ausserrhoder waren schon mehrmals eingeladen worden, doch es wurde jeweils nichts aus der Teilnahme, zuletzt wegen Corona. Und jetzt das.

Der Ausserrhoder Landammann Yves Noël Balmer gibt sich am Telefon betrübt: «Es ist natürlich eine bittere Botschaft, dass diese Entscheidung so gefallen ist. Für mich als Landammann wäre es eine riesige Ehre gewesen, bei der Böögg-Verbrennung dabei zu sein. Doch die Sicherheit geht vor.»

Klar ist aber auch: Die angereisten Gäste wollen einen Plan B. Einfach so auf ihren Böögg verzichten, das geht nicht. Denn braucht es nicht eine Prognose darüber, wie der Sommer wird? Je kürzer die Brenndauer des Schneemanns, desto schöner werde der Sommer, heisst es schliesslich im Volksmund. Und diese Prognose soll es geben, da sind sich die Ausserrhoder schnell einig. Der Böögg kennt sich ja aus auf fremdem Terrain, im Pandemie-Jahr 2021 wurde er in der Schöllenenschlucht im Kanton Uri verbrannt. Nach 12 Minuten und 57 Sekunden fällt sein Kopf.

Noch am Montagabend sagt der Ausserrhoder Landammann Balmer deshalb zur NZZ: «Dass der Böögg auf Ausserrhoder Boden verbrannt wird, ist mehr oder weniger beschlossene Sache.» Wann und wo, werde bald kommuniziert. Das Sechseläuten will sich Balmer derweil nicht verderben lassen: Er freut sich auf den Abend mit der Zunft zur Gerwe und der Zunft zur Schuhmachern.

Als die Sonne untergeht, leert sich der Sechseläutenplatz langsam. Die Organisatoren des Sechseläutens haben Absperrgitter rund um den Scheiterhaufen gezogen. Er wird von Sicherheitspersonal überwacht. Ein Kran hebt den mit Böllern vollbepackten Böögg vorsichtig von seinem Thron. Die Arbeiten müssen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen vorgenommen werden, der Wind weht noch immer heftig.

So ein Sechseläuten hat Zürich noch nie erlebt. Und wird es gerade deshalb nicht so schnell vergessen.

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