Donnerstag, November 28

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Von der Züri-Metzgete bis zum Sechstagerennen – lange traf sich in Zürich die Weltelite des Radsports. Trotzdem standen Rennen wie auch Rennbahnen immer wieder vor dem Scheitern. Ein Blick zurück.

Hans Knecht litt auf Zürichs Strassen Höllenqualen. In der NZZ vom 2. September 1946 schildert der erste Schweizer Strassenweltmeister bei den Profis, wie er in der Schlussphase des WM-Rennens bei Regen und Kälte fürchtete, vom Belgier Marcel Kint überspurtet zu werden. «Aber er kam nicht, trotzdem ich sehr verkrampft fahren musste, da ich mit den steif gewordenen Fingern aus Versehen die grösste Übersetzung eingeschaltet hatte.» In seiner Autobiografie spitzt Knecht das Duell später zu: «Vor mir das Ziel, hinter mir Kint oder der Tod.»

Die Rad-Weltmeisterschaften 1946 fanden nicht zufällig in der Schweiz statt. Das Land bot für die ersten Titelkämpfe nach der siebenjährigen Kriegspause intakte Strassen sowie ein gutes Preisgeld. Doch das war nicht alles: Zürich und das Velo verband damals noch eine innige Liebe, eine leidenschaftliche und manchmal komplizierte. Die Mitte des 20. Jahrhunderts war aus Sicht des Schweizer Radsports eine prägende Phase. In diesen Jahren drehte sich alles um die Zürcher Ferdy Kübler und Hugo Koblet, diese grossen Fahrer und ebenso grossen Rivalen, die die Velofreunde in zwei Lager teilten – und gleichzeitig in ihrer Radsport-Euphorie einten.

Kübler und Koblet drückten ihre Namen dem Weltradsport auf, als einzige Schweizer Sieger der Tour de France. Doch sie hinterliessen ihre Spuren auch in den Wettkämpfen, die Zürich zur Velostadt machten: an der Züri-Metzgete, dem berüchtigten Eintagesrennen; auf der offenen Rennbahn Oerlikon; an den Sechstagerennen im Hallenstadion; und an der Tour de Suisse.

Der Schmelztiegel des Schweizer Radsports zu jener Zeit war die offene Rennbahn. Die NZZ schrieb im September 1946: «Wenn es eines Beweises für die Popularität des Radsports bedurft hätte, dann wäre er heute erbracht worden. Trotzdem das herrliche Wetter zu Spaziergängen in die Umgebung der Stadt verleitete, fanden sich etwa 10 000 Zuschauer auf der Rennbahn Oerlikon ein.»

Das Bauwerk hatte 1912 die Radrennbahn Hardau beim Albisriederplatz abgelöst. Dort fanden am Wochenende und später auch abends unter der Woche Bahnrennen statt. Anfangs schnödeten die Stadtzürcher, «die Traversierung des unwirtlichen Milchbucks» ins damals noch eigenständige Dorf Oerlikon würde «dem Publikumsaufmarsch enge Grenzen setzen», wie es im Jubiläumsbuch heisst.

Doch die Rennen wurden rasch ein Erfolg, die Bahn als Europas schnellste Piste berühmt. Achtmal war die 333,333 Meter lange Runde Schauplatz von Weltmeisterschaften. Und doch stand die Rennbahn immer wieder vor dem Aus, vor dem Abriss, die Betreiber vor dem Konkurs. Aber es fand sich immer wieder eine Lösung. So ziehen Radsport-Enthusiasten auch heute bei trockenem Wetter im Sommer noch über den Milchbuck – manchmal sind es ein paar Dutzend, manchmal ein paar Hundert –, um in der ältesten noch bestehenden Schweizer Sommersportanlage den Dienstagabendrennen zuzuschauen.

Dann sitzt man im Innenraum und schaut den Fahrern nach, bis einem schwindlig wird. Und lauscht den Geschichten der älteren Besucher über vergangene Duelle. Oder man sitzt ganz oben über der Kurve auf den Betonstufen. Beobachtet die dunklen Wolken, die sich über den Flutlichtern zusammenballen, und hofft, der Regen möge sich noch bis nach dem letzten Rennen gedulden.

Eine überdachte Rennbahn? Nein, es folgte das Hallenstadion

Dass die Spannbeton-Piste bei Regen nicht befahren werden kann, stellte die Veranstalter schon vor hundert Jahren vor Probleme. Sie setzten sich für eine überdachte Rennbahn ein. Diese kam zwar nicht zustande, die Idee war aber mit ausschlaggebend für den Bau des Hallenstadions neben der Rennbahn. Die damals grösste Sporthalle Europas wurde 1939 eingeweiht und beherbergte die legendäre Holzbahn, die bis zum Umbau des Stadions 2004 Bestand hatte.

Die NZZ war vom ersten Radrennen im November 1939 beeindruckt: «Der Sieger Hermann Ganz durchmass die letzte Runde mit einem Durchschnitt von fast 58 Kilometern, der ein gutes Zeugnis für die Schnelligkeit der Bahn ist . . . Die Trommelfelle zarter Ohren zu sprengen aber drohte das Geheul der Motoren im Hexenkessel der Steherrennen . . .»

Das Knattern und Rauchen der Motorräder, in deren Windschatten die Velofahrer kämpften, machte aber einen Teil der Faszination der Rennen aus. 1954 kam endlich das erste Sechstagerennen in Zürich vor 60 000 Zuschauern zur Austragung, am Schlusstag entwickelte sich zwischen den Duos Hugo Koblet / Armin von Büren und Jean Roth / Walter Bucher ein packendes Duell um den Sieg. Oder ein unfaires?

Die Ausgangslage vor dem Schlusstag präsentierte sich so: Die damaligen Radsportstars Koblet und van Büren lagen eine Runde hinter Roth und Bucher. Täglich gab es eine mehrstündige Rennpause sowie eine neutrale Phase zwischen 17 und 19 Uhr, in der nur ein Fahrer auf der Bahn sein musste. Gemäss einem ungeschriebenen Gesetz wurde dann nicht angegriffen. Eigentlich. Als Bucher aber in der Massage weilte, forcierten Koblet und von Büren plötzlich und fuhren einen Rundengewinn heraus. In den verbleibenden Stunden versuchten Roth und Bucher, doch noch zu gewinnen – vergeblich.

In Zürich gab es damals noch eine Polizeistunde. Freunde der Nacht mussten sich deswegen ans Sechstagerennen stehlen; der Sport war für einen Teil des Publikums nebensächlich, das Hallenstadion bot bis in die frühen Morgenstunden eine verrucht-verrauchte Zuflucht. In einem Beitrag des früheren «Freitagsmagazins» von SRF zur Austragung im Jahr 1961 heisst es aus Sicht des Sechstagerennens: «Wünschen Sie einmal die Freiheit so zu geniessen, wie sie die Verfassung nicht definiert? Wollen Sie es denen einmal zeigen, die ständig behaupten, der Schweizer habe keine ungestillten Bedürfnisse mehr und trete die Mühle mit selbstgefälliger Zufriedenheit? Dann kommen Sie zu uns . . .»

Die Gemengelage aus Hochleistungssport und Nachtklub war explosiv in jenem Jahr, der Anlass artete in eine Schlägerei zwischen den Zuschauern, Zuhältern, Prostituierten und der Polizei aus. Es flogen Stühle, Gläser und Flaschen durchs Hallenstadion, das Rennen war für anderthalb Stunden unterbrochen, bis die Polizei mithilfe von Wasserschläuchen für Ordnung sorgte.

Mit den Jahren kamen weniger Zuschauer an die Rennen, obwohl es aus Schweizer Sicht viel zu feiern gab: Bruno Risi und Kurt Betschart etwa waren mit sieben ersten Plätzen Rekordsieger und Publikumslieblinge. Doch 2001 war nach insgesamt 400 Radsportanlässen Schluss. Der Versuch, das Sechstagerennen auf vier Tage verkürzt und mit einer gemieteten Bahn im umgebauten Hallenstadion nochmals aufleben zu lassen, wurde nach wenigen Austragungen aufgegeben.

Das Who’s who der Radsportwelt an der Metzgete

Anfang des neuen Jahrtausends war auch die Zeit, in der ein anderes Zürcher Velospektakel allmählich sein Ende fand – ein Spektakel der Strasse, nicht der Bahn: die Züri-Metzgete. Sie gab es schon zwei Jahre länger als die Offene Rennbahn Oerlikon, 1910 schickte der Velo-Club Westfalen 76 Fahrer in Schwamendingen auf den Rennkurs der «Meisterschaft von Zürich», um die leere Vereinskasse zu füllen. Das Rennen weckte wie erhofft die Neugier aller Bevölkerungsschichten. So steht es im Jubiläumsbuch. Anwesend waren «Herren mit steifen Hüten, Stehkrägen und breiten Uhrenketten, Damen mit knöchellangen Röcken und farbenfrohen Schirmen».

Die knapp hundert Jahre lange Geschichte des Eintagesrennens ist geprägt von der Diskrepanz zwischen der sportlichen Bedeutung und den organisatorischen Schwierigkeiten. Auf der Strasse war das Rennen eine Erfolgsgeschichte, gar ein heimlicher Anwärter für das Prädikat des sechsten Monuments des Radsports, neben Classiques wie Paris–Roubaix oder der Lombardei-Rundfahrt.

Lance Armstrong lobte das Rennen im «Blick» einmal als «das beste Rennen der Welt . . . Der herrliche Parcours auf den schönen Strassen verlangt ein Spiel mit der Taktik.» Das war zu einer Zeit, als man ein Kompliment aus Armstrongs Mund noch gerne hörte.

Praktisch alle grossen Radfahrer der Welt starteten irgendwann in ihrer Karriere in Zürich, viele gewannen die Metzgete, die im Volksmund wohl so hiess, weil die Naturstrassen in den Anfangsjahren für viele Stürze sorgten und sie die Profis blutig zurückliessen. Natürlich siegten Ferdy Kübler und Hugo Koblet, später Beat Breu, aber auch internationale Stars wie Gino Bartali oder Johan Museeuw.

Die Strecke wurde über die Jahrzehnte immer wieder verändert; ein Muss blieben aber kurze, giftige Steigungen im Zürcher Umland, die die Fahrer mit den schlechten Beinen im Rennverlauf aussortierten. Zu den legendärsten dieser Rampen gehörte der Siglistorfer mit bis zu 18 Prozent Steigung. Die Zuschauer stiessen die Fahrer dort gerne den Berg hoch. Nach dem Rennen 1942 schritten die Veranstalter schliesslich ein. Im Jahr darauf trugen die Fahrer auf dem Rücken einen Zettel mit dem Aufdruck: «Warnung! Das Schieben oder Stossen der Rennfahrer ist strengstens verboten. Die Fahrer werden unnachsichtlich bestraft.»

Der Reifenmangel während des Zweiten Weltkriegs

Die Züri-Metzgete machte vieles mit: Während des Zweiten Weltkriegs fand sie zwar statt, allerdings mit einer Längenbeschränkung wegen Benzinmangels. Auch das Teilnehmerfeld war aufgrund des Reifenmangels kleiner als üblich.

1968 war die Züri-Metzgete erstmals ein Coupe du Monde, ein Weltcup-Rennen, was für den austragenden RV Zürich ein finanzieller Kraftakt war, insgesamt 64 150 Franken. Die NZZ zeigte sich ob der Leistungen der gutbezahlten «Herren Berufsfahrer» nicht sonderlich beeindruckt und fragte sich, ob sich der Aufwand gelohnt habe. «Bevor man über eine mangelnde Unterstützung des professionellen Sportes jammert, sollte man sich doch bewusst sein, dass noch niemand gezwungen wurde, diesen Beruf zu ergreifen . . . Aber was will man, wenn sich das Publikum in erster Linie für die Namen interessiert?»

Die Meisterschaft von Zürich kämpfte in ihrer Geschichte aber mehr mit Geldproblemen als mit unmotivierten Profis. Mehrere Male stand sie vor dem Aus, ein paar unbeschwerte Jahre erlebte sie vor allem in der Zeit ab 1978, als Sepp Voegeli dem Organisationskomitee vorstand, der Zampano des Schweizer Radsports schlechthin, der auch Direktor des Hallenstadions und der Tour de Suisse war. Nach seinem Tod 1992 wechselte die Züri-Metzgete mehrmals von einem Ausrichter zum nächsten, änderte gar kurzzeitig den Namen, startete bald einmal in Basel, musste immer wieder das Datum wechseln.

Als ein Dopingskandal nach dem anderen den Radsport zerfrass und mit der Affäre um Floyd Landis 2006 auch das Schweizer Phonak-Team unterging, war bald auch für die Metzgete Schluss. Ein paar Jahre noch massen sich weiterhin Amateur- und Nachwuchsfahrer, doch auch diese reduzierte Dimension des Anlasses ist unterdessen Vergangenheit.

Nun ist die Radsportwelt mit der WM also für einen Moment zurück in Zürich. Zum vierten Mal nach 1923, 1929 und 1946 trägt die Stadt Strassen-Weltmeisterschaften aus, noch nicht ganz so lange ist es her, seit die Tour de Suisse einen Bogen um die Stadt machte. 1997 war Zürich zum letzten Mal Zielort der Rundfahrt, die Dernière als Startort ist bereits 45 Jahre her. Auf der offenen Rennbahn in Oerlikon wurden diese Etappen jeweils gefeiert, die Stadt ist mit Abstand die Nummer eins als Startort (34 Mal; dahinter folgt Murten mit 4) und Zielort (45 Mal; dahinter folgt Bern mit 8).

Der Start des WM-Zeitfahrens der Männer am Sonntag in der Offenen Rennbahn in Oerlikon war eine Referenz an eine grosse Zeit, in der Zürich und der Radsport noch durch eine grosse Liebe verbunden waren.

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