Mittwoch, Oktober 23

Am traditionsreichen MAN-Standort mitten in der Stadt herrscht Zuversicht – wegen der Energiewende. Doch um an exklusiver Lage zu bestehen, muss das Werk ständig besser werden.

Wenn ein Vogel über die Stadt Zürich fliegt, dann hat er zwei grosse Rechtecke, um sich zu orientieren. Das erste Rechteck ist die Halle des Hauptbahnhofs, der belebteste Ort der Schweiz. Das zweite Rechteck liegt ein paar Flügelschläge nordwestlich, ist aber weitaus weniger Zürchern bekannt: eine mehr als drei Fussballfelder grosse Fabrikhalle am Escher-Wyss-Platz, versteckt hinter Häuserzeilen.

«Das Viereck», so nennt Patrik Meli die Halle. Drinnen schwebt tonnenschweres Metall durch die Luft, gehoben von Kränen, die unter der drei Stockwerke hohen Decke rangieren. Hier werden Kompressoren gefertigt: meterlange Metallsäulen mit Flügelrädern und Gewinden, die sich mit hoher Geschwindigkeit drehen und so ein Gas verdichten und unter Druck setzen. Das Viereck ist der Schweizer Standort von MAN Energy Solutions, und Meli ist der Geschäftsführer.

Die Namen wechseln, das Viereck bleibt

Kleinere Kompressoren kennt der Laie vom Verbrennungsmotor im Auto. Die Industrie braucht weitaus grössere Modelle. Die Zürcher Produktion geht zurück auf den Industriekonzern Escher Wyss & Cie., der 1894 das Viereck bezog. Neunzig Jahre später folgte eine Fusion mit Sulzer.

Im Jahr 2001 übernahm der deutsche Fahrzeug- und Maschinenkonzern MAN, die frühere Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, die Produktion im Viereck. Heute ist MAN Energy Solutions ein Teil der Volkswagen-Gruppe und produziert grosse Motoren und Turbomaschinen, zum Beispiel Turbinen. Der Standort Zürich steuert die Kompressoren bei.

Vor vierzig Jahren haben im Viereck noch rund 3000 Angestellte gearbeitet. Patrik Meli hat es selbst erlebt: Der 53-Jährige verbrachte fast seine ganze Karriere dort, angefangen mit der Lehre als Maschinenzeichner bei Sulzer Escher Wyss. Heute zählt der Standort 850 Mitarbeiter. Je nach Zählweise macht das MAN Energy Solutions vor dem Hochspannungsausrüster Hitachi Energy zum grössten industriellen Arbeitgeber in der Stadt Zürich.

So ungewöhnlich die geografische Lage ist, so ungewöhnlich ist die Geschäftslage. Grosse Teile der Schweizer Industrie leiden unter der schwachen Wirtschaft im wichtigen Absatzmarkt Deutschland, dem starken Franken und dem Fachkräftemangel. Doch ausgerechnet an einem der exklusivsten Standorte, die eine Industrieproduktion in der Schweiz haben kann, sind diese Probleme weit weg.

«Wir können uns nicht beklagen. Die Perspektiven sind sehr gut», sagt Meli. Stattdessen sei die Herausforderung, das Wachstum sinnvoll zu steuern. Wenn der Standort Zürich es wollte, könnte er mehr Aufträge annehmen. Deutsche Firmen stellen nur eine kleine Kundengruppe dar; stattdessen sind die Abnehmer rund um den Erdball verstreut.

Aber um sich nicht zu verzetteln und die Projekte hochwertig und pünktlich abwickeln zu können, geht der Geschäftsführer lieber vorsichtig vor. Derzeit werden rund hundert Maschinen pro Jahr gefertigt, neben den Kompressoren auch Vakuumgebläse für die Papierindustrie.

«Wir profitieren extrem von der Energiewende»

Die fortschrittlichsten Kompressoren, die in Zürich produziert werden, sind aus dem Highspeed-Segment: Sie drehen besonders schnell, verdichten besonders stark und kommen etwa bei der Förderung von Erdgas vom Meeresgrund zum Einsatz. Jeder Kompressor ist ein Einzelstück, genau zugeschnitten auf das jeweilige Projekt. Im Grunde sei der Betrieb eine Manufaktur, erläutert Meli.

Das Funktionsprinzip eines Kompressors wird seit rund 150 Jahren genutzt. Aber was man mit diesen Kompressoren macht, das ändert sich. So nimmt die Bedeutung der Kunden aus der Öl- und Gasbranche am Standort Zürich ab. Dafür werden Klienten aus dem Bereich der Energiewende wichtiger. Vor allem ein Wachstumsfeld ist in Zürich wichtig: Kompressoren für Wärmepumpen. Und zwar für richtig grosse, die nicht ein einzelnes Haus versorgen, sondern Stadtteile oder Industriegebiete.

So bestellte Finnlands Hauptstadt Helsinki im August bei MAN die bisher grösste je gebaute Wärmepumpe, die Umgebungsluft nutzt. Sie soll ein Heizkraftwerk betreiben, das Fernwärme für 30 000 Haushalte erzeugt. Eine Wärmepumpe verdichtet ein spezielles Kreislaufmittel und erzeugt dadurch Wärme. Diese Verdichtung erledigen bei MAN die Kompressoren aus Zürich. Andere Modelle werden nach Dänemark geliefert: Die Grossstadt Aalborg ersetzt ein Kohleheizkraftwerk durch vier Wärmepumpen.

«Wir profitieren extrem von der Energiewende», sagt Meli. «Langsam wird begriffen, dass auch die Grosswärmepumpe ein Schlüssel für die Dekarbonisierung ist.» Noch vor sieben Jahren sei das Konzept oft auf Unverständnis gestossen. Ironischerweise hilft die Erfahrung aus dem traditionellen Öl- und Gasgeschäft bei der Entwicklung der grossen Wärmepumpen.

Eine grosse Wärmepumpe ist besser als viele kleine

Die wachsende Nachfrage nach Energieeffizienz spüren auch andere Firmen, die das Escher-Wyss-Erbe teilen. Der Sulzer-Konzern, der unter anderem Pumpen und Prozessanlagen herstellt, meldete für Januar bis September 9 Prozent mehr Aufträge. Der Kompressorenhersteller Burckhardt Compression, ehemals Teil von Sulzer und in einem anderen Segment tätig als MAN, verzeichnete jüngst einen rekordhohen Umsatz und Betriebsgewinn. Burckhardt stellt unter anderem Kompressoren für Produktionsanlagen von Kunststoffen oder für Schiffsantriebe her.

«Perspektivisch sind die Grosswärmepumpen enorm wichtig für den Standort Zürich», sagt Meli. Er prophezeit der Technologie eine gute Zukunft. Die Wärmepumpe sei effizient und die klimafreundlichste Heiztechnik, sofern sie mit grünem Strom betrieben werde. Die Frage sei nur, ob jedes Einfamilienhaus seine eigene Pumpe haben müsse. Grosse Pumpen auf Stadt- oder Quartierebene seien deutlich sinnvoller. «Leider findet der Schweizer oft nur das gut, was er selbst besitzt. Stattdessen wäre es besser, mehr zu kooperieren», sagt Meli.

Das Gesamtsystem optimieren, so nennt er das. Meli versucht es auch im eigenen Viereck. Denn die Lage nahe am Herzen Zürichs ist nicht nur exklusiv, sie ist vor allem beschränkt. Die Industriezone hört vor der Werkstür auf. Wenn MAN wachsen will, muss es innerhalb der bestehenden vier Wände geschehen. Das Gelände ist inzwischen nur noch gemietet, die Kosten seien dadurch niedriger als bei einem Besitz der Liegenschaften. Ein Wegzug wurde nie erwogen, die Vorteile des Standorts hätten immer überwogen.

Einer der Vorteile, wie Meli ihn nennt, ist ungewöhnlich: «Wir dürfen uns nicht ausruhen. Wir müssen ständig überlegen, was wir besser machen können.» Er ist seit 2019 der Chef – und stellt sich permanent die Frage, welche Arbeitsschritte unbedingt vor Ort geschehen müssen und welche nicht.

Lage, Lage, Lage – das überzeugt auch Mitarbeiter

Zum Beispiel war bis vor kurzem auch ein Hochregallager in der Halle untergebracht. Das wurde ins Zürcher Umland verschoben. Auf dem gewonnenen Platz steht eine neue Maschine, die mehr Arbeitsschritte kann als die alte. Sie bohrt jetzt auch Löcher für Haltestifte in die Kompressoren. Früher wurde das Metall dafür zu einem Zulieferer geschickt.

Die Logistik ist eine Herausforderung, denn die Schwertransporte per Lastwagen tun sich schwer mit den Zürcher Strasseneinschränkungen, Verkehrsinseln und Radwegen. Auf der anderen Seite sehen viele Angestellte die Lage als entscheidenden Pluspunkt ihres Arbeitgebers. Die Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte gelinge gut, sagt Meli. Auch die Sinnhaftigkeit durch die Arbeit an den Grosswärmepumpen und damit an der Energiewende sei für die Angestellten ein wichtiges Argument.

Behaupten muss sich MAN gegen Konkurrenten wie Mitsubishi und Siemens Energy. Zürich trägt sein Scherflein bei: Seit dem Jahr 2001 ist das Werk profitabel. Das dürfte auch innerhalb der angeschlagenen Volkswagen-Gruppe von Vorteil sein. MAN Energy Solutions erzielte 2023 einen Umsatz von 4 Milliarden Euro, rund einen Zehntel steuerte Zürich bei. Bei Verlusten wäre es wahrscheinlich schwieriger, den Standort zu rechtfertigen.

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