Montag, November 18

Károlyi hat Turnlegenden wie Nadia Comaneci trainiert. Sein Palmarès ist eindrücklich, doch seine Methoden waren umstritten, auch wegen eines Missbrauchsskandals im US-Turnverband.

Am Anfang stand ein Jagdausflug in den achtziger Jahren, der Béla Károlyi in ein riesiges Waldgebiet nördlich von Houston führte. Dort verliebte sich der Rumäne in eine 20 Hektaren grosse Liegenschaft, die für weniger als 70 000 Dollar zu haben war und abgeschieden lag, 25 Kilometer von der nächsten Landstrasse entfernt. Genau einen solchen Ort hatte sich der Turntrainer gewünscht, um in seiner neuen Heimat USA die perfekte Leistungsschmiede zu bauen.

«Perfekt» bedeutete auch, dass Károlyi sich hier nicht von Funktionären und den Eltern seiner minderjährigen Zöglinge über die Schulter schauen lassen musste. Mehr oder weniger ungestört konnte er seine handgestrickte Pädagogik – eine Mischung aus väterlicher Fürsorge und strikter Disziplin – umsetzen und Talente heraussieben, die auf dem Weg zu Titeln, Medaillen und Ruhm jedem Druck standhalten würden.

Károlyi hatte seine knallharten Methoden zuvor schon in Rumänien umgesetzt. Bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal faszinierte sein Team das Publikum. Der überragende Star war ein 14-jähriges Mädchen, das in Kanada als erste Turnerin in der olympischen Geschichte die Bestnote 10 erhielt und drei Goldmedaillen gewann. Sie schien aus dem idealen Material modelliert. «Nadia Comaneci», sagte Károlyi später einmal, «war wie Stahl.»

Er liess Athletinnen auch verletzt noch weiterturnen

Eine Szene an den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta illustriert, wie Károlyi funktionierte. Da überredete er die am Knöchel verletzte Kerry Strug dazu, humpelnd zum zweiten Versuch im Pferdesprung anzutreten, um so die dringend notwendigen Punkte für die Goldmedaille in der Mannschaftswertung zu sichern.

Zur Siegerehrung konnte sie nicht mehr laufen. Die 1 Meter 41 grosse Amerikanerin musste getragen werden. Károlyi – Markenzeichen buschiger Schnauzbart – übernahm das gerne. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Es war ein weiterer Mosaikstein in einer Karriere mit neun amerikanischen Goldmedaillengewinnerinnen und 15 Weltmeisterinnen.

Béla Károlyi wurde am 13. September 1942 in Cluj in Siebenbürgen geboren. Der Sohn eines Bauingenieurs und einer Buchhalterin widmete sich zunächst dem Boxen und nahm an den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne als Hammerwerfer teil. An der Sporthochschule begann er, sich um Turnerinnen zu kümmern.

Eine seiner ersten Eleven war Márta Erőss. Die beiden heirateten 1963. Der Mann, dessen Persönlichkeit eine Mischung aus «hemmungsloser Meinungsfreude, lose sprudelnden Emotionen und ungebremsten Gesten» war, wie die «New York Times» einst schrieb, hatte sein Alter Ego gefunden. Das Tandem nutzte 1981 eine Auseinandersetzung mit dem rumänischen Turnverband zum nächsten Karriereschritt. Die beiden setzten sich bei einer Auslandtournee in den USA von der Mannschaft ab und baten um Asyl.

Hier arbeitete Károlyi anfangs in einer kleinen Trainingshalle mit «ein paar Schwebebalken und ein paar Matten», wie er einst erzählte. Doch schon bald fand er wieder grossartige Talente. So wie Mary Lou Retton, die bei den Olympischen Spielen 1984 die Goldmedaille im Mehrkampf gewann.

Weil Károlyi der Privatcoach von Retton war, aber nicht dem Trainerteam der USA angehörte, durfte er in Los Angeles eigentlich nicht bei den Wettkämpfen dabei sein. Aber er war findig genug, sich eine Akkreditierung als Hausmeister zu besorgen und so trotzdem in die Halle zu kommen.

Károlyis Methoden und die Verbindung zum Missbrauchsskandal

Nach dem Erfolg in Los Angeles gab der amerikanische Turnverband bald den Widerstand auf und übergab Károlyi die Verantwortung über die Nationalmannschaft. 2001 wurde sein Sommercamp im Wald von Texas zum zentralen Trainingsstützpunkt.

Jahre später geriet der Ort in die Schlagzeilen, er war einer der Schauplätze der Machenschaften von Larry Nassar. Der Mannschaftsarzt des amerikanischen Frauenteams hatte hier im Laufe der Zeit Hunderte von Turnerinnen sexuell missbraucht. Die Verantwortlichen – auch die beiden Károlyis – taten so, als wüssten sie von nichts.

Dominique Moceanu war Mitglied des Teams, das 1996 in Atlanta Gold gewann. Moceanu sagte, es sei «fragwürdig», dass das Paar – bekannt als Kontrollfreaks und Perfektionisten – nicht gewusst habe, was in seiner Trainingsstätte passierte. Jenem Ort, an dem die jungen Turnerinnen, wie eine von ihnen im Nassar-Prozess aussagte, «komplett von der Zivilisation abgeschnitten» waren.

Dafür wussten die beiden durchaus, wie man in diesem Milieu aus Zucht und Rekrutenschinderei Athletinnen psychisch kontrolliert und schikaniert. Etwa indem man sie vor ihren Kameradinnen als «fett» oder «dumm» herunterputzte. Sie mit Knochenbrüchen trainieren liess. Oder sie auf eine strikte Diät setzte. Erst wegen der Methoden von Károlyi konnte sich der 2018 zu 40 bis 175 Jahren Haft verurteilte Mediziner Nassar als verständnisvoller Verbündeter bei den jungen Turnerinnen einschmeicheln. Er war jemand, der ihre Blessuren behandelte und ihnen gelegentlich Essen zusteckte.

Die Anlage wurde geschlossen, nachdem prominente Turnerinnen wie Simone Biles oder Aly Raisman ihre Haltung klargemacht hatten. Beide zählten zu den Turnerinnen, die wegen sexuellen Missbrauchs gegen Nassar klagten. In ihren Augen sollte niemand wieder an jenen Ort zurückkehren müssen, an dem so viele von ihnen missbraucht worden waren. Die texanische Polizei kündigte Ermittlungen an. Juristische Konsequenzen hatte der Skandal für das Trainer-Ehepaar allerdings nicht. Ihre Zusammenarbeit mit dem Verband war ohnehin bereits 2016 zu Ende gegangen.

Die inzwischen auf 1000 Hektaren und mehrere Nutzgebäude angewachsene Immobilie wurden die Károlyis lange Zeit nicht los. Der amerikanische Turnverband kündigte die ursprüngliche Vereinbarung, sie zu mieten und später zu kaufen, aufgrund des Nassar-Skandals auf. Erst im Sommer 2023 fand sich ein Käufer und bezahlte 6 Millionen Dollar.

USA Gymnastics sah sich derweil gezwungen, Konkurs anzumelden, als der Verband von Hunderten von Nassar-Opfern verklagt wurde. Er kam erst wieder auf die Beine, nachdem er 2021 in langwierigen Verhandlungen eine Schadenersatzleistung von 380 Millionen Dollar zugesichert hatte.

Béla Károlyi starb am vergangenen Freitag im Alter von 82 Jahren. Die offizielle Nachricht, die der amerikanische Turnverband verbreitete, enthielt keine weiteren Einzelheiten.

Exit mobile version