Ricarda Messners Debütroman ist eine zärtliche Suche nach Vergangenheit.
In den ersten Nächten in der Wohnung greift die Enkelin immer wieder zum Telefon. Dann klingelt es in der Wohnung nebenan – bei der Grossmutter. Die geht jeweils sofort ran. Sie habe Angst, sagt die Enkelin, und höre Geräusche. Die Grossmutter zieht sich rasch an und geht zu ihr hinüber, die beiden sitzen stundenlang zusammen auf der Couch und reden, bis vier Uhr morgens. «Ich wünschte, ich hätte uns in diesen Nächten aufgezeichnet, aufgenommen, festgehalten», schreibt die Enkelin.
Die Enkelin ist die Autorin Ricarda Messner. Sie schreibt in ihrem Debütroman über die besondere Beziehung zu ihrer Grossmutter. Diese wies sie einmal darauf hin, dass im Nebenhaus eine Wohnung frei sei, sie wollte ihre Enkelin als Nachbarin haben. Messner folgte der Einladung. Laufen sie sich zufällig über den Weg, fragt die Grossmutter: «Wohin gehen Sie denn, liebe Nachbarin?» Es sind Erinnerungen an eine gemeinsame Zeit, denn die Grossmutter ist gestorben.
Nach dem Tod der Grossmutter geht Messner jeden Tag zum Obst- und Gemüseladen. «Ich kaufte Tomaten, Gurken, Dill, Kartoffeln, Crème fraîche, muss in Crème fraîche, Kartoffeln, Dill, Gurken, Tomaten nach ihr gesucht haben.» Messner sucht ihre Grossmutter überall. Wochenlang isst sie nichts anderes als Kartoffeln mit Crème fraîche, bis ihr eines Nachts alles hochkommt, die Erinnerung an die Grossmutter, die Gefühle, das Essen ebenso. Und dann erscheint ihr die Grossmutter, die ihr etwas zuflüstert, woran sich Messner nicht erinnern kann.
Den Familiennamen bewahren
Ihr Buch «Wo der Name wohnt» ist eine minuziöse, feinfühlige Suche nach Vergangenem. Anlass sind der Tod der Grossmutter und der Drang, ihre Geschichte zu bewahren. Messner, geboren 1989 in Berlin, vier Wochen vor der Wende, versucht alles aufzuspüren, mit dem sie die Geschichte ihrer jüdischen Familie mütterlicherseits über vier Generationen nacherzählen kann.
Der jüdische Urgrossvater Salomon Levitanus wird 1941 in Riga von den Nazis ermordet. Sein Sohn kann fliehen, wird Fussballer, spielt nach dem Krieg bei Dinamo Riga und heiratet eine Zahnärztin. Die beiden bekommen eine Tochter, die Mutter der Autorin. Die Familie flieht 1971 nach Westberlin, wo der Urgrossvater ein Haus besass. Dort kommt 1989 Messner zur Welt. Als junge Erwachsene zieht sie in eine Wohnung im Haus neben dem, in dem die Grossmutter wohnt.
Jetzt, da die Grosseltern gestorben sind, löst Messner zusammen mit ihrer Mutter die grosselterliche Wohnung auf und beginnt anhand der Gegenstände und der Dokumentationen der Grossmutter die Familiengeschichte akribisch zu rekonstruieren. Die Grossmutter hat viele Ordner mit Briefen, Dokumenten oder Fotos hinterlassen, die sie fein säuberlich gesammelt hat.
Und noch etwas will Messner behalten: den Familiennamen Levitanus. «Ich wollte den Nachnamen bewahren, sehnte mich nach ihm wie nach Grossmutters Gesicht, das ich nie mehr sehen würde.» Messner ist nämlich der Name ihres Vaters.
Intimes Familiendossier
«Sie sagen, Sie besitzen den Namen nicht mehr.» Messner meint die Behörde, auf die sie mit ihrem Anliegen zugeht. Die Familiengeschichte wird auch immer wieder von trockenen Passagen unterbrochen, in denen gestelzt und kühl argumentiert wird, warum Messner ihren Namen nicht ändern darf.
So heisst es etwa nach dem zweiten Kapitel: «Der blosse ‹Herzenswunsch›, einen anderen Familiennamen führen zu wollen, stellt grundsätzlich keinen wichtigen Grund für eine Namensänderung dar.» An anderen Stellen werden Gesetze und Reglemente zitiert.
Diese Auszüge aus der Behördenkorrespondenz stehen in maximalem Kontrast zu den zärtlichen Schilderungen in den Kapiteln. Messners Roman ist ein gelungenes, intimes Familiendossier. Sie kombiniert die historischen Fakten über ihre Vorfahren, die sie etwa aus dem deutschen Bundesarchiv kennt, mit ihren Erinnerungen.
Ein Land namens «Früher»
Messner lässt kaum ein Detail weg. Sie führt aus, wie sich ihre Grossmutter kleidete, erzählt von den Gerichten, die sie kochte, oder davon, wie sie ihre Haare frisierte (sie nahm «eine Sprühflasche, eigentlich für Blumen gedacht, machte die Haare damit ein wenig nass»). Auch vom sympathischen, bescheidenen Grossvater, der mit ihr auf dem Glastisch im Wohnzimmer Pingpong spielte und gerne Kleider bügelte, «denn man sah gleich die Resultate».
Am 9. April 1971 emigrierten die Grosseltern aus der Sowjetunion nach Berlin. Sie reden mit Messners Mutter immer wieder vom «Früher». Die Mutter beklagt sich etwa, wenn die Grossmutter zu fettig kocht, zu viel Mayonnaise in die Salate rührt, es schmecke ihr zu kräftig nach «Früher». Lange dachte die junge Messner, das Land, aus dem sie kamen, heisse «Früher». Irgendwann lernte sie den richtigen Namen: Sowjetunion.
Immer wieder füllt Messner Lücken in der Familiengeschichte mit ihrer Vorstellungskraft: Was haben die Grosseltern an dem Tag wohl getragen? Wie sah es dort aus? Und so konstruiert sie ihre ganz persönliche Version der Familiengeschichte.
Salomons letzte Worte
Messner analysiert alles, was sie zu ihrem Urgrossvater Salomon Levitanus findet, der 1921 in Berlin ein Haus kaufte. «Mutter war 68 Jahre alt, als sie das erste Mal Grossvater Salomon in den Händen hielt. Kein Foto, kein Gesicht, sondern seine Worte», schreibt Messner. Die Rede ist von einem Schneider-Lehrbuch ihres Urgrossvaters, das sie bei der Recherche findet und ihrer Mutter gibt.
In Archiven hat Messner auch Zeugenaussagen aus dem Rigaer Ghetto gefunden. Dort wird beschrieben, wie die Nazis Salomon Levitanus zuerst mit einem Gummiknüppel schlugen. Und als er am Boden lag, musste er aus einer hebräischen Bibel singen und wurde währenddessen zu Tode geprügelt.
Messner las darum Texte der Thora, «damit ich eines Tages jedes mögliche letzte Wort Salomons kennen würde, und dachte, was versuche ich hier eigentlich». Und dann versucht sie es mit der Methode des Atlasspiels ihres Grossvaters. Sie sass bei ihm auf dem Schoss, er liess die Seiten durch die Finger blättern, bis die kleine Ricarda Messner Stopp rief. Dann schauten sie sich zusammen die Landkarten an. Nun lässt sie die Seiten der Thora durch ihre Finger blättern, um Salomon Levitanus’ letzte Worte zu finden.
«Fenster der Zeugenschaft»
Einmal reist sie nach Riga und besucht das Rigaer Ghetto, wo ihr Urgrossvater ermordet wurde. Anhand von Zeugenaussagen von Überlebenden findet sie ein Fenster, von dem aus wohl die Ermordung ihres Urgrossvaters beobachtet werden konnte, in den Tagen des Rigaer Blutsonntages vom 30. November 1941.
«Ich zeichnete mir den Sternenhimmel mit den Koordinaten vom 30. 11. 1941, 7 Uhr, Riga», schreibt Messner. «Und ich stand einmal allein vor der Ludzasstrasse 55, und an diesem Tag wehte der Wind eine weisse Gardine mit Blumenstickerei aus einem Fenster im zweiten Stock», und seitdem erzählt sie, das sei «das Fenster der Zeugenschaft».
Wie erinnert man richtig?
Die Autorin schafft eine melancholische Nostalgie aus Erinnerungen und Gefühlen. Einen dichten Gedankenstrang, getrieben von Messners unstillbarem Erinnerungsdurst. Daraus entstanden ist eine zärtliche Familiengeschichte, kombiniert mit Messners Mission, im deutschen Rechtssystem ihren Namen zu ändern. So ergründet sie ihre Identität neu, findet ihr Selbst in der Geschichte.
Und immer wieder geht es um die Frage: Wie erinnert man eigentlich richtig? Messner versucht das zu ergründen, sie legt Gegenwart und Vergangenheit so nahe zueinander wie nur möglich. «Ich frage mich, welchen Klang die Wörter haben würden, wenn es Worte mit Abstand wären, wenn es welchen gäbe zwischen den Wegen des Alltags und den Erinnerungen. Erinnerungen und Alltag sind hier so nah beieinander, liegen am Ende des Tages übereinander wie Kleidung auf Stühlen.» Hier, das ist ihre Umgebung, in der die Grossmutter jetzt fehlt.
Ricarda Messner: Wo der Name wohnt. Suhrkamp, Berlin 2025. 170 S., Fr. 33.90.