Samstag, Oktober 5

Die Komponistin Unsuk Chin wurde durch György Ligeti geprägt, der nur das Eigene und Echte gelten liess. Für ihr Schaffen erhielt sie im Mai den Ernst-von-Siemens-Preis, den inoffiziellen Nobelpreis der Musik. Nun unterrichtet Chin zum zweiten Mal an der Festival Academy in Luzern – wiederum auf ihre Weise.

In diesem Sommer wird die Komponistin Unsuk Chin zum zweiten Mal nach Luzern reisen, um im Composer-Seminar als Coach auszuhelfen, im Tandem mit ihrem Kollegen Dieter Ammann und als Einspringerin für den erkrankten Wolfgang Rihm. Diesmal will sie länger bleiben, die intensive Zeit mit den Mitstreitern an der Festival Academy voll auskosten. Sie kann und will Rihm nicht ersetzen. Das war von vornherein klar. Aber Unsuk Chin, dieser freie Geist, passt wie angegossen in Rihms offenes Konzept.

Chin gehört zu keiner Schule, keiner Seilschaft. Sie hat auch nie eine Professur angenommen an einer Musikhochschule. Sie sagt: «Kann ich das überhaupt: andere auf den Weg bringen, Komponist zu werden? In dieser Frage bin ich ein bisschen ambivalent, ich denke mir, ich sollte vielleicht eher davon abraten!» Selbst in den eigenen Meisterklassen, die sie als Composer-in-Residence in Seoul gab, habe sie es vermieden, auf herkömmliche Weise zu «unterrichten». Sie lacht und fügt hinzu: «Aber letztes Jahr, in Luzern, da war Unterricht für mich zum ersten Mal eine sehr schöne Erfahrung!»

Ein Ausbund an Schönheit

Warum? Weil dieses Composer-Seminar kein starres Curriculum verfolgt, sondern auf Kolloquien und den intensiven Austausch setzt. Wolfgang Rihm hatte auch diesmal wieder, im Vorfeld, gemeinsam mit Dieter Ammann, Bewerbungen aus aller Herren Länder gesichtet und die Teilnehmer bestimmt. Es sind in diesem Jahrgang zwölf junge Komponistinnen und Komponisten, vier mehr als sonst, da es im Jubiläumsjahr der Festival Academy neben der Ensemblekomposition eine zusätzliche Sektion für Orchesterwerke gibt. Die Teilnehmer kommen aus China, Chile, Deutschland, Grossbritannien, Korea und den USA. Sie bringen ihre Werke mit, individuelle Musikstile aus verschiedensten Richtungen. Unsuk Chin sagt: «Diese Stücke werden gemeinsam diskutiert. Ob sie toll sind oder nicht, ist egal. Alles, was interessante Diskussionen hervorbringt, nützt allen.»

So hat sie es selbst schon immer gehalten: Stets hat sie sich für die Musik anderer interessiert. Und hat sich auch ihre Lehrer sehr gezielt selbst ausgesucht. Als zweiundzwanzigjährige Studentin kam Chin dereinst mit einem DAAD-Stipendium in Hamburg an, um bei György Ligeti zu studieren. Heute ist sie 63 und lebt in Berlin. Unabhängig, aber erfolgreich – das ist eine selten geglückte Kombination in der klassischen Kunstmusik. Chin schreibt grosse Konzerte und Kantaten, aber auch kleinere Klaviersachen und Kammermusiken. Jedes ihrer Musikstücke hat eine eigene Physiognomie. Wer eines kennt oder zu kennen glaubt, der wird jedes Mal wieder neu überrascht vom nächsten. Wird überfallen und gefangen genommen. Denn Chins Musik ist ein Ausbund an Schönheit. Wirkt überwältigend, ja, manchmal fast gewaltsam durch ihre poetische Kraft und Kompromisslosigkeit.

Inzwischen schreibt Chin all ihre Noten wieder mit der Hand, kalligrafisch filigran und oftmals mit Farbstiften – obgleich sie eine Zeit lang auch am Rechner komponiert hatte, am Elektronischen Studio der TU in Berlin. Seit gut vierzig Jahren lebt und arbeitet sie nun schon in Deutschland, seit 1993 ist sie beim Londoner Musikverlag Boosey & Hawkes unter Vertrag. Ihre Werke sind international präsent, und zurzeit hat ihre Musik, man kann es nicht anders sagen, einen richtigen Lauf.

Kurz vor Weihnachten brachten die Berliner Philharmoniker eine Box heraus mit allen Solokonzerten und Orchesterwerken, die sie von Unsuk Chin bislang im Programm gehabt haben. Kurz nach Weihnachten gab dann die Ernst-von-Siemens-Musikstiftung mit Sitz in Zug bekannt, dass Chin ihre Preisträgerin ist. Dieser Musikpreis gehört mit 250 000 Euro Preisgeld zu den höchstdotierten der Welt. Chin ist die dritte Komponistin und erst die fünfte Frau in einer langen Phalanx berühmter männlicher Preisträger, die damit geehrt wurde.

Den eigenen Weg finden

Ligeti, ihr erster europäischer Lehrer, gehörte auch zum Kreis dieser Auserwählten. Er hat den Preis 1993 bekommen, als Chin das Studium bei ihm längst wieder beendet und sich vorübergehend auf elektronische Musik verlegt hatte. Wenn sie von ihrer Zeit bei György Ligeti erzählt, wird es lustig. Sie hatte ihm geschrieben, aus Seoul, wo sie Klavier studierte und bei Kang Sukhi an der National University auch bereits Komposition. Sie hatte Ligetis Musik kennengelernt und fand sie «interessant». Er wiederum interessierte sich für ihre bis dato geschriebenen Partituren und lud sie ein, nach Deutschland zu kommen. Als sie eintraf, lobte er sie zunächst – dann aber zerriss er die Noten.

Er wetterte gegen die Abhängigkeit von der Darmstädter Avantgarde, die er da herauslas: alles postserielle Kopien! Sie müsse ihren eigenen Weg finden! Ligeti habe recht gehabt, sagt Unsuk Chin heute. Sie sei «dankbar und demütig», wenn sie an ihn und all die bisherigen Siemens-Preisträger denke, «von denen viele zu meinen grössten musikalischen ‹Helden› gehörten». Und fügt hinzu, mit der ihr eigenen zarten Ironie: «Und ich hatte mir immer gedacht, ich würde diesen Preis vielleicht auch mal kriegen. Irgendwann, eines Tages, wenn ich alt bin und ihn nicht mehr benötige.»

Üblicherweise wird Chin pauschal als «koreanische Komponistin» verortet oder als «Komponistin aus Südkorea» bezeichnet. Das stimmt insofern, als sie dort geboren wurde, als Tochter eines Priesters, in kleinen Verhältnissen, die sie bald hinter sich liess. Jahrzehnte später ist sie aber, zumindest partiell, nach Asien zurückgekehrt, in einer neuen, ganz anderen Funktion: Chin hat sich dort, was nur wenige wissen, einen hervorragenden Ruf erworben als ideale Künstler-Intendantin. Zuerst eher zufällig mit einer Reihe für zeitgenössische Musik für das philharmonische Orchester in Seoul. Die weitete sich aus zu Programmen, die von Bach und Scarlatti bis in die Gegenwart reichen.

Zurzeit kuratiert sie im südkoreanischen Tongyeong ein grosses Musikfestival, ausserdem noch ein kleineres in Taiwan. Sie macht das gemeinsam mit ihrem Mann, dem Pianisten und Musikveranstalter Maris Othóni, der gerade Intendant des finnischen Rundfunkorchesters geworden ist. «Programme entwerfen», sagt Chin, «das ist ja keine Arbeit. Nur eine Art erweiterter Studiengang. Oder vielmehr: Für mich ist das exakt so wie das Komponieren – ich höre viel, mache mir viele Gedanken; und da wird dann etwas daraus. Jedenfalls, wenn es funktioniert, wenn gute Musiker kommen und das Konzert richtig schön wird. Dann stehe ich unter Strom und bin glücklich.»

Die Kosmopolitin

In ihren eigenen Kompositionen sind die koreanischen Wurzeln eher verborgen. Man könne sie, sagte sie jüngst im Interview, ebenso gut als «Berliner Komponistin» bezeichnen. Vorschlag: Ist sie nicht auch eine Traditionalistin im Umgang mit Klängen, Klangfarben, Formen und Texturen? Chin möchte nicht eingeordnet werden, verweist auf ihren eigenen Freiraum, stimmt aber höflich halbwegs zu. Der Vorstand der Berliner Philharmoniker dagegen spricht ex cathedra von einer musikalischen «Kosmopolitin», und auch das trifft zu: Chins «Horizont» schliesst heute «die unterschiedlichsten Kulturen und geistigen Disziplinen ein».

Freilich gibt es Spuren in ihrer Musik, gewisse Klangfarben oder auch metrische Elemente, die zurückverweisen auf die asiatische Heimat. Der Kopfsatz ihres Cellokonzerts zum Beispiel, komponiert 2009 für Alban Gerhardt und das BBC Scottish Symphony Orchestra, heisst «Aniri», weil darin eine Formel aus dem koreanischen Pansori-Theater versteckt ist: Ein einziger Ton – es ist der erste Ton, den der Solist anstimmt – durchzieht den Satz wie eine Achse. Er taucht immer wieder auf, wird umspielt und variiert. Aus diesem Multi-Mono-Ton erwachsen üppig aufblühende Orchesterklänge, heftige Gegensätze brechen auf zwischen Rezitativ und Gesang, Licht und Farben. Am Ende «stirbt» der Ton in einem expressiven Glissando, abwärts. Er tritt quasi ab. Und das Orchester schreit auf.

Daneben findet sich in Chins Musik, etwa in ihrem ersten Violinkonzert, auch Vertrautes aus der europäischen Musik der Vergangenheit, maskierte Quasizitate, romantische Liedfetzen, Stimmen und Stimmungen. In Bali hat sie sich für Gamelanmusik begeistert, wie einst die Impressionisten. Auch das spiegelt sich in ihrem Werk. Von der frühmittelalterlichen Polyphonie inspiriert ist eine gewisse Lust an kontrapunktischen Exzessen. Und natürlich spielen auch aus der Elektronik in die Instrumente hinüberwuchernde Traum- und Geräuschklänge eine Rolle im Chin-Kosmos. Ein Meltingpot ist das alles trotzdem nicht. Auch kein Collage-Kino. Vielmehr eine neue, freie Welt der Imagination, geschaffen aus allem, was Musik zu bieten hat.

Im Wunderland

«Chin has created her own sonic wonderland», schrieb der Kritiker der «Los Angeles Times», als er ein Gastspiel von Chins erster Oper miterlebt hatte: «Alice in Wonderland», nach einem Libretto von David Henry Hwang, frei nach Lewis Carroll. Das Stück wurde 2007 in München uraufgeführt, unter der Leitung von Kent Nagano und in überwältigenden, alles übermalenden Bühnenbildern von Achim Freyer.

Unterdessen arbeitet Chin in jedem freien Augenblick an ihrer zweiten Oper. Die Uraufführung ist bereits angekündigt für Mai 2025 in Hamburg. Sie heisst «Die dunkle Seite des Mondes». Es geht darin um eine wahre Geschichte, nämlich um den genialen Atomphysiker Wolfgang Pauli und um die Zahl 137, die ihm den Verstand raubte, ausserdem um seinen seelenkundigen Schweizer Freund C.G. Jung. Bei der Zahl handelt es sich um die Formel der mysteriösen Feinstrukturkonstante. Und weil Pauli eine Art «Faust der Moderne» ist, wie Chin sagt, so ist Jung möglicherweise sein Mephisto. Das Libretto schreibt die Komponistin diesmal selbst.

Exit mobile version