Sonntag, November 24

Ein Radbruch gilt als Auslöser des schweren Zugunglücks vom vergangenen 10. August. Nun fordern Fachleute Scheibenbremsen und Entgleisungsdetektoren an Waggons.

Der Anblick der Zerstörung im Gotthard-Basistunnel war schockierend. Als der DB-Cargo-Zug mit 30 Güterwaggons von Italien herkommend bei der Multifunktionsstelle Faido am vergangenen 10. August entgleiste, verursachten die aus der Spur geworfenen Güterwagen verheerende Schäden.

Gegen die Tunnelröhre gekippte Waggons, übers Trassee verstreute Güter, auseinandergerissene Schienen und ein zertrümmertes Tor, in dessen Rahmen ein zerstörter Waggon steckt, dahinter die Hälfte des entzweigerissenen Güterzugs, so präsentierte sich die Unfallstelle. Dazu sieben Kilometer zerstörtes Trassee. Infolge des Radbruchs hing die Achse des Waggons nach unten und zerschlug mehr als 20 000 Betonschwellen, die mitsamt den Schienen zu ersetzen sind. Zudem löste die Achse bei der zweiten Weiche der Multifunktionsstelle vermutlich den Spurwechsel aus, worauf der hintere Teil des Zugs das Tor rammte. Um bei der Zugdurchfahrt mit hoher Geschwindigkeit Luftturbulenzen sowie bei Brandfall Rauchaustritt in die Gegenröhre zu vermeiden, bleibt das sogenannte Spurwechseltor im Normalfall geschlossen. Einziger Lichtblick: Es kamen keine Menschen zu Schaden.

Der Zwischenbericht der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) vom 28. September nennt ein zerbrochenes Rad beim Waggon 11 als Ursache des Desasters. Es entstand ein Schaden von 130 Millionen Franken, und die Tunnelröhre bleibt voraussichtlich bis kommenden September gesperrt.

So lief der Entgleisungsunfall ab

Wie konnte das defekte Rad allen Sicherheitseinrichtungen der Bahn entgehen, und wie wäre eine solche Katastrophe künftig zu verhindern? Es sind Fragen, die auch die SRF-Sendung «Einstein» vom vergangenen 14. Dezember aufwarf, ohne sie jedoch schlüssig zu beantworten. Der Sust-Zwischenbericht führt den Radbruch auf Risse zurück, die sich ausgehend von der Lauffläche am Radkranz durch den Radsteg zur Achse hin entwickelten und dadurch zum Ermüdungsbruch führten.

Über die Entstehung der Risse will die Sust erst im Schlussbericht informieren. Explizit erwähnt sie aber, dass dieser Waggon über Bremsen des Typs LL (für low noise, low friction) verfügte. Diese bestehen aus Verbundstoffen. Bemerkenswert ist zudem ihr Hinweis auf zwei ähnliche aktenkundige Risse in typenähnlichen Rädern, die 2016/17 in Belgien und Italien entdeckt wurden. Dabei zitiert die Sust aus dem Sicherheitsalarm der EU-Eisenbahnagentur zu den zwei Vorfällen. Sie seien auf «thermische Überbeanspruchungen der Räder» zurückzuführen, und künftig sei eine Überwachung von Bremssohlen aus Verbundstoffen erforderlich.

Lärmarme Bremsen sind seit 2020 obligatorisch

Wenn Bremsen beim fahrenden Zug sich nicht mehr lösen, dann laufen die Räder heiss. Auf dem Schweizer Schienennetz sind über 120 stationäre Zugkontrolleinrichtungen (ZKE) installiert, die heissgelaufene Räder entdecken sollen. Spannungsrisse, die erst mit der Zeit entstehen, werden jedoch nicht detektiert, selbst die Zugkontrolleure des Bundesamts für Verkehr können bei sporadischen Kontrollen solche Risse kaum entdecken. Zielführend wäre es, Risse zu verhindern, sofern man weiss, welche Art von Bremsen die Überhitzung herbeiführen.

Der Tunnel bleibt über den 16. August hinaus für den Zugverkehr gesperrt

Die meisten Güterwaggons sind mit einem archaischen Bremssystem ausgerüstet, das aus der Zeit der Kutschenwagen stammt und auch an Fahrrädern des vorletzten Jahrhunderts eingesetzt wurde. Es ist ein Klotz, der auf das Laufrad drückt. Bei den Güterwaggons wird die Einwirkung über eine pneumatische Vorrichtung ausgelöst.

Während die neuen Personenzüge mit Scheibenbremsen ausgerüstet sind, bei denen Bremsbeläge beidseitig auf eine Scheibe drücken, sind bei Güterwaggons noch mehrheitlich Klotzbremsen montiert. Jedoch wurden um die Jahrhundertwende aus Umweltgründen anstelle der viel Lärm erzeugenden Klotzbremsen mit Graugusssohlen (GG-Sohlen) lärmärmere Bremsklötze mit K-Sohlen aus organischen Verbundstoffen entwickelt. Die Hersteller halten die Kunstharz-Zusammensetzung diese Komposite geheim.

Die Schweiz hat für die Lärmsanierung der Bahn gemäss Bundesamt für Verkehr (BAV) über 3 Milliarden Franken investiert, bis 2016 ist beim Rollmaterial der Personen- und Güterwagen die Umrüstung erfolgt. Während die Umrüstung von GG-Sohlen auf K-Sohlen wegen des höheren Reibungskoeffizienten nach einer kostspieligen Anpassung der Bremsmechanik verlangt, erfolgt die Umrüstung auf die neueren LL-Sohlen – ebenfalls aus Verbundstoff – ohne solche Anpassungen, da sie mit dem Reibungskoeffizienten und somit den Bremseigenschaften der Graugusssohlen gleichziehen und deshalb kostengünstiger sind. Seit 2020 dürfen in der Schweiz keine Güterwaggons mehr mit Graugusssohlen verkehren.

Verbundstoffsohlen sind verhängnisvoll

Die Evolution der Klotzbremse über zwei Jahrzehnte haben Rollmaterialexperten mit jahrelanger Diensterfahrung bei den SBB verfolgt. Aus ihren Erfahrungen geht hervor, dass es die lärmarmen Sohlen sind, welche Risse begünstigen können. «Mit Graugusssohlen hatten wir keine Probleme mit Rissen, denn sie führen viel mehr Wärme vom Rad weg als Kompositsohlen», sagt Ruedi Beutler, der als Ingenieur Schindler-Waggons in Pratteln konstruierte und später bei den SBB als Flotten-Manager des Personen- und Regionalverkehrs tätig war.

Die geringere Wärmeableitung habe denn auch vorsorglich zur Entwicklung spezieller Glockenräder geführt, deren Stege zwischen Radkranz und Achse gekrümmt sind, um Temperaturausdehnungen besser kompensieren zu können. Beutler findet, dass man die lärmarmen Sohlen nur mit Ablaufdatum hätte zulassen sollen und sie nach zwanzig Jahren auf ihre Zuverlässigkeit hätte überprüfen müssen. Denn durch LL-Sohlen gebremste Räder, die nach Erhitzung Risse bilden, können ihre eigentliche Aufgabe der Spurführung nicht mehr erfüllen. Scheibengebremste Güterwagen haben dieses Problem nicht.

Roland Müller war über zwanzig Jahre bei den SBB für die gesamte Laufwerktechnik beim Rollmaterial zuständig, führte dazu viele Versuche durch und erarbeitete Schulungsmaterial. Dem ETH-Maschineningenieur Müller ist nicht bekannt, dass ein Radbruch mit einer K-Sohle, also einer Sohle mit höherem Reibungskoeffizienten, aufgetreten ist. Müller sagt zu seinen Erfahrungen: «Versuche und der Betrieb zeigten, dass Verbundstoffsohlen thermisch resistenter sind als Grauguss-Bremssohlen. Dies kann infolge thermischer Überbeanspruchung zu Rissen an den Radlaufflächen führen, die senkrecht von der Lauffläche in das Radinnere wachsen.» Müllers Erfahrungen decken sich mit dem Sicherheitsalarm der EU-Eisenbahnagentur, wonach die Anwendung von Verbundstoffsohlen zu überprüfen ist.

Sowohl SBB Cargo wie auch Hupac, das in Europa führende Schweizer Unternehmen des kombinierten Verkehrs, teilen auf Anfrage mit, ihre Waggons mit K-Sohlen ausgerüstet zu haben, dazu verhalfen auch Fördergelder des Bundes. Bei den SBB sind es rund 4800 Waggons, dazu kommen erste 5 Waggons mit Scheibenbremsen, bei Hupac wurden bis Ende 2015 nahezu alle der 770 Bahnwagen mit K-Sohlen umgerüstet, 10 Prozent des Waggonparks sind inzwischen mit Scheibenbremsen bestückt.

Auf dem Schweizer Bahnnetz verkehren jedoch Güterwaggons aus ganz Europa. So gehörten die 30 Güterwaggons des im Gotthard-Basistunnel entgleisten Zugs unterschiedlichen Unternehmen, der Waggon mit dem Radbruch gehörte der schwedischen Transwaggon. Es dürften sehr viele internationale Waggons mit LL-Bremssohlen ausgerüstet sein, weil damit die auf 2020 zwingende Umrüstung mit einem Austausch der Sohlen vorgenommen werden konnte.

Waggon-Entgleisungsdetektoren fehlen noch immer

Der Ingenieur Beutler befürchtet deshalb, dass sich solche Unfälle wegen Radbrüchen erneut ereignen werden. Auch Hans-Peter Vetsch, ehemaliger Leiter Sicherheit Alptransit, findet die Situation äusserst unbefriedigend. Bereits im Jahr 2000 habe man in der quantitativen Risikoanalyse für den Gotthard-Basistunnel Entgleisungsdetektoren als sicherheitstechnische Ausrüstung von Güterwagen gefordert. Eingelöst wurden die Forderungen nicht. «Von den 10 Milliarden Franken für den Gotthard-Basistunnel wurde mit 3 Milliarden Franken fast ein Drittel in die Sicherheitsinfrastruktur gesteckt», sagt Vetsch und macht dabei auf eine falsche Sicherheitssymmetrie aufmerksam: «Die Infrastruktur wurde auf Kosten der Steuerzahler sicher gemacht, bei den Waggons, die den Unternehmern gehören, die damit Gewinne machen, drückt man beide Augen zu.»

Vetsch spricht sich für einen Bundesauftrag an ein Jungunternehmen oder ein Startup für die Entwicklung eines Waggon-Bewegungsmelders aus. Dieser würde Entgleisungen über WLAN an die Leitstelle oder den Lokführer in Echtzeit senden und dadurch das Anhalten des Zugs auslösen. Der vom BAV im «Einstein»-Bericht vorgeschlagene Entgleisungsalarm über die digitale automatische Kupplung (DAK) ist kaum realistisch, da viel zu teuer. In Deutschland geht man nach Schätzungen von etwa 8 Milliarden Franken aus. Aufgrund ihrer internationalen Kontakte lässt Hupac verlauten, dass die DAK als Entgleisungsdetektor die Bahnunternehmen viel zu teuer zu stehen käme. Auf der Nord-Süd-Achse verkehren zudem meistens Zugkompositionen mit fixen Wagenzusammensetzungen, an die jeweils nur die Loks neu gekuppelt werden.

Das Problem des Entgleisungsdetektors muss gelöst werden. Für Beutler und Vetsch ist dies nach dem verheerenden Unglück im Gotthard-Basistunnel dringend. Vetsch weist auf den acht Kilometer langen Hauenstein-Bahntunnel zwischen Olten und Sissach hin, in dem auch nach der momentanen Sanierung weiterhin Personen- und Güterzüge sich in derselben Tunnelröhre kreuzen. Was würde bei einem Crash mit einem gut besetzten Reisezug passieren? «Hundertfünfzig bis zweihundert Tote würde es geben», sagt der Sicherheitsexperte Vetsch.

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