Donnerstag, Januar 2

Kaum ein Präsident der USA wurde in Europa so anders wahrgenommen als in seiner Heimat. Nun ist Jimmy Carter im Alter von 100 Jahren gestorben. In Europa bleibt das Bild eines Friedensaktivisten, in Amerika gilt er als Symbolfigur des Scheiterns.

«Malaise»: Obwohl er das Wort selbst nicht gebrauchte, charakterisiert es nicht nur die berühmteste Fernsehansprache Jimmy Carters an die amerikanische Nation, sondern auch weite Teile seiner Präsidentschaft. Am 15. Juli 1979 versuchte der Präsident seine Landsleute von einigen unbequemen Wahrheiten zu überzeugen. Unter dem Motto, dass es eine Vertrauenskrise gebe, verband Carter ein eher allgemeines Lamentieren über wachsende Selbstzweifel in Amerika mit Ermahnungen dazu, vom bisherigen American Way of Life angesichts der weltweiten Energiekrise Abschied zu nehmen. Mit seiner Neigung zum Mikromanagement schlug er dann Details vor wie: das Auto einen Tag pro Woche in der Garage stehen zu lassen und die Thermostate daheim tiefer einzustellen, um Heizenergie zu sparen.

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Die erniedrigte Grossmacht

Der depressive Tenor der Rede, die zerknirschte Physiognomie des Präsidenten und seine leicht nuschelnde Sprache gaben vielen Amerikanern das Gefühl, dass die Probleme des Landes auf sie abgewälzt würden. Von der Führungsstärke, die man von einem Präsidenten erwartete, war in der Rede und bei anderen Auftritten Carters in jenem Jahr, dem dritten seiner Amtszeit, wenig zu spüren. Amerika, so schien es vielen, war eine gedemütigte Grossmacht, drangsaliert von wenig sympathischen, ihre Ölmacht ausspielenden Ländern im Nahen Osten. Niemand konnte ahnen, dass binnen weniger Monate auf die USA und ihren Präsidenten eine Demütigung ganz neuer Grössenordnung zukommen sollte.

Jimmy Carter war ein Aussenseiter, ein Politiker, der seine Karriere darauf aufbaute, nicht Teil des herkömmlichen Politbetriebs von Washington zu sein. Doch Mangel an Erfahrung bei gleichzeitig überhöhtem, teilweise religiös motiviertem Sendungsbewusstsein und die Berufung von ebenfalls unerfahrenen Beratern sind nicht unbedingt ein Erfolgsrezept in Zeiten aussen- wie innenpolitischer Herausforderungen.

Ihn als Provinzler zu bezeichnen, ist angebracht: Der am 1. Oktober 1924 in Plains, einem Dorf von wenigen hundert Einwohnern, im Gliedstaat Georgia geborene James Earl Carter verbrachte vor seiner Präsidentschaft nur einen Lebensabschnitt ausserhalb seiner Heimat im Deep South. Es war seine Zeit bei der Marine, wo er in der Atomunterseeboot-Flotte diente – ein modernes U-Boot der Seawolf-Klasse trägt seit 2004 seinen Namen. Nach dem Tod seines Vaters 1953 nahm Jimmy seinen Abschied von der Marine und führte zusammen mit seiner Frau Rosalynn die elterliche Erdnussfarm.

«Jimmy who?»

Nach einem ersten Amt in der lokalen Schulaufsicht begann Carters politische Karriere 1962 mit seiner Wahl in den Senat von Georgia. Sein erster Versuch, Gouverneur des Gliedstaates zu werden, scheiterte und stürzte ihn in eine Krise, aus der er als «wiedergeborener Christ» mit neuem und manchmal fast missionarischem Selbstbewusstsein hervorging. Im zweiten Anlauf wählten ihn die Bürgerinnen und Bürger von Georgia 1970 zu ihrem Gouverneur. Noch vor Ende seiner Amtszeit begann Carter, seinen Weg ins Weisse Haus zu planen.

Dass auf seine Ankündigung, 1976 für die Präsidentschaft zu kandidieren, viele Amerikaner mit dem Ausruf «Jimmy who?» reagierten, schadete Carter nicht. Nach Watergate und Vietnamkrieg wollten viele Amerikaner auch einen personellen Neuanfang, und Carter wurde als moralisch integer, intelligent und bürgernah wahrgenommen. Dem Amtsinhaber Gerald Ford verübelte man die Begnadigung seines Vorgängers Richard Nixon; in einer Fernsehdebatte mit Carter leistete sich Ford darüber hinaus den Flop, zu behaupten, Osteuropa werde nicht von der Sowjetunion dominiert. Carter wurde am 2. November 1976 knapp mit 40,8 Millionen zu 39,1 Millionen Stimmen (297 zu 240 im entscheidenden Wahlmännergremium) zum Präsidenten gewählt.

Die Wirtschaft war von Anfang an ein Problem für den neuen Präsidenten. Die Arbeitslosenquote lag bei 7 Prozent und stieg bald weiter an, die Inflation lag im zweistelligen Bereich, und die Mängel der Energieversorgung noch als Folge der Ölkrise von 1973 bedrückten das Land ökonomisch und mehr noch psychologisch. Carter, der das Energieministerium gründete, zeigte als erster Präsident die Notwendigkeit der Erschliessung alternativer Energiequellen auf und liess Solarpanels auf dem Weissen Haus anbringen. Im Laufe seiner ersten drei Amtsjahre verzeichneten die USA ein beträchtliches Wirtschaftswachstum, bis zu seiner Malaise-Rede entstanden 9 Millionen neue Arbeitsplätze. Eine neuerliche Energiekrise im Sommer 1979 und die Rezession im darauffolgenden Jahr machten die zunächst gute Bilanz – und die Stimmung – zunichte.

Erfolg in Camp David

Aussenpolitisch verzeichnete Carter im September 1978 seinen grössten Erfolg, als unter seiner Vermittlung der ägyptische Präsident Sadat und Israels Ministerpräsident Begin den Vertrag von Camp David unterzeichneten, der zum Frieden zwischen den beiden Ländern und zur Rückgabe des Sinai an Ägypten führte. Einen neuen Ansatz verfolgte Carter, indem er die Menschenrechte zu einem Leitmotiv einer neuen amerikanischen Aussenpolitik machte – oder zu machen versuchte. Dass er den USA geneigte Diktatoren in Lateinamerika und Afrika offen kritisierte, wurde ihm vom politischen Gegner als Schwäche vor dem Hintergrund des Wettstreites mit der Sowjetunion um globalen Einfluss ausgelegt.

Selbst politische Freunde waren über die Inkonsistenz der Carterschen Menschenrechtspolitik erstaunt: Dass er Sanktionen gegen das weisse Apartheid-Regime in Rhodesien durchsetzte (und damit seinen Teil zur Machtergreifung des Tyrannen Mugabe beitrug), aber gleichzeitig Waffen und andere Formen der Unterstützung dem philippinischen Diktator Marcos, dem indonesischen Staatschef Suharto und dem Königshaus von Saudiarabien zukommen liess, zeugte vom Fehlen eines klaren Konzeptes. Kritisiert wurde das aus heutiger Sicht gerechtfertigte Abkommen mit Panama, in dem die Rückgabe des Panamakanals an das mittelamerikanische Land geregelt wurde.

Das iranische Debakel

Der Anfang vom Ende der Präsidentschaft Jimmy Carters kam am 4. November 1979, exakt ein Jahr vor dem Wahltag, an dem er eine zweite Amtszeit zu erringen hoffte. An diesem Tag stürmte eine Menschenmenge, die je nach Einstellung des Betrachters als Ansammlung von Studenten oder Terroristen bezeichnet werden konnte, die amerikanische Botschaft in Teheran. Für 52 Amerikaner begann ein langes Martyrium. Die Administration Carter in Washington machte von Anfang an deutlich, dass sie auf eine diplomatische Lösung setzte. Dabei wurde indes übersehen, dass in Iran Verhältnisse herrschten, bei denen es mitunter schwer war, einen Gesprächspartner für diplomatische Verhandlungen zu finden.

Das Thema Geiselnahme drängte für die amerikanische Öffentlichkeit alles andere in den Hintergrund. Mit jedem neuen Tag wuchsen Wut und Frustration. Die Nachrichtensendungen der Fernsehstationen blendeten stets ein, wie viele Tage seit der Geiselnahme bereits verstrichen waren. Mancherorts wurde jeden Tag ein neues gelbes Band um Bäume geschlungen, als Symbol der lange ersehnten Heimkehr, an anderen Stellen wurde mit jedem Tag ein neues Sternenbanner in die Erde gepflanzt.

Carter erkannte verbittert, dass nichts anderes mehr in seiner Präsidentschaft zählte, und spürte die wachsenden Zweifel der Amerikaner an seiner Führungskraft. Im April 1980 entschied er sich für eine militärische Befreiungsaktion. Sie wurde zum Debakel von «Desert One», bei dem acht Amerikaner den Tod fanden. Der Präsident hatte erkennbar kein Konzept – nun hatte er auch keine Fortüne mehr.

Abwahl und Neuanfang

Die Präsidentschaftswahl vom 4. November 1980 wurde zur grössten Demütigung eines Amtsinhabers an der Wahlurne. Der Republikaner Ronald Reagan, der im Gegensatz zum sauertöpfischen Carter Optimismus ausstrahlte und versprochen hatte, «Amerika wieder gross zu machen», gewann im Wahlmännergremium erdrutschartig mit 489 zu 49 Stimmen. «It hurts», war Jimmy Carters Kommentar noch in der Wahlnacht. Der Schmerz über diese herbe Niederlage war Carters Antrieb für seine vielfältigen, bis in die letzten Lebensmonate betriebenen Aktivitäten. Der Ex-Präsident wollte als Wohltäter, nicht als Verlierer in die Geschichtsbücher eingehen.

Ein Motor bei diesem Bestreben war auch seine Frau Rosalynn, deren Ehrgeiz jenen ihres Mannes noch übertraf (die First Lady nahm während dessen Präsidentschaft zum Entsetzen der Ministerriege an Kabinettssitzungen teil und beglückte dort die Anwesenden mit ihren Ratschlägen). Nach 1981 trat Carter wiederholt als – manchmal selbstberufener – Vermittler in internationalen Krisen auf. Das von ihm 1982 in Atlanta gegründete Carter Center ist als Nonprofitorganisation für die Stärkung der Menschenrechte und die Bekämpfung von Krankheiten in armen Ländern international angesehen. Es wurde auch bekannt für Wahlbeobachtung in zahlreichen Ländern. Für die Organisation Habitat for Humanity war Carter in vielen sich entwickelnden Ländern im Einsatz – Bilder des den Hammer an einer Baustelle schwingenden Jimmy Carter gingen um die Welt.

Carter, Autor von mehr als zwanzig Büchern, äusserte sich in der ihm eigenen Offenheit häufig zu aktuellen politischen Fragen. Dabei kritisierte er die aggressive Aussenpolitik von George W. Bush ebenso wie die Besetzungspolitik Israels, die er als Apartheid bezeichnete. Das Nobelpreiskomitee in Oslo verlieh ihm 2002 den Friedensnobelpreis, was neben der Ehrung für Carters Engagement auch als Ohrfeige für Bush gedacht war, der bereits seinen fatalen Irakkrieg plante.

So bleibt das Bild einer Person der Zeitgeschichte mit Licht und Schatten. Das Schicksal – oder die Natur – hielt immerhin eine Art ausgleichende Gerechtigkeit für den Mann bereit, den die Wähler buchstäblich aus dem Weissen Haus gefegt hatten. Keinem anderen ehemaligen Präsidenten war bis zu seinem Tod am 29. Dezember 2024 eine so lange und von guter körperlicher und geistiger Gesundheit gekennzeichnete Zeitspanne nach dem Ausscheiden aus dem hohen Amt vergönnt. Vor dem Hintergrund sich vertiefender Polarisierung erhielt er zudem späte Wertschätzung auch von vielen Amerikanern, die den 39. Präsidenten nie gewählt haben: Bei all seinen Schwächen verkörperte Jimmy Carter Humanismus, feinfühlige Sensibilität und Liebe zu seinen Mitmenschen. Er war nicht der grösste Präsident. Aber vielleicht der mit dem grössten Herzen.

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