Mittwoch, Oktober 2

Der Versicherer Zurich arbeitet seit Jahren profitabel. Im Interview äussert sich der Konzernchef Greco zu geplanten Dividendenzahlungen, zum CS-Kollaps und zur 10-Millionen-Schweiz.

Herr Greco, Sie sind seit 30 Jahren in der Versicherungsbranche tätig. Wie hat sich diese in dieser Zeit verändert?

Versicherungen sind eine «normale» Branche geworden. Sie waren über Jahrhunderte überreguliert und geschützt. Ich begann meine Laufbahn zu einer Zeit, als die Behörden unsere Preise einfach festlegten. Niemand kümmerte sich um die Kunden. Sie mussten eine Versicherungspolice kaufen, und es war ihnen egal, bei wem sie landeten. Der Preis war bei allen Versicherern derselbe. Heute werden wir in Europa zwar immer noch reguliert, aber nicht vor dem Wettbewerb geschützt. Die Kunden können uns jederzeit verlassen. Bei Zurich wollten wir nicht von der Konkurrenz in der Branche überholt werden, sondern selbst der Disruptor sein.

Ist die Beziehung nicht einseitig? Für den Kunden bleibt die Versicherungsdeckung doch etwas Mühsames, mit dem er sich nicht freiwillig beschäftigt.

Im Privatkundengeschäft und speziell bei der Motorfahrzeugversicherung stimmt das – man kann sich fast nur über den Preis abheben. Der Kunde will sich nicht damit beschäftigen, ausser es passiert etwas. Aber im Firmenkundengeschäft ist das anders, und auch im Privatkundengeschäft gibt es heutzutage interaktive Dienstleistungen. Bei unserem Gesundheitsprogramm LiveWell geht es zum Beispiel nicht darum, Krankheiten zu behandeln, sondern solche mit Prävention zu verhindern. Bereits 4,5 Millionen Kunden nutzen das Programm.

Mischen Sie sich nicht zu stark ins Privatleben ein, wenn Sie den Kunden sagen: «Iss nicht zu viele Süssigkeiten!»?

Es ist immer der Kunde, der nach der Dienstleistung fragt. Wenn wir etwa Hauseigentümer dabei beraten, ob sie Solarpanels oder ein neues Heizsystem installieren sollen, dann deshalb, weil sie uns um Rat oder Hilfe gebeten haben.

Die Marktöffnung hat für Versicherer eine Kehrseite. Der Burggraben, den die Regierungen um Ihr Geschäft gezogen hatten, ist weg. Wer sind aus dieser Sicht Ihre neuen Wettbewerber?

Wir selbst wollen der Herausforderer der Versicherungsbranche sein und haben ganz andere Fähigkeiten hinzugewonnen. Zum Beispiel begutachten wir zahlreiche Schadenmeldungen unserer Geschäftskunden heute mit Drohnen. Wir haben Mitarbeitende, deren Aufgabe es ist, Drohnen zu fliegen.

Für Ernteausfallversicherungen?

Auch für Flutschäden, die man nicht sofort inspizieren konnte. Heute können wir dem Kunden dank den Drohnen sehr rasch mitteilen, was passiert ist. Es findet eine digitale Revolution statt, und wir wollen bei dieser Umwälzung an der Spitze stehen.

Aber sind Sie zufrieden, dass die Investoren Sie noch immer als zuverlässige, etwas langweilige Versicherungsfirma sehen?

Ja, kein Investor will auf eine Achterbahnfahrt, oder? Anleger wollen Sicherheit.

Nun ja, manche investieren lieber in Tesla und einen CEO, der alle paar Wochen eigenwillige neue Ideen präsentiert.

Dort sprechen wir von einer Branche und einem Produkt mit einem Wachstum im bis zu dreistelligen Prozentbereich. Das kann die Versicherungsbranche nicht bieten – es ist ja keine ganz neue Branche.

Aber wenn US-Staatsanleihen wie derzeit fast 5 Prozent Zins einbringen, sind Dividendentitel wie Zurich im Nachteil.

Natürlich vergleichen uns die Investoren, wenn wir eine Dividendenrendite von über 6 Prozent bieten, mit Staatsanleihen. Insgesamt gesehen sind die höheren Zinsen für unser Geschäft aber sehr hilfreich. Die Negativzinsen waren für uns unglaublich anspruchsvoll. Sie waren für uns in den letzten Jahren die grösste Herausforderung, trotz Pandemie, Kriegen, Inflation und einer Rezession.

Sie haben die Dividende erhöht, ein Aktienrückkaufprogramm angekündigt und wollen langfristig 75 Prozent Ihrer Gewinne ausschütten. Bleibt da noch genug übrig, um in die Zukunft zu investieren?

Ja. Seit neun Jahren sagen wir unseren Investoren, dass wir einen Teil der Liquidität bei uns behalten, aber drei Viertel unserer Gewinne an die Aktionäre ausschütten. Wir haben Akquisitionen im Wert von bis zu 4 Milliarden US-Dollar selber finanziert. Aber wir versuchen nicht, Taschengeld für allfällige grössere Übernahmen bereitzuhalten. Das ist ineffizient und nicht transparent unseren Anlegern gegenüber. Wenn wir ein grösseres Kaufziel vor uns haben, werden wir uns nicht scheuen, die Aktionäre nach dem Kapital zu fragen.

Die Zurich-Aktie hat den SMI über drei und fünf Jahre geschlagen, aber im laufenden Jahr hinkt sie dem Index hinterher. Wie kam es dazu, und wie planen Sie die Aktie voranzubringen?

Wir managen nicht unseren Aktienwert, sondern die Profitabilität und das Wachstum des Geschäfts. Der Markt hat positiv auf unsere Ergebnisse vom letzten Jahr reagiert. Sollten wir 2024 unseren Rekord von letztem Jahr übertreffen, gehe ich nicht davon aus, dass wir schlechter als der Markt abschneiden werden.

Die Kosten im Geschäft mit Privatkunden sind noch immer zu hoch. Haben Sie weitere Massnahmen vorgesehen, um das Problem anzugehen?

Dieses Geschäft wurde 2021 und 2022 vom massiven Inflationsschub getroffen. Wir wussten von Beginn an, dass es drei Jahre, also bis 2025, dauern wird, um die normale Profitabilität wiederzuerlangen. Das Wachstum beschleunigt sich in diesem Jahr, und die Profitabilität erholt sich so rasch, wie wir das erwartet haben.

Doch die Inflation ist noch nicht bezwungen.

Das stimmt, aber das Problem ist nicht das Niveau der Inflation, sondern ein plötzlicher Sprung, wie er sich 2021 ereignete. 2020 war alles gedämpft wegen der Pandemie – 2021, als die Welt wieder hochgefahren wurde, kam es vielerorts zu zweistelligen Inflationsraten.

Die Zentralbanken wissen noch immer nicht genau, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Welche Szenarien bereiten Ihnen derzeit am meisten Sorgen?

Dasjenige, an das ich heute noch nicht denke. Wir bereiten zahlreiche Szenarien vor: eine Rückkehr starker Inflation, Desinflation, eine erneute Rezession, neue kleinere Kriege. Aber ich frage mich andauernd, was uns alle überraschen könnte.

Ein bekanntes Risiko ist das Auseinanderbrechen der Wirtschaftsblöcke. Beide Präsidentschaftskandidaten in den USA wollen den Handelskrieg mit China verschärfen. Ihre Kunden und deren globale Lieferketten wären einem solchen Szenario stark ausgesetzt. Wie bereiten Sie sich darauf vor?

Es geht nicht ums Vorbereiten – es ist ja bereits geschehen, nicht? Wir sind zwar ein globaler Versicherer, aber wir handeln überall lokal. In den USA sind wir zum Beispiel ein amerikanisches Unternehmen. Wir führen unser dortiges Geschäft nicht aus Zürich, sondern aus Chicago. Dasselbe tun wir auch in jedem anderen Land der Welt.

Wird diese Deglobalisierung voranschreiten?

Ja, denn die Globalisierung, wie sie umgesetzt wurde, verbesserte die Lebensumstände der Menschen in den Schwellenländern und ist den Konsumenten überall zugutegekommen. Doch sie hat in den westlichen Ländern für viel soziale Unruhe gesorgt und erhebliche geopolitische Risiken geschaffen. Dies sind die Ursprünge der Kraft, welche nun die Globalisierung zurückdrängt. In der Vergangenheit wurden die meisten Globalisierungswellen durch Kriege gestoppt. Dieses Mal war es kein militärischer, sondern ein sozialer Konflikt. Aber ich bin sicher, dass es in den nächsten 15 Jahren einen neuen Versuch zur Globalisierung geben wird – und wir es dieses Mal wahrscheinlich besser machen werden.

Was heisst es da für Zurich, ein Schweizer Unternehmen zu sein?

Es bedeutet, dass wir auf der ganzen Welt als Botschafter der Schweiz auftreten. Die Schweiz steht für Zuverlässigkeit, Neutralität, eine hohe Qualität der Dienstleistungen. Diese Werte tragen wir in die Welt hinaus. Wir haben kürzlich in Indien die Mehrheit des Versicherungsgeschäfts von Kotak Mahindra gekauft – in einem Land, in dem wir vorher keine Lizenz hatten. Wir wurden als Schweizer Unternehmen wahrgenommen; das war wichtig, um den Zuschlag zu erhalten.

Wird die Schweiz denn noch immer mit diesen Werten assoziiert? Wir haben das Ende der Credit Suisse erlebt, und die Sanktionspolitik hat zahlreiche Fragen zu unserer Neutralität aufgeworfen.

Niemand ist perfekt, aber ja, die Schweiz wird immer noch mit diesen Werten assoziiert. In Indien boten auch andere ausländische Unternehmen mit. Aber die Schweiz wird von den Indern als freundlich wahrgenommen, und das hat uns zweifellos geholfen.

Es hätte einen Unterschied gemacht, wenn Zurich ein britisches oder amerikanisches Unternehmen gewesen wäre.

Auf jeden Fall.

In Indien mag die 13. AHV-Rente kein Thema sein, hier aber schon. Bald schon könnten wir noch weitreichendere Subventionen im Gesundheitswesen beschliessen, ohne dass die Finanzierung gesichert wäre. Sind wir vom Weg abgekommen?

Ich denke nicht, dass die Schweiz Rückschritte macht. Jedes Land tut sich mit Gesundheitsfragen schwer. Jedes Land hat Budgetprobleme und kämpft mit der Energiepolitik. Die Pandemie und Investitionen in die Nachhaltigkeit haben die Budgets der europäischen Staaten sehr strapaziert. Die Schweiz hat noch immer ziemlich gesunde Finanzen.

Im Nachgang des Niedergangs der Credit Suisse soll die Finanzmarktaufsicht ausgebaut und die Kapitalisierung von Finanzunternehmen noch genauer überprüft und reguliert werden. Einige der Massnahmen könnten auch die Versicherer betreffen. Sorgen Sie sich, dass wir übertreiben?

Das kann immer passieren, aber ich habe nichts beobachtet, was diese Befürchtungen bestätigen würde. Die Versicherungsbranche hat keinen Bedarf für weitergehende Regulierungen. Wir sind kein Problem für das System. Wir haben über die Jahre hinweg bewiesen, dass wir nicht um staatliche Hilfe bitten müssen. Banken scheitern in der Regel an Liquiditätsproblemen, das kann bei uns nicht passieren.

Aber Kapitalprobleme können bei Versicherern auch auftreten.

Ja, aber wir sind das Gegenteil von Banken: Unsere Kunden können nicht wählen, wann sie ihr Geld zurückerhalten. Die Schweiz hat mit die härtesten Kapitalvorschriften für Versicherer weltweit. Wir stehen im Wettbewerb mit amerikanischen Unternehmen, die viel laxere Kapitalregeln kennen. Ich sehe keinen Grund, weshalb wir die Situation noch verschlechtern müssen.

Wird Ihre Stimme gehört, wenn es jetzt um die zukünftige Regulierung geht?

Wir versuchen immer wieder zu erklären, dass wir keine Banken sind. Diese hatten tatsächlich bedeutende, auch strukturelle Probleme. Es war ja nicht bloss die Credit Suisse, wir hatten 2023 auch die amerikanische Bankenkrise. Banken sind in der ganzen Welt gescheitert, Versicherungen nicht. Es sind zwei sehr unterschiedliche Branchen, die völlig verschieden funktionieren. Folglich müssen sie auch verschieden reguliert werden. Wir fordern nicht ein, dass wir nicht reguliert werden, aber die Regulierung muss anders sein als diejenige für die Banken.

Laut Medienberichten war der Versicherer Swiss Life am Kauf von Credit Suisse Schweiz interessiert. War das für Zurich auch eine Option?

Nein, absolut nicht. Wir sind ein Versicherungsunternehmen und interessieren uns grundsätzlich nicht für die Übernahme von Teilen von Banken. Wir prüfen das erst gar nicht. Das gilt generell, nicht nur für die Credit Suisse.

Ist es für Zurich interessant, Mitarbeitende der Credit Suisse zu übernehmen? Momentan sind ja viele Spezialisten auf dem Markt . . .

In einigen Fällen haben wir von der Situation bei der Credit Suisse profitiert. Wir suchen nach Versicherungsspezialisten – aber primär intern. Wir wollen offene Positionen zumindest zu 75 Prozent mit internen Leuten besetzen. Deshalb haben wir in den vergangenen Jahren ein grosses Programm lanciert, um die entsprechenden Fähigkeiten intern weiterzuentwickeln.

Der Fachkräftemangel ist ein grosses Thema in der Schweiz. Wie schwierig ist es für Zurich, in verschiedenen Bereichen Mitarbeiter zu finden?

Für uns ist es nicht schwierig, gute Leute anzuziehen. Diese wissen, dass es unserem Unternehmen gutgeht. Ausserdem haben wir eine starke Marke, und die Schweiz ist ein sehr attraktives Land.

Ende 2025 wird der dritte dreijährige Finanzzyklus von Zurich unter Ihrer Regie abgeschlossen sein. Treten Sie danach ab?

Der Zurich-Konzern wird mittels Drei-Jahre-Plänen geführt, die vom Verwaltungsrat bestätigt werden. Meine Vereinbarung mit dem Verwaltungsrat sieht vor, dass ich den derzeitigen Plan, der bis Ende 2025 läuft, bis zum Ende betreue. Danach wird es einen neuen Plan geben, und der Verwaltungsrat und ich werden gemeinsam entscheiden, was ich zu tun habe.

Zurich ist stolz auf mehrere interne Nachfolgeregelungen. Muss Ihr Nachfolger also auch aus den eigenen Reihen kommen?

Viele wichtige Positionen bei uns wurden in letzter Zeit intern besetzt. Als neuen Chef unseres amerikanischen Unternehmens Farmers haben wir zum Beispiel Raul Vargas von Spanien nach Los Angeles geschickt. Die Chefin für die Region Asien-Pazifik ist unsere ehemalige Grossbritannien-Chefin Tulsi Naidu. Nicht alle Führungspositionen werden aber intern besetzt. Vor kurzem kam unsere Finanzchefin Claudia Cordioli vom Schweizer Rückversicherer Swiss Re zu uns.

Es mag einfach sein, in anderen Ländern Fachkräfte für Stellen in der Schweiz zu rekrutieren. Dies trägt aber auch zu einer starken Zuwanderung bei und sorgt für politische Diskussionen.

Die Menschen lieben den «Swiss way of life». Ich verstehe es, wenn man sich Sorgen darüber macht, dass die Schweiz bald mehr als 10 Millionen Einwohner haben könnte. Die Schweiz ist ein kleines Land, und sie wird nicht grösser. Aber sehen wir es auch positiv: Bisher hat das Land die Zuwanderung recht gut verkraftet und es geschafft, dass sich die meisten Zuwanderer gut integrieren.

Zeigt die Zuwanderung lediglich die Attraktivität der Schweiz, oder ist sie ein Problem?

Auch andere Länder haben sich verändert. Man denke beispielsweise an die USA und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. In der Schweiz gibt es ein Gefühl der Planbarkeit und der Sicherheit. In anderen westlichen Ländern ist das nicht mehr zwingend gegeben.

Was heisst dies für die Beziehung der Schweiz zu Europa und zur EU?

Für mich ist es schwierig, hier meine Meinung abzugeben, weil ich noch nicht Schweizer Bürger bin. Das Problem in den Beziehungen der Schweiz mit Europa ist, dass die EU nach dem Brexit nicht flexibel ist. Die Botschaft lautet: «Entweder man ist zu 100 Prozent in der EU oder draussen, dazwischen gibt es nichts.» Ich persönlich glaube nicht, dass die Schweiz zu 100 Prozent in der EU mitmachen kann.

Die Schweiz hat bereits ein Netz von Abkommen mit der EU. Die Gespräche über ein Rahmenabkommen, mit dem die Zusammenarbeit mit der EU neu geregelt werden sollte, hat der Bundesrat 2021 aufgrund der grossen Differenzen abgebrochen. Wie geht es hier weiter?

Der Brexit hat die zuvor verfügbaren Optionen zunichtegemacht. Vorher waren die Verhandlungen mit Brüssel einfacher.

Sollte sich die Schweiz also stärker von Europa distanzieren?

Das würde ich nicht sagen. Es ist im schweizerischen Interesse, mit Europa verbunden zu sein, und es ist im Interesse Europas, dass die Schweiz sich anschliesst. Die Schweiz liegt im Zentrum Europas, und das nicht nur geografisch. Es ist jedoch ein schwieriger Weg, der EU nah zu sein, aber kein Mitglied zu sein. Ich verstehe, weshalb der Bundesrat Probleme damit hat, ein Rahmenabkommen mit der EU auszuhandeln.

Ein Urgestein der Versicherungsbranche

Mario Greco ist seit März 2016 Konzernchef des Schweizer Versicherers Zurich. Zuvor war er ab 2012 CEO der italienischen Versicherung Generali, zwischen 2007 und 2012 war er bereits bei Zurich tätig gewesen. Weitere berufliche Stationen absolvierte der 1959 geborene Italiener als CEO der Eurizon Financial Group, bei der Sanpaolo IMI Group, bei der Allianz sowie bei dem Beratungsunternehmen McKinsey. Greco hat einen Bachelor-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften von der Universität Rom sowie einen Master in International Economics and Monetary Theory von der Universität Rochester.

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