Samstag, März 29

Ohne Aufsehen zu erregen, nehmen Armee und Luftwaffe stillgelegte Festungen und Militärflugplätze wieder in Betrieb. Andere Länder gehen noch weiter und kaufen Munitionsfabriken zurück.

«Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee.» Diesen Satz schrieb der Bundesrat 1988 in die Abstimmungsbotschaft zur Armeeabschaffungsinitiative. Mit einem Effektivbestand von 800 000 Armeeangehörigen, 800 mobilen Artilleriegeschützen, 600 Kampfpanzern und 260 Kampfflugzeugen war die Schweiz 1990 immer noch eine militärische Macht in Europa. Der sorgsam gepflegte Mythos von der Schweiz als wehrhaftem Stachelschwein geriet allerdings schon damals ins Wanken.

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34 Jahre später und vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine stellt sich die Lage der Schweizer Armee völlig anders dar. Die Schweiz verfügt effektiv nur noch über 147 000 Soldatinnen und Soldaten, 133 mobile Artilleriegeschütze, 134 Kampfpanzer sowie 55 Kampfflugzeuge. Noch gravierender als die geschrumpften Bestände ist der teilweise miserable Zustand des verbliebenen Materials.

Die Mängelliste ist schier endlos. Sie reicht von der Konzeption, bei der der neue Verteidigungsminister Martin Pfister möglichst rasch ein bundesrätliches Zielbild für eine wehrhafte Armee definieren muss, bis zum einfachen Soldaten. So warten die Armeeangehörigen seit Jahren auf eine neue Kampfbekleidung und decken sich deshalb teilweise privat mit militärischem Material ein. Von den rund 20 000 Radfahrzeugen der Armee steht jedes fünfte in der Werkstatt, wie der «Blick» berichtete. Dies, weil das Fachpersonal für den Unterhalt fehlt.

Brücken wieder mit Sprengstoff bestücken

«Mir blutet das Herz angesichts dieser Situation», sagt der SVP-Nationalrat David Zuberbühler. Die Schweiz habe die Armee in den vergangenen Jahrzehnten in praktisch allen Belangen sträflich vernachlässigt. «Das rächt sich nun.» Es sei «verrückt», dass der seit über drei Jahren andauernde Krieg in der Ukraine nicht schneller zu einem Umdenken geführt habe. «Es darf doch nicht sein, dass wir erst 2032 beginnen, gerade einmal ein Prozent des Bruttoinlandprodukts zu investieren – und damit noch immer deutlich weniger als die Nato-Mitgliedstaaten. Damit bleibt unsere ausgeblutete Armee weit von einer echten Einsatzfähigkeit entfernt», sagt der Ausserrhoder Politiker.

Zuberbühler fordert, dass die Schweiz möglichst rasch Lehren aus dem gegenwärtigen Kriegsgeschehen zieht. «Der Ukraine-Krieg zeigt überdeutlich, dass bewährte Konzepte aus dem Kalten Krieg nach wie vor relevant sind.» So unterbrechen die Ukrainer durch die gezielte Sprengung von Brücken, Tunneln und anderer Infrastruktur die Nachschublinien der gegnerischen Truppen. Auch die Schweiz verfolgte lange Zeit eine ähnliche Strategie, indem sie im Falle eines feindlichen Vormarschs gezielt Strassen- und Brückenverbindungen zerstören wollte.

Ab dem Ende der 1970er Jahre wurde das Konzept «Permanentes Spreng-Dispositiv 75» eingeführt. Damit wurden rund 2000 Stellen für eine gezielte Zerstörung vorbereitet. Der Sprengstoff wurde direkt in strategisch wichtige Objekte an den Hauptverkehrsachsen eingebaut. Innerhalb von zwei bis drei Stunden konnten Strassen und Bahnlinien so beschädigt werden, dass ein anrückender Feind viel Zeit, Material und Personal benötigt hätte, um durchzukommen. Bis Ende 2014 wurde der Sprengstoff aus allen permanent beladenen Objekten entfernt.

Doch während Zuberbühler diese alte Verteidigungstaktik als Vorbild sieht, hält die heutige Armeeführung wenig davon. Die scheidende Verteidigungsministerin Viola Amherd erteilt Zuberbühlers Idee deshalb eine klare Absage. «Mit der Entwicklung präziser Waffensysteme und der damit veränderten Bedrohungslage seit dem Ende des Kalten Krieges haben Bedeutung und militärischer Nutzen solcher Kampfinfrastrukturen stark an Wert verloren», schreibt das Verteidigungsdepartement (VBS). Aus technischer Sicht könnten Objekte mit noch vorhandenen Anlagen teilweise wieder in Betrieb genommen werden. Ein Wiederaufbau der alten Anlagen würde 15 Jahre dauern.

Zuberbühler spricht von einer verpassten Chance und will seine Idee in der Sicherheitspolitischen Kommission vertieft diskutieren. «Dass der Wiederaufbau ganze 15 Jahre dauern soll, wirke wie eine bequeme Ausrede, um das Thema abzuhaken», so Zuberbühler. Andere Länder hätten in weit kürzerer Zeit moderne Verteidigungsinfrastruktur geschaffen – «warum sollte das in der Schweiz unmöglich sein?» Statt sich hinter vermeintlichen technischen Hürden zu verstecken, müsse der Bundesrat ernsthaft prüfen, wie eine beschleunigte Umsetzung machbar wäre.

Neue alte Ausweichflugplätze

Bei der Luftwaffe will das Verteidigungsdepartement wieder auf Infrastruktur aus dem Kalten Krieg setzen, die vorher aus wirtschaftlichen Gründen verkauft worden war. Es will die vor Jahren zivil umgenutzten Militärflugplätze in Buochs (NW), Mollis (GL) und St. Stephan (BE) künftig wieder nutzen. Die Reduit-Flugplätze, von denen bis 2017 Kampfjets abhoben, sollen «für kurzzeitige Übungen genutzt werden, unter anderem auch für einzelne wenige Flüge mit Kampfjets», schreibt das VBS. Die betroffenen Kantone können bis am 30. April zu den Plänen Stellung nehmen.

Als Grund für die Neukonzeption nennt der Bund die «veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen». Deshalb sollen die militärischen Flugbewegungen vermehrt dezentralisiert werden. Konkret sollen Ausweichmöglichkeiten geschaffen werden, falls die offiziellen Militärflugplätze Payerne (VD), Meiringen (BE) und Emmen (LU) durch feindliche Angriffe unbrauchbar werden.

In dieses Bild passt auch, dass die Luftwaffe im Juni 2024 nach über dreissig Jahren Unterbruch wieder Kampfjets auf einer Schweizer Autobahn starten und landen liess. Die Übung mit acht F/A-18 auf der A 1 bei Payerne geriet zum Spektakel und wurde live von SRF übertragen. Am kommenden Montag startet und landet die Luftwaffe mit F/A-18-Kampfjets auf dem Flughafen Bern und betreibt während dreier Tage den militärischen Flugdienst ab dem zivilen Standort. Weitere solcher Fähigkeitsübungen, wie sie im Militärjargon heissen, folgen.

Bis vor kurzem hatte der Bund einen solchen Rückfall in die Zeiten des Reduits und des Kalten Krieges noch als überholtes Konzept bezeichnet. Ein ähnliches Umdenken hat auch bei den Festungen stattgefunden. Noch im Mai 2022 wollte der Bundesrat nichts davon wissen, Festungsanlagen und Festungstruppen zu reaktivieren. Dies hatte der SVP-Nationalrat Bruno Walliser gefordert.

Allerdings liess sich die Landesregierung damals ein Hintertürchen offen. Der Krieg in der Ukraine dauere noch an, und man werde die Erkenntnisse aus der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Lage laufend analysieren. Im Februar 2023 erklärte der Armeechef Thomas Süssli überraschend, die Armee prüfe, ob sie einen Teil der Festungsminenwerfer behalten wolle. Die Festungen sollen als Minenwerfer oder als militärische Anlage für andere Zwecke erhalten bleiben.

Konkret geht es um die Reste der 112 12-Zentimeter-Festungsminenwerfer, die zwischen 1960 und 2003 installiert wurden, um bei einem feindlichen Einmarsch wichtige Verkehrsachsen und Infrastrukturen wie Flughäfen zu beschiessen und zu zerstören. Ein grosser Teil dieser Geschütze ist seit Jahren ausser Betrieb, aber nach wie vor vorhanden. Sollten sie wieder in Betrieb genommen werden, würde es dafür einen Parlamentsbeschluss und die Aufnahme in ein Rüstungsprogramm brauchen. Relativ schnell könnten die Festungen jedoch für andere Zwecke verwendet werden, beispielsweise als geschützte Kommunikationsknotenpunkte oder Munitionslager. Offenbar trifft die Armee bereits entsprechende Vorbereitungen.

Soldaten kehren in Festungen zurück

«Ich habe meine Zweifel, ob diese rückwärtsgewandten Ansätze immer das richtige Mittel sind», sagt der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli. Bevor unkoordinierte Sofortmassnahmen lanciert würden, müsse der Bundesrat ein Zielbild und eine darauf abgestimmte strategische Ausrichtung einer verteidigungsfähigen Armee erarbeiten. Das Parlament hat eine entsprechende Motion von Dittli überwiesen. Der neue Verteidigungsminister Martin Pfister ist nun verpflichtet, ein Konzept zur weiteren Ausrichtung der Armee vorzulegen.

Für die militärische Landesverteidigung habe während der zweiten Hälfte des Kalten Krieges die «Konzeption 66» gegolten, bestehend aus statischer und mobiler Abwehr, so der Militärhistoriker Rudolf Jaun. «Sie war bis 1994 die ‹heilige Schrift› der Armee, die Verfahren, Mittel und Ziele des militärischen Kampfes festlegte, aber auch die Grenzen der Rüstungsfinanzierung aufzeigte.» Danach wurde sie durch das Konzept der dynamischen Raumverteidigung abgelöst. Mit den Armeereformen bis 2014 wurden jedoch viele der entsprechenden Strukturen und Anlagen ausser Dienst gestellt.

«Natürlich kann man sich denken, dass eine gewisse Anzahl von Festungsminenwerfern erhalten geblieben ist. Ob eine Reaktivierung möglich und sinnvoll ist, ist eine andere Frage», gibt der Militärhistoriker zu bedenken. Jaun glaubt, dass es sich bei den Übungen auf den ehemaligen Militärflugplätzen um ein «Management des Lärmproblems» handle. «Es geht auch um PR. Der Bund will den Anwohnern von Payerne, Meiringen und Emmen signalisieren, dass sie die Lärmbelastung nicht allein tragen müssen.»

Dänemark kauft Munitionsfabrik zurück

Es gibt einige Entscheide der vergangenen Jahre, die die Verantwortlichen gerne rückgängig machen würden. Dazu zählt der Verkauf der Munitionsfabrik Thun Swiss P Defence an den italienischen Beretta-Konzern. Der Schritt erfolgte Anfang März 2022, unmittelbar nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Nun besteht die Gefahr, dass die Munitionsproduktion mittelfristig reduziert oder ins Ausland verlagert werden könnte, trotz der für fünf Jahre abgegebenen Standortgarantie. Dies, weil verschiedene Staaten kein Schweizer Kriegsmaterial mehr beschaffen wegen der restriktiven Exportbedingungen.

«Dem Bundesrat ist angesichts der sich verschlechternden sicherheitspolitischen Lage bewusst, dass ein Verbleib der Swiss P in der Schweiz für die Armee vorteilhaft wäre», schreibt das VBS in der Antwort auf eine Interpellation des SVP-Ständerats Werner Salzmann. Der Sicherheitspolitiker will wissen, ob der Bundesrat sich einen Rückkauf der Firma durch die Logistikbasis der Armee vorstellen könnte.

Viola Amherd erteilte dieser Idee vergangene Woche im Ständerat eine Absage. Dem Bund würden dafür die finanziellen Mittel fehlen. Ausserdem hätte das Unternehmen auch dann ein Problem, wenn es vom Bund gekauft würde, sagte die Verteidigungsministerin. Rentabel müsse das Unternehmen auf alle Fälle sein, erklärte sie im Ständerat.

In Dänemark hat bereits ein Umdenken stattgefunden. Kürzlich gab das dänische Verteidigungsministerium bekannt, dass es einen Vertrag mit dem norwegischen Rüstungsunternehmen Nammo abschliessen wolle. Die dänische Tochter von Nammo soll eine stillgelegte Munitionsfabrik in Elling wieder in Betrieb nehmen. Dort sollen künftig 155-mm- und 120-mm-Granaten sowie Patronen der Kaliber 5,56 und 7,62 mm hergestellt werden.

«Die sich verschlechternde sicherheitspolitische Lage, der Krieg in der Ukraine und die kürzlich aktualisierte Bedrohungseinschätzung der Nachrichtendienste unterstreichen, wie wichtig es ist, die zukünftige Munitionsproduktion in Dänemark zu sichern», erklärte der dänische Verteidigungsminister Troels Lund Poulsen.

Die Angst, weitere Fehler zu machen und das Tafelsilber zu verkaufen, ist gross. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat das Parlament die Privatisierung von Beyond Gravity (ehemals Ruag Space) abgelehnt. Der Bundesrat wollte das aus der Ruag Holding AG hervorgegangene Unternehmen an Private verkaufen, mit Ausnahme jener Unternehmensteile, die für die Sicherstellung der Armeeausrüstung notwendig sind. Das Parlament plant zwar kein Schweizer «Star Wars»-Programm wie dereinst Ronald Reagan, betrachtet die Firma aber als strategisches Asset, das in Schweizer Hand bleiben soll. Wer weiss, ob es in diesen unsicheren Zeiten noch einmal wichtig wird.

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