Freitag, Oktober 4

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier hält das stets wiederholte Argument, das Europarecht stehe Zurückweisungen entgegen, für ideologisch motiviert.

Der Befund stimmt noch heute, doch er ist von 1993: «Die Berufung auf das Asylrecht ist in erheblichem Umfang zum Mittel für eine unkontrollierte Zuwanderung aus wirtschaftlichen und anderen nicht durchgreifenden Gründen geworden», heisst es da. Daher müssten Personen, die auf dem Weg nach Deutschland ein sicheres Drittland passiert haben, abgewiesen werden. Es handelt sich um die Begründung der Verfassungsänderung, mit der 1993 das Asylrecht verschärft wurde. Sie sollte genau das Problem verhindern, das Deutschland heute wieder hat.

Damals war die Migration nach Deutschland schon einmal ausser Kontrolle geraten. Im Jahr 1992 beantragten 438 191 Menschen Asyl, überwiegend aus Ost- und Südosteuropa, vor allem Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien sowie Roma aus Rumänien und Bulgarien.

Die gesellschaftliche Debatte war aufgeheizt. In Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen gab es Brandanschläge auf Asylbewerberunterkünfte und Wohnhäuser von Einwanderern. Nachdem der sogenannte Asylkompromiss 1993 verabschiedet worden war, sank die Zahl der Asylbewerber bis 2008 auf einen Tiefstand von 28 000. Von solchen Zahlen kann Deutschland heute nur träumen. Im vergangenen Jahr wurden rund 351 000 Asylanträge gestellt.

Regierung unter Handlungsdruck, die Migration zu begrenzen

Das gesellschaftliche Klima ist auch jetzt wieder erhitzt. Gestiegene Kriminalität durch Ausländer, ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit im öffentlichen Raum und nicht zuletzt die Wahlerfolge der AfD erzwingen ein politisches Handeln.

Die Regelung, die damals den Rückgang bewirkte, gilt zwar noch, greift aber nicht mehr. Schuld daran ist angeblich Dublin III. Wegen dieser EU-Verordnung müsse man zunächst alle Personen einlassen, die an der Grenze Asyl begehrten, tragen Politiker, Juristen und Journalisten unentwegt als Begründung vor, um zu rechtfertigen, was nach Kontrollverlust aussieht. Erst dann könne man sie an den zuständigen Staat zurückschicken.

«Das ist nicht richtig», sagt der deutsche Staatsrechtsprofessor und frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, im Gespräch mit der NZZ. Diese Argumentation habe eher ideologische Motive denn rechtliche. Zurückweisungen an den Grenzen seien nicht nur möglich, sondern sogar geboten. Auch die europäische Integration kenne Schranken, und zwar dort, wo Kernbereiche der nationalen Souveränität betroffen seien. Das sei hier der Fall. Im Übrigen sei Dublin III gerade mit dem Ziel geschaffen worden, eine europäische Binnenmigration zu verhindern.

Der Kernbereich staatlicher Souveränität

«Die deutsche Rechtslage ist eindeutig», so Papier weiter. «Wer aus einem sicheren Drittstaat anreist, dem ist die Einreise zu verweigern.» Das europäische Recht stehe dem nicht entgegen. «Es gibt zwar einen Anwendungsvorrang für Europarecht gegenüber deutschem Recht, auch deutschem Verfassungsrecht, aber auch dieser hat Grenzen», erklärt der 81-Jährige. EU-Recht dürfe das nationale Recht nicht aushöhlen. «Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union stösst auf verfassungsrechtliche Integrationsschranken.»

EU-Rechtsakte, aber auch Rechtsprechungsakte europäischer Gerichte dürften nicht wesentliche Strukturen des Grundgesetzes aushöhlen, die für die Identität der Verfassung ausschlaggebend seien oder sie prägten. «Das hat auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder hervorgehoben», betont Papier und führt aus: «Deutschland kann in meinen Augen europarechtlich nicht gezwungen werden, jeder Person auf der Welt, die an seinen Grenzen angibt, Asyl beantragen zu wollen, die Einreise zu gewähren. Das würde den Kernbereich der staatlichen Souveränität Deutschlands antasten.»

Merz’ «nationale Notlage» hat ein Fundament

Papier verweist zudem auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU. In diesem Artikel steht sinngemäss, dass die einzelnen Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit selbst zuständig blieben. Der Gedanke ist derselbe wie jener in der vom CDU-Chef und Oppositionsführer Friedrich Merz geforderten Ausrufung einer «nationalen Notlage».

Die Frage dieser Notlage ist Bestandteil der Verhandlungen der Ampelregierung, die sich durch die Woche ziehen werden. Am übernächsten Sonntag wählt zudem Brandenburg einen neuen Landtag.

Die Ampelregierung ringt nun um Lösungen. Das Naheliegendste und Kostengünstigste wäre die Methode «gar nicht erst hinein lassen», so wie es im Gesetz steht, zumal es Deutschland nicht gelingt, in nennenswertem Umfang abgewiesene Asylbewerber abzuschieben.

Das sieht auch Papier so. «Das ist im Augenblick die einzige wirkliche zur Verfügung stehende Alternative, um dem Problem der unkontrollierten und unbegrenzten illegalen Zuwanderung zu begegnen – zumindest bis das Asylrecht grundlegend reformiert ist.»

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