Donnerstag, September 19

Ein Vorschlag des früheren Staatssekretärs Michael Ambühl zeigt, wie sich eine Schutzklausel zur Personenfreizügigkeit konstruieren lässt. Aufschlussreich sind die realen Zahlen dazu.

Der Druck wächst. Mittlerweile macht sich sogar die Wirtschaftspartei aus dem Wirtschaftskanton öffentlich Sorgen wegen der Zuwanderung: Die FDP des Kantons Zürich hat am Wochenende ein Parteiprogramm verabschiedet, in dem sie dafür wirbt, die Wirtschaftsmigration einzudämmen und die Zuwanderung aus der EU zu reduzieren. Gleichzeitig beteuert der Parteipräsident Filippo Leutenegger, die FDP stehe weiterhin hinter den bilateralen Verträgen mit der EU, sie wolle die Personenfreizügigkeit «ganz und gar nicht» infrage stellen.

Wie soll das gehen? Die Zuwanderung reduzieren und gleichzeitig am freien Personenverkehr festhalten – das passt nicht gut zusammen.

Zumindest nicht auf Dauer. Eine vorübergehende Beschränkung ist jedoch im Prinzip möglich. Das Freizügigkeitsabkommen kennt eine Schutzklausel, die bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» temporäre Abhilfemassnahmen erlaubt. Das Problem ist nur, dass sie schwammig formuliert ist und auf Konsens basiert. Die Schweiz könnte die Zuwanderung nur begrenzen, wenn und solange die EU damit einverstanden ist. Praktikabel ist das nicht.

Nun will der Bundesrat nachbessern. In den laufenden Verhandlungen mit der EU versucht er, die Schutzklausel zu «konkretisieren», um sie aus dem Reich der Papiertiger in die Realität zu befördern. Wie könnte sie konstruiert werden, damit beide Seiten damit leben können?

Was sind «Probleme»?

Nun liegt ein konkreter Vorschlag aus der Wissenschaft auf dem Tisch. Formuliert haben ihn Daniela S. Scherer, Nora Meier und Michael Ambühl in einem am Montag publizierten Beitrag in der Fachzeitschrift «Jusletter». Sie knüpfen an Vorschläge an, die sie früher zur Debatte gestellt haben und die in der Politik immer wieder auf Resonanz stiessen. Auch der Mitte-Präsident Gerhard Pfister hat sich jüngst in einem NZZ-Interview darauf bezogen, zumal Michael Ambühl als ehemaliger Staatssekretär mit der Materie und der Diplomatie vertraut ist.

Der neue Vorschlag umfasst drei Teile:

  1. Der Schwellenwert. Die grosse Frage ist: Wie misst man die in der heutigen Schutzklausel erwähnten «wirtschaftlichen oder sozialen Probleme» – und wann sind diese so gross, dass die Zuwanderung eingeschränkt werden darf? Die drei Autoren nennen als mögliche Probleme hierzulande Wohnungsnot, erhöhte Mieten, Druck auf Löhne, steigende Studiengebühren oder die Belastung der Infrastruktur. Allerdings versuchen sie gar nicht erst, solche Faktoren statistisch zu erfassen, zumal die Schutzklausel auch keinesfalls als Schweizer Extrawurst daherkommen soll. Stattdessen planen sie eine allgemeingültige Formel, die auch für jeden EU-Staat anwendbar wäre. Dafür greifen sie zu einem kleinen Trick: Mit dem Hinweis, dass die Zuwanderung gemeinhin als Treiber der erwähnten Probleme wahrgenommen werde, schlagen sie vor, dass allein die Zuwanderung als Gradmesser dienen solle. Daraus folgt diese Formel: Liegt in einem Land der Wanderungssaldo pro Einwohner um ein bestimmtes Mass über dem Durchschnitt aller EU- und Efta-Staaten, dann darf dieses Land die Zuwanderung vorübergehend einschränken.
  2. Die Massnahmen. Damit das Prozedere in der Realität möglichst reibungslos funktioniert, wollen die Autoren nicht nur definieren, wann die Schutzklausel ausgelöst werden darf, sondern auch, welche Massnahmen dann erlaubt wären, um die Zuwanderung zu drosseln. Nach ihrem Konzept gibt es zwei Stufen: eine erste mit «weichen» Massnahmen und eine zweite mit «harten». Die erste umfasst Ansätze wie den Ausbau des bestehenden Inländervorrangs oder die Einführung einer Zuwanderungsabgabe (zu bezahlen von Firmen, die Angestellte aus der EU rekrutieren). Falls dies nicht ausreicht, folgen in der zweiten Stufe «harte» mengenmässige Beschränkungen, besser bekannt als Kontingente. Sie würden nicht nur gegenüber der EU grösseren Stress auslösen, sondern auch im Inland (Verteilkampf zwischen Branchen und Regionen, bürokratischer Aufwand).
  3. Die Umsetzung. Neben dem Schwellenwert und den Massnahmen sollen auch die Modalitäten der Umsetzung definiert werden. Das ist alles andere als trivial: Müsste die EU ihren Segen zu den konkreten Massnahmen geben? Wie lange dürften diese in Kraft bleiben? Könnte die Schweiz gar – falls die Zuwanderung nicht nachliesse – faktisch dauerhafte Einschränkungen beibehalten? Die Autoren schlagen ausgeklügelte Spielregeln mit mehreren Fristen vor, um Blockaden zu vermeiden. Die Restriktionen könnten maximal zwei Jahre in Kraft sein. Aber was ist, wenn wenig später die Zuwanderung wieder aussergewöhnlich hoch ausfällt? Der Beitrag lässt vermuten, dass solche Fragen nicht abschliessend im Voraus geklärt werden können, dass immer wieder mit harzigen Verhandlungen zu rechnen wäre. Bei Konflikten müsste – falls das geplante Verhandlungspaket zustande kommt – das neue Schiedsgericht entscheiden, wer im Recht ist.

Österreich hat noch mehr Zuwanderung

Spannend sind die Zahlen, welche die Autoren als Zugabe zu ihrem Konzept mitliefern. Anhand der effektiven Migrationszahlen der europäischen Staaten in den Jahren 2013 bis 2022 haben sie berechnet, welche Länder jeweils den Schwellenwert der vorgeschlagenen Schutzklausel erreicht hätten. Die Autoren haben zwei Varianten kalkuliert. Geht man vom höheren Schwellenwert aus, hätte die Schweiz in diesen zehn Jahren vier Mal Massnahmen ergreifen dürfen. Beim tieferen Schwellenwert wären es acht Mal. Das zeigt, dass die hiesige Zuwanderung tatsächlich auch im Quervergleich immer wieder auffällig hoch war.

Allerdings fällt noch etwas anderes auf: Die Schweiz ist weder ein Einzelfall noch ein absoluter Ausreisser. In drei von zehn Jahren weist sie die höchste Nettomigration aller Länder auf, wobei bei diesem Vergleich alle Kleinstaaten mit unter einer Million Einwohner, die oft weiter vorne liegen, ausgeklammert sind. Andere Staaten wie Norwegen oder die Niederlande sind teilweise ähnlich betroffen. Vor allem aber ein Land ist noch deutlich stärker exponiert als die Schweiz: Österreich weist in sieben von zehn Jahren eine stärkere Zuwanderung aus als die Schweiz. Die Analyse umfasst ausschliesslich Personen, die im Rahmen der Freizügigkeit ein- oder auswandern (ohne Asyl, ohne Drittstaaten).

«Zwei sich ausschliessende Konzepte»

Jenseits der konkreten Zahlen ist der Zwiespalt des ganzen Konzepts offensichtlich. Die Schutzklausel soll unerwünschte Auswüchse der Freizügigkeit verhindern, ohne sie infrage zu stellen. In den Worten der Autoren geht es um den «Versuch, zwei sich ausschliessende Konzepte – einerseits den freien Personenverkehr, andererseits dessen Steuerung – unter einen Hut zu bringen. Ähnlich der Quadratur des Kreises kann dies aber nur näherungsweise gelingen.»

Ob es überhaupt gelingt, ist offen. Falls die EU in den Verhandlungen nicht Hand bietet zu einem Kompromiss, dürfte dies die Chancen des gesamten Vertragspakets in der Schweiz stark schmälern. In diesem Fall hätte die Berner Politik aber immer noch die Möglichkeit, einseitig – ohne Konsens mit der EU – eine Schutzklausel im Schweizer Recht zu verankern. Für dieses Vorgehen hat sich der Mitte-Präsident Pfister ausgesprochen: Er sieht in einer unilateralen Klausel einen valablen Gegenvorschlag zur SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz», die in letzter Konsequenz das Ende der Personenfreizügigkeit erzwingen würde.

Eine einseitige Schutzklausel würde zwangsläufig das Verhältnis zur EU belasten. Soll die Schweiz deshalb darauf verzichten? Oder eben gerade nicht, weil ohne Schutzklausel die SVP-Initiative eher angenommen werden dürfte, womit die bilaterale Beziehungskrise perfekt wäre? Die Schweizer Politik steht vor kniffligen Fragen.

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