Sonntag, November 24

Weiss und rot sind die Blumen, mit denen die Maler der Nelkenmeister-Werkstätten ihre Bilder signierten. Wofür sie stehen, weiss bis heute niemand.

Zwei Nelken, eine weisse und eine rote. Auf rund dreissig Altarbildern, die um 1500 in der damaligen Schweiz entstanden, sind sie zu sehen. Sie liegen irgendwo im Randbereich. Aber nicht so, als ob sie achtlos hingeworfen worden wären. Sondern so, dass man spürt: Man soll sie sehen. Sie sind sorgfältig arrangiert und haben etwas zu bedeuten. Nur was?

Man weiss es nicht. Aber sie haben den Malern der Bilder einen Namen gegeben: Nelkenmeister. Die Maler selbst kennt man nicht, denn sie haben ihre Werke nicht signiert, weder mit Namen noch mit Initialen. Die Nelken könnten eine Art Signatur sein. Aber nicht die eines einzigen Malers, dafür sind die Bilder stilistisch zu unterschiedlich. Nach den Untersuchungen der Kunsthistoriker gilt als sicher, dass sich hinter den Nelken nicht nur verschiedene Maler verbergen, sondern mehrere Werkstätten in verschiedenen Städten. In Bern, Solothurn, Zürich und Baden waren Nelkenmeister am Werk.

Seit dem 19. Jahrhundert beschäftigt sich die Kunstwissenschaft mit dem rätselhaften Malerkreis. Warum sie ihre Bilder mit zwei Nelken kennzeichneten, ist bis heute unklar. Auch die neue Monografie zu den Zürcher Nelkenmeistern von Ulrich Gerster und Charlotte Gutscher-Schmid kann die Frage nicht schlüssig beantworten. Die Autoren stellen Beobachtungen an, ziehen vorsichtige Schlüsse und äussern Vermutungen, ohne das Rätsel lösen zu können.

Zeichen der Freundschaft

Vielleicht sollten die Nelken die Mitglieder einer Bruderschaft bezeichnen. Die Nelke galt schon im 15. Jahrhundert als Zeichen der Freundschaft. Aber auch als Symbol für die Jungfräulichkeit Marias. Oder für den Kreuzestod von Jesus Christus. Waren die Nelkenmeister also eher eine geistliche Kongregation? Eine Art geheimer Malerorden? Oder waren die Nelken ein schlichtes Markenzeichen?

Ein Engelberger Benediktinerpater vermutete in den 1940er Jahren, dass die Maler ihre Werke mit den Nelken in Weiss und Rot als Schweizer Landesprodukte kennzeichnen wollten, um sie von den Erzeugnissen der süddeutschen Konkurrenten abzuheben. Ein Swissness-Etikett avant la lettre also. Für überzeugend halten die Autoren des neuen Buchs das nicht. Ob Rot und Weiss damals bereits fest als Farben der Eidgenossenschaft etabliert waren, ist unsicher. Die Fahne mit dem weissen Kreuz auf rotem Grund kam erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts auf. Als Label für die Eidgenossenschaft galten Rot und Weiss damals wahrscheinlich noch nicht.

Doch die rätselhaften Nelken sind ja nur das eine. Auch wenn man sich wundern mag, dass Künstler auf ihren Bildern nicht in Erscheinung treten wollen: Das Wichtigste sind die Bilder. Und die sind von ausserordentlicher Qualität. Die «Enthauptung eines jungen Heiligen» zum Beispiel, aus der Sammlung des Kunsthauses Zürich. Um 1490 in der Werkstatt des ersten Zürcher Nelkenmeisters entstanden, ist es allein schon wegen des Moments, den es darstellt, bemerkenswert.

Vor dem Schwertstreich

Der Maler zeigt nicht den Tod des Verurteilten, sondern den Augenblick, bevor die Hinrichtung vollstreckt wird. Ein junger Mann, wahrscheinlich der Zürcher Stadtheilige Felix, kniet mit gefesselten Händen vor zwei Herrschern. Um ihn Soldaten in voller Rüstung. Neben ihm der Scharfrichter, das Schwert in der einen Hand. Die andere Hand liegt auf der Schulter des Mannes, den er töten wird. Er wendet seinen Kopf dem einen Herrscher zu, als wolle er sich ein letztes Mal vergewissern, dass der Entscheid endgültig ist.

Die Sekunden vor dem tödlichen Schwertstreich also. Ein Augenblick höchster Spannung. Und doch liegt über allem eine gespenstische Ruhe. Als wäre es die friedlichste Sache der Welt. Der Blick des Heiligen ist in die Ferne gerichtet, er schaut an den Menschen vorbei, die um ihn herumstehen, und schickt sich in das, was er nicht ändern kann. Mit der Welt hat er abgeschlossen. «Wir wollen uns den Schergen zeigen und das Martyrium empfangen, und wir werden Genossen der Auserwählten im Himmel sein», soll Felix der Legende nach seiner Schwester Regula gesagt haben, als die römischen Soldaten sie festnahmen.

Die Tätigkeit der Zürcher Nelkenmeister fällt in die Jahre kurz vor der Reformation. In die letzten Jahre also, in denen die Heiligenverehrung an der Limmat noch zum Alltag gehörte. Ulrich Gersters reich bebilderte Monografie zeichnet die Bedingungen, unter denen die Künstler damals tätig waren, anschaulich nach. Für die Malerwerkstätten war es eine gute Zeit. Aufträge hatten sie genug. Es brauchte Altarbilder und Heiligendarstellungen für Kirchen und Kapellen. Wer es sich leisten konnte, stiftete Bilder, um sein Seelenheil zu sichern und die Leidenszeit im Fegefeuer zu verkürzen.

Rote Mütze, goldene Ketten

Doch vermögende Zürcherinnen und Zürcher hatten auch weltliche Bedürfnisse. Der gut zürcherischen Bescheidenheit zum Trotz: Wer etwas auf sich hielt, hatte Sinn für Repräsentation. Der Brauch, sich malen zu lassen, war in Zürich zwar noch nicht so verbreitet wie etwa in den Niederlanden. Doch die lokalen Maler boten auch in Sachen Porträt, was die Kundschaft sich wünschte. Das erste erhaltene Porträt eines Zürchers stammt aus einer Nelkenmeister-Werkstatt. Aus der des sogenannten zweiten Zürcher Nelkenmeisters.

Es zeigt den Apotheker Hans Schneeberger und entstand 1501. Die Jahreszahl steht rot gemalt am rechten oberen Bildrand, gegenüber dem Familienwappen, einer blauen Lilie mit drei goldenen Sternen. Schneeberger war ein angesehener Mann, Mitglied der Zunft zur Saffran und des Grossen Rats. Ein paar Jahre bevor er sich malen liess, hatte er von seinem Vater das Geschäft übernommen. Er war mit einer Frau aus guter Familie verheiratet und zeigt sich auf dem Bild selbstbewusst mit roter Mütze, in einem kostbaren roten Mantel und mit goldenen Ketten um den Hals.

Ein repräsentatives Bild, auch wenn Schneebergers Blick etwas zögerlich scheint. Der Maler wusste, was er seinem Kunden schuldig war. Und möglicherweise war Schneeberger nicht nur sein Kunde, sondern ein Verwandter. Es gilt als sicher, dass der zweite Zürcher Nelkenmeister identisch ist mit Hans Leu dem Älteren, von dem die erste Stadtansicht von Zürich stammt. Nelken findet man auf Schneebergers Porträt keine. Dafür grosse rote Initialen, ein H und ein S. Hans Schneeberger hatte eben seinen Stolz. Wer das Bild gemalt hatte, musste man vielleicht gar nicht besonders hervorheben. Die, die das Bild zu sehen bekamen, wussten es auch so.

Ulrich Gerster: Die Zürcher Nelkenmeister. Mit Beiträgen von Charlotte Gutscher-Schmid, Martin Illi und Heinz O. Hirzel. Scheidegger & Spiess, Zürich 2023. 356 S., zahlreiche Farbabbildungen, Fr. 99.–.

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