Montag, September 30

Asylsuchende, die in ländlichen Gegenden stehlen: Dieses Phänomen hat im vergangenen Jahr sprunghaft zugenommen.

Der Lärm der Auto-Alarmanlage schreckt ihn auf. «Zehn, fünfzehn Sekunden», sagt er, länger habe er nicht gebraucht, dann sei er auf dem Balkon gewesen, sagt der Anwohner. Die Täter waren da schon in die Dunkelheit verschwunden.

Speziell an der Szene ist, dass sie in einem kleinen Dorf spielt. Und dass die Männer beileibe nicht zum ersten Mal um die Häuser geschlichen sind.

Der Anwohner sagt: «Man ist in einem Kuhdorf und muss alles abschliessen. Und alles, was einem gehört, ist nicht mehr sicher. Das ist einfach nicht schön.»

Die Aufnahme stammt aus einem Beitrag der SRF-«Rundschau» vom letzten Herbst. Thema: Asylsuchende aus Nordafrika auf Diebestour. Zu Wort kommen Polizistinnen, Anwohner und Kriminaltechniker aus drei Kantonen.

Alle sprechen von einem Anstieg begangener Straftaten, im Falle des Kantons Thurgaus beispielsweise um 70 Prozent beim Fahrzeugeinbruchdiebstahl. Die Täter reisten aus Bundesasylzentren gezielt in kleine Dörfer – in der Regel mit dem letzten Zug hin und mit dem ersten frühmorgens wieder zurück.

Am Montag sitzen vor dem Bezirksgericht Meilen zwei Beschuldigte, die exakt in dieses Bild passen.

Die beiden Marokkaner waren als Duo tätig und verübten ihre Diebstähle auf dem Land, in den Kantonen Zürich, Aargau und Basel-Land. In Rombach, Etzgen, Schwaderloch. In Zollikerberg, Küttigen oder Hottwil.

In nur 13 Tagen begehen sie 36 Delikte, die ihnen die Behörden nachweisen können. Vorgeworfen werden ihnen unter anderem gewerbs- und bandenmässiger Diebstahl sowie Sachbeschädigung.

Die beiden machen es sich zunutze, wenn Autobesitzer es versäumen, ihr Fahrzeug abzuschliessen. «Fällelen» wird im Jargon die kriminelle Praxis genannt. Gemeint ist der prüfende Griff an die Türfalle.

Diebesgut: «Bonbons und ein Küchenhandtuch»

Das erbeutete Diebesgut ist oft bescheiden. Es besteht in einem Fall aus «Bonbons und ein Küchenhandtuch», was in der Anklageschrift mit 9 Franken veranschlagt wird. Ein andermal sind es 4 Euro. Oder zwei Pack Zigaretten.

Wenn ein Auto verschlossen ist, verschafft sich das Duo auf rabiate Weise Zugang. Die beiden zertrümmern Autoscheiben oder stemmen die Beifahrertüre auf. In vielen Fällen steht der Schaden in keinem Verhältnis zur Beute. Manchmal beträgt der Sachschaden 500 Franken, manchmal aber auch bedeutend mehr, je nach Autotyp.

In Zollikerberg machen sich die beiden an einem Porsche Macan zu schaffen. Mit 3000 Franken schlägt allein die zerstörte Fensterscheibe bei der Fahrertüre zu Buche. Darin finden die beiden drei Portemonnaies, zwei Sonnenbrillen und eine Handtasche im Wert von insgesamt 2400 Franken.

Die Männer haben alle ihre Taten zugegeben. Am Bezirksgericht Meilen geht es um eine Verhandlung im abgekürzten Verfahren: Die Beschuldigten akzeptieren die Anklageschrift, das Gericht vergewissert sich nur noch, dass alles seine Richtigkeit hat. Rekursmöglichkeiten gibt es nicht.

Vor Gericht sitzen zwei Männer, der eine 30, der andere 38 Jahre alt. Äusserlich ähneln sie sich: Turnschuhe, enges T-Shirt, teilrasierter Schädel.

Das Gespräch, das der Gerichtsvorsitzende mit ihnen führt, verläuft harzig. Beide sind einsilbig. Obwohl sie ihre Taten gestanden haben, scheinen sie zu fürchten, sich um Kopf und Kragen zu reden.

Der Gerichtsvorsitzende will vom jüngeren Beschuldigten wissen, ob er die Taten gemeinsam mit dem anderen begangen habe. Er sagt: «Man hat mir gesagt, ich sei mit ihm zusammen gewesen.» Und: «Ich weiss nicht mehr, wann ich ihn kennengelernt habe.»

Dann fragt der Richter nach den eingeschlagenen Fenstern. Er könne sich nicht erinnern, er sei damals unter Alkohol- und Medikamenteneinfluss gestanden, antwortet der Mann.

Kurios wird es, als es um dessen Asylgesuch geht.

Der Richter: Warum sind Sie in die Schweiz eingereist?

Der Beschuldigte: «Ich war auf der Durchreise nach Holland.»

Haben Sie damals Asyl beantragt?

Ja.

Warum?

Ich wollte mich kurz erholen hier und danach weiterreisen.

Das Gesuch war also nicht ernst gemeint?

Nein.

Der andere Beschuldigte beteuert, er sei in die Schweiz gekommen, um zu arbeiten. Er habe zuvor jahrelang in Italien gelebt und habe gehört, in der Schweiz könne man viel Geld verdienen.

Klar ist, dass beide unmittelbar nach ihrer Einreise straffällig wurden. Der eine reiste im Januar, der andere im Februar 2023 in die Schweiz ein. Beide wurden vorläufig aufgenommen.

Bereits am 5. März sprach die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl einen Strafbefehl gegen den einen aus, jene Basel-Landschaft tat dasselbe am Tag darauf gegen den anderen. Die Delikte waren ähnlich gelagert wie jene, wegen derer die beiden in Meilen vor Gericht stehen. In beiden Fälle erhielten sie bedingte Strafen.

Es folgte der gemeinsame Raubzug zwischen dem 2. und dem 15. April. Er endete mit der Verhaftung der beiden.

Wie es den Ermittlern gelang, ihnen ihre Taten nachzuweisen, geht aus der Verhandlung nicht hervor. Doch es ist anzunehmen, dass die Täter DNA-Spuren hinterlassen haben. Sollte dies zutreffen, hätte sich die aufwendige Untersuchung der Fahrzeuge durch die Kriminaltechniker ausbezahlt.

Das Verfahren gegen die beiden zog sich in die Länge, vor allem deshalb, weil sich die Kantone über die Zuständigkeit stritten und niemand auf den Fall erpicht war. Dies, obwohl alle Kantone gleichermassen vom Phänomen betroffen sind.

In diesem Frühling wies der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) eindringlich auf die Problematik hin. Straftaten durch Ausländer hätten enorm zugenommen. Nicht bei der ausländischen Wohnbevölkerung, sondern spezifisch bei Personen im Asylprozess.

Bei abgewiesenen Asylsuchenden aus Algerien liege die Kriminalitätsrate bei 91 Prozent. Vermögensdelikte – wozu Diebstähle in Autos zählen – stünden im Vordergrund. Für Marokkaner gelte mehr oder weniger derselbe Befund, so Fehr damals. Algerier standen 2023 mit 632 begangenen Straftaten an der Spitze, von Marokkanern wurden mit 408 am drittmeisten Straftaten im Kanton Zürich begangen.

Behörden wirken ratlos

Im Kanton Thurgau stammten 2023 über 90 Prozent der ermittelten Täter aus dem Maghreb. Im Kanton Aargau hat die Polizei Medienberichte mit der Zahl 83 Prozent bestätigt

Die Kantonspolizei Thurgau schreibt auf Anfrage der NZZ, man habe seither die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft, Migrations- und Sozialamt verbessert. Möglichkeiten wie zum Beispiel die Einschränkung des Bewegungsradius der Beschuldigten würden besser genutzt. Die Zahl der Delikte sei gesunken.

Die Kantonspolizei Aargau hingegen schreibt, am Phänomen habe sich grundsätzlich nichts geändert. «Es vergeht auch weiterhin keine Nacht, in der sich nicht irgendwo im Aargau Leute an Autos zu schaffen machen oder beim Herumschleichen in Carports von Videokameras gefilmt werden.»

Strafverfolgungsbehörden stehen dem Phänomen oft ratlos gegenüber. Die Aufklärungsziffer bewegt sich bei 20 bis 25 Prozent. Und die verhängten Strafen beeindrucken die mutmasslichen Täter wenig.

In diesem Fall allerdings dürfte dies anders sein. Die beiden wurden zu 22 beziehungsweise 20 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Und zu einem Landesverweis für je sechs Jahre für den gesamten Schengenraum.

Seit sie erwischt wurden, sitzen die beiden in der Strafanstalt Pöschwies. Sie haben ihre Strafe vorzeitig angetreten und dank guter Führung bald abgesessen. Dann droht ihnen die Rückführung nach Marokko. Solche sind heute, anders als noch vor einigen Jahren, grundsätzlich möglich. Letztes Jahr gab es deren 78.

Exit mobile version