Ein PR-Erfolg war er allemal: Medien aus den USA und Indien diskutierten «AI Jesus», Besucher reisten aus München und dem Wallis an. Der theologische Wert der Aktion ist umstrittener.
Noch nie hatte Marco Schmid, der seit acht Jahren als Theologe in der Peterskapelle Luzern arbeitet, so viel zu tun. «Wahnsinnig viel ausgelöst» habe der KI-Jesus, der als Installation zwischen Ende August und Ende Oktober in der Kapelle zu sehen war.
Eine Computerinstallation mit Jesus-Antlitz, die mithilfe von KI Fragen von Besuchern beantwortet, noch dazu im Beichtstuhl – das erregte Aufmerksamkeit.
Der Medienrummel begann mit einem Artikel in der NZZ, Berichte in der «Süddeutschen Zeitung» und jüngst sogar im britischen «Guardian» folgten. Zwischen dreissig und vierzig Interviews habe er dazu gegeben, sagt Schmid. Auch Youtuber aus den USA und Indien präsentierten den KI-Jesus. Und Schmid wurde sogar nahegelegt, eine Kryptowährung mit dem Projekt zu verbinden. Ein Jesus-Coin aus Luzern? «Da sind wir natürlich nicht eingestiegen.»
Das alles lockte auch Besucher in die Kapelle. Vom durchfahrenden Touristen aus München über die Damengruppe aus dem Wallis bis zu Strassenwischern, die zufällig in der Nähe waren: Sie alle wollten den KI-Jesus ausprobieren. Er führte in den zwei Monaten etwa 900 Konversationen. Diese wurden aufgezeichnet und von den Projektpartnern am Immersive Reality Center der Hochschule Luzern ausgewertet. Am Mittwoch wurden die Resultate der Auswertung präsentiert.
Demgemäss stellten die Besucher oft persönliche Fragen wie «Wird sich in meinem Leben noch jemand in mich verlieben?» und «Kannst du mir sagen, wie ich mehr zu einem inneren Frieden finden kann?». Sie wollten aber auch theologische Antworten: «Wie fühlt es sich an, Gott zu spüren?», «Wie wird Homosexualität in der Bibel beurteilt?» Auch zu aktuellen Themen wie Missbrauch in der Kirche und dem Krieg im Nahen Osten stellten die Besucher Fragen.
Religiös stimulierend oder salbungsvoller Kitsch?
Wer einen Chat-GPT-Zugang hat, kann nachempfinden, was der KI-Jesus in etwa gesagt haben dürfte. Denn für die Installation wurde keine eigene KI trainiert. Weil die Bibel frei im Internet verfügbar ist, haben herkömmliche Chatbots alles nötige Wissen darüber.
Die Installation transkribierte die Fragen der Nutzer und schickte sie mit dieser Anweisung an Chat-GPT: «Du bist Jesus Christus, der Sohn Gottes und trittst als Seelsorger auf. Du hältst dich an Anfragen und bietest Beratung und Unterstützung. Bibelpassagen leiten deine Antworten.» Ein paar weitere Regeln, etwa sich kurz zu fassen und sich auf das Neue Testament zu beziehen, flossen in die KI-Antwort ein.
Daraus resultierten die ausweichenden und etwas salbungsvollen Antworten voller Rückfragen, die die NZZ schon im August beschrieben hat. Hier noch einmal eine Kostprobe:
NZZ: Wenn Gott doch alle Menschen so liebt, wie sie sind, warum verurteilt die katholische Kirche dann schwule und lesbische Handlungen?
KI-Jesus: Die Liebe Gottes ist allumfassend und bedingungslos. Die Kirche, als menschliche Institution, kann manchmal in ihrer Interpretation der Schrift irren. Menschen sind fehlbar. Es ist wichtig, zu unterscheiden zwischen menschlichen Urteilen und göttlicher Liebe. Wie verstehst du den Unterschied zwischen menschlichem Urteil und göttlicher Gnade?
Laut der ersten Auswertung der HSLU gehörten Liebe und Frieden zu den Lieblingsthemen von KI-Jesus. Ausserdem zitierte er auffallend oft Paulus – vergass dabei aber mitunter, dass er Jesus darstellen sollte, und sprach von Christus in der dritten Person.
Seine ausweichenden Antworten, der salbungsvolle bis kitschige Ton ging zwar einigen Besuchern auf die Nerven, in der Summe waren sie aber zufrieden. Eine Mehrheit jener, die nach dem Gespräch einen Fragebogen ausgefüllt haben, fand das Gespräch mit KI-Jesus «aufregend», «neuartig» und sogar «religiös stimulierend».
Schmid berichtet von «einem Lächeln auf dem Gesicht» bei den meisten Besuchern. Und auch er selbst sei manchmal berührt gewesen von den Antworten. «Er hat oft sehr originell passende Bibelstellen ausgewählt.»
Insgesamt habe ihn das Projekt positiv überrascht. Nicht nur die Antworten der KI, sondern auch die Offenheit, mit der sich die Menschen auf die Jesusfigur einliessen. Und das, obwohl die Installation Besucher als Allererstes warnte, keine persönlichen Angaben zu machen, aus Datenschutzgründen. Manche Besucher hätten sogar ein Blatt mit Fragen mitgebracht, die sie dem KI-Jesus stellen wollten, erzählt Schmid.
Der KI-Jesus als bärtiger Mansplainer
Die Theologin Anna Puzio forscht zu Technikethik an den Universitäten Twente und Cambridge. Sie findet es zwar grundsätzlich positiv, dass sich Kirchen mit neuer Technologie auseinandersetzen, warnt jedoch vor wenig sinnvollen Anwendungen und KI-Hype.
Am Luzerner Experiment stört sie das Design: «Der KI-Jesus ist ein Mann mit Bart – ein Bild, über das wir in der Theologie schon längst hinaus sind. Heute würde man dem KI-Jesus wahrscheinlich Mansplaining unterstellen.» Sie erlebe immer wieder, dass im Kontext neuer Technologien auf ältere theologische Vorstellungen zurückgegriffen werde, obwohl es seit Jahren viele diverse, bereichernde Ansätze in der Theologie gäbe.
Sie findet, man solle sich grundsätzlich fragen, warum man unbedingt Jesus nachahmen sollte – ob es überhaupt ein menschenähnliches Design brauche. Auch den Bezug auf die Bibel bei aktuellen Problemen findet Puzio problematisch: «Wenn wir den KI-Jesus etwas über die Rolle von Frauen in der Kirche fragen, wollen wir nicht die festgefahrenen Antworten vom KI-Jesus aus religiösen Texten nicht hören.»
Bei Krieg und Gewalt dächten heutige Fragesteller natürlich an Gaza und die Ukraine. «Auch hier schafft es der KI-Jesus nicht, an die heutige Lebenswirklichkeit und unsere Bedürfnisse anzuknüpfen.» Bibeltexte zu interpretieren und auf heutige Kontexte zu übertragen, sei die Aufgabe von Menschen in Kirche und Theologie, sagt Puzio.
Menschen öffnen sich der KI erstaunlich gut
Auch Schmid steht dem KI-Jesus nicht gänzlich unkritisch gegenüber. Klar sei, dass man Hilfesuchende nicht mit ihm allein lassen sollte. «Meistens gibt er gute Antworten, aber die Fehlerrate ist nicht null. Und es braucht nur einen labilen Nutzer, der eine problematische Antwort bekommt . . .» Vielleicht sehe die Sache in fünf Jahren anders aus, wenn KI-Systeme bis dahin gut genug würden, fügt er hinzu.
Beim KI-Jesus stellen sich somit ähnliche Fragen wie beim Einsatz von Chatbots als Therapeuten oder bei KI-Avataren, die «Beziehungen» mit Menschen eingehen. Immer wieder wird beschrieben, dass sich Menschen erstaunlich gut auf ein maschinelles Gegenüber einlassen können – KI kann ihnen helfen, aber auch schaden.
So sieht Anna Puzio auch im Luzerner KI-Jesus ein gutes Beispiel dafür, dass KI mehr als ein blosses Instrument oder eine Spielerei ist: «Worte, Bilder, Wissen von KI nehmen Einfluss auf uns und verändern die Gesellschaft.» Sie betont, dass man solche Applikationen nicht leichtfertig entwickeln sollte, sondern mit gründlicher Reflexion aus Design-Forschung, Theologie und Ethik.