Mittwoch, Juli 23

«Öffnet sich der Himmel» heisst der Erstlingsroman des Briten Seán Hewitt. Die Offenbarung verheisst eine Liebe, vor der die Heranwachsenden zunächst einmal erschrecken.

Es sind nicht die schlechtesten Romane, in denen Landschaft und Leidenschaft in enger Beziehung zueinander stehen. Dass das Genre ausstirbt, kann mit einer Verödung beider zu tun haben, mit einem Mangel an Urwüchsigkeit da wie dort. Mit seinem ersten Roman «Öffnet sich der Himmel» will es der junge britische Autor Seán Hewitt noch einmal wissen.

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Wie bei Proust stehen die Weissdornhecken in einem von Kanälen durchzogenen Idyll. Neben den Treidelpfaden wachsen Sommerflieder und Wiesenkerbel. Über den Feldern sind die klaren Glockentöne aus den Dörfern zu hören, nachts fliegen die Eulen auf.

Wir sind in England und in einem Coming-of-Age-Roman, der gar nicht erst auf die Idee kommt, cool sein zu wollen. James heisst der Ich-Erzähler, der tatsächlich einiges über sich zu erzählen hat und der das in einer leicht konventionell konstruierten Geschichte tut. Von der Gegenwart steigt man hinunter in die Vergangenheit. Ein Internet-Auktionsportal bietet ein Bauernhaus aus dem späten 18. Jahrhundert an.

Der Ort heisst Thornmere und kommt James mehr als bekannt vor. Er ist dort aufgewachsen. Mit dem Hof hat es eine eigene Bewandtnis, und diese Bewandtnis heisst Luke. James und Luke. Zwei Sechzehn-, Siebzehnjährige, die ein Jahr lang eher die Unmöglichkeiten als die Möglichkeiten einer Liebe ausloten. Das englische Dorf ist nicht gemacht für die Folgen eines schwulen Coming-out. Luke womöglich auch nicht.

Verlangen nach Liebe

In der Gegenwart beschliesst James, sich die Thornmere-Immobilie anzuschauen. Er fährt ins Dorf, und in den Räumen des alten Bauernhofes kommt die Erinnerung in Gang. «Rückwärts läuft die Zeit schneller», heisst es zu Beginn kryptisch und auch irreführend, weil in diesem Roman die Dinge in allergrösster Langsamkeit geschehen.

Das Gedächtnis des Erzählers findet zurück in jene Wochen vor zwanzig Jahren, nachdem er sich als schwul geoutet hatte. Eine neugierige Bestürzung ereilt damals die Mitschüler. Die Eltern von James spüren den atmosphärischen Einschlag in der Dorfgemeinschaft, aber bald normalisieren sich die Dinge. Frühmorgens fährt James mit David die Milch aus, und so kommt er auch an den Hof aus dem 18. Jahrhundert. Der Bauer Hyde hat seinen Neffen da. Für ein Jahr muss er sich um ihn kümmern, weil der Vater im Gefängnis ist und es keinen Kontakt mehr zu Mutter gibt.

Vor seinem Romandebüt ist Seán Hewitt als Lyriker berühmt geworden, und man merkt seiner Prosa noch etwas Gestisches an. Einen scharfen Blick auf kleinste Bewegungen. Dieser scharfe Blick hat seine Gründe und Abgründe. Da beobachtet jemand seine Umwelt, scannt sie nach Feindseligkeiten und, mehr noch, nach Anzeichen von Liebe.

In vielen Zwischenschritten nähern sich James und Luke einander an, ohne dass das Eigentliche geschieht. Es gibt kaum Möglichkeiten, sich zu treffen, nur soziale Kulminationsformen wie eine Party des örtlichen Rugby-Klubs, zu der James den im Dorf noch Unbekannten mitnimmt. Für James ist alles aufgeladen. Jedes unschuldige Beisammenstehen vor den Ställen, ein Ausflug zu einer Sandsteinsenke im Wald, wo es auch eine Höhle gibt. Die Liebe – und warum nicht auch die schwule Liebe? – ist eine Hineinsteigerungsmaschine. Das Exaltierte und Unausgesprochene ist hier Teil einer Statik, die ähnlich wie ein Soufflé jederzeit zusammenzubrechen droht.

Tragisches Maskottchen

Die britische Autorin Helen Macdonald hat «Öffnet sich der Himmel» einen Blurb geschenkt, der das Dilemma recht gut beschreibt. Zum Roman meint sie: «Besser kann mein Herz nicht schmerzen.» Schmerzlindernd wirkt im Buch paradoxerweise jene krude Wirklichkeit, die die beiden jungen Männer umgibt. Sie bewahrt den Roman vor dem Absturz in den Kitsch und zeichnet ein prägnantes Bild von den durch das Schicksal gegerbten Menschen.

Die Eltern von James kommen finanziell kaum über die Runden, Luke leidet unter einem Vatertrauma spezieller Art. Einerseits vermisst er ihn, andererseits kann er sich des Gedankens nicht erwehren, die Gene seiner schlechten Eigenschaften in sich zu tragen. Als eine Art tragisches Maskottchen des Romans fungiert der kleine Bruder von James. Eddies staunende Lebensfreude ist durch das Plötzliche seiner Krankheit getrübt. Der Fünfjährige hat epileptische Anfälle, kann plötzlich wie leblos vom Stuhl sinken und kommt eines Sommertages im Kinderpool im Garten fast wirklich ums Leben. In letzter Minute kann er aus dem Wasser gezogen werden. In James bleibt eine irrlichternde Angst, sein egoistischer Lebenswandel führe zur Vernachlässigung des Bruders.

Jugendliche Schwärmerei

Sehr subtil verteilt Seán Hewitt im Roman Motive der Schuld. Auch James’ Mutter hat in dieser Hinsicht Kämpfe mit sich selbst auszufechten. Überforderung, Aggressionen und Reue sind Zustände ihres Alltags. Dem älteren Sohn ist sie in kritischer Liebe zugetan und warnt ihn vor der Dämonie von Luke. Tatsächlich bleibt dieser fremde Freund bis zum Ende des Romans ein Rätsel. Man kann nicht in ihm lesen, und das ist vielleicht der Kern der einseitigen Romanze. Würde sie sich ganz erfüllen, wäre sie für James nicht mehr interessant.

Nimmt man die Lebensdaten des Autors Seán Hewitt, so wäre ein autofiktionaler Gehalt seines Romans durchaus möglich. Wie seine Hauptfigur stammt Hewitt aus der englischen Provinz und hat das gleiche Alter. Muss man ihm vorwerfen, dass er die Schwärmerei der Jugend gänzlich ungebrochen in die Erzählung eines Mittdreissigers übernommen hat? Als ungebrochen gültiges Liebesmodell?

Auf gewisse Weise ist man mit Hewitt sehr nahe an Marcel Prousts Kosmos. Nah an unreifen Gefühlen, die das Sieb der Rationalität noch nicht gänzlich ausgesondert hat. Wohl nicht ganz umsonst blüht in «Öffnet sich der Himmel» allenthalben der Proustsche Weissdorn. Das französische Vorbild hatte ganz bestimmte Assoziationen zu diesem Gesträuch. Es rieche «nach Koitus». Das symbolhafte Winken des Weissdorns bei Seán Hewitt hat keine weiteren Folgen. Sein Roman bleibt durch und durch keusch.

Seán Hewitt: Öffnet sich der Himmel. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 284 S., Fr. 36.90.

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