Die Geldströme in der EU werden immer auch politisch gelenkt. Sind die deblockierten Milliarden für Polen Brüssels Geschenk an den liberalen Regierungschef Tusk?
Jetzt soll das Geld wieder fliessen. Die EU-Kommission hat die grössten Hindernisse aus dem Weg geräumt, Polen kann bis zu 137 Milliarden Euro aus verschiedenen EU-Kassen erhalten. Konkret: 76,5 Milliarden aus dem Kohäsionsfonds und 60 Milliarden aus dem Corona-Aufbaufonds, davon sind 35 Milliarden rückzahlpflichtig.
Die Kommission honoriert damit zum einen die Tatsache, dass Warschau die Grundrechtscharta (die Bürger- und Menschenrechte) annimmt und den Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht anerkennt. Ebenso wird es im Sommer der Europäischen Staatsanwaltschaft beitreten, die über die korrekte Verwendung der EU-Gelder wacht.
Zum andern – und das ist nicht unproblematisch – zeigt sich Brüssel erkenntlich, weil die Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk Schritte unternimmt, um die Gewaltenteilung im Staat wieder herzustellen. Die nationalkonservative PiS-Herrschaft hatte sie unterwandert, indem sie ihren Einfluss im Justizapparat systematisch ausdehnte. Problematisch dabei ist, dass die konfliktreiche Wiederherstellung des Rechtsstaats erst begonnen hat. Warum wartet die Kommission nicht, bis der Prozess abgeschlossen ist?
Der «Rechtsstaatsmechanismus» als Machtinstrument
Mit ihrem notorischen Pathos beglückwünschte die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Tusk und die Polen: Sie sei beeindruckt von den Anstrengungen, «die Herrschaft des Rechts wieder zum Rückgrat der Gesellschaft zu machen». Das ist in der Tat keine Kleinigkeit und absolut notwendig. Denn mehr als alles andere ist die EU eine Rechtsgemeinschaft (auch wenn sie in der gegenwärtigen Weltlage eher einer Schicksalsgemeinschaft gleicht).
Eine grosse Errungenschaft war deshalb die Schaffung des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus vor vier Jahren. Damit kann die Kommission Zahlungen blockieren, wenn in einem Empfängerland keine unabhängige Justiz existiert, die den Missbrauch von Geldern ahnden kann. Polen und Ungarn waren Adressaten solcher Massnahmen. Die Kommission als «Hüterin der Verträge» hat damit ein effizientes Machtinstrument in der Hand.
Doch ob sie auch sorgfältig genug damit umgeht, daran hat der Europäische Rechnungshof seine Zweifel. Er kritisiert in einem eben erschienenen Bericht die Methoden, mit denen die Kommission jährlich den Zustand des Rechtsstaats in den Mitgliedländern überprüft. Sie seien intransparent (also nicht nachvollziehbar), es fehle eine ausreichende Dokumentation, und über die Konsequenzen dieses «Screenings» gebe es keine Rechenschaft. Das ist bedenklich.
Ins gleiche Horn stösst das Europäische Parlament, das der Kommission vorwirft, beim Rechtsstaatsmechanismus «allzu diplomatisch» und «zu wenig präzis» zu sein. Gemeint ist: Das Instrument ist politisiert. Am Geldhahn dreht Brüssel nur, wenn es auch politisch in den Kram passt. So wie jetzt im Fall Polens. Tusk ist ein wichtiger Verbündeter im Abwehrkampf gegen den russischen Revanchismus (anders als Orban, der unsichere Kantonist). Deshalb, so die EU-Parlamentarier, erhält Warschau viele Milliarden und nicht Budapest. Nicht strenge Regeln entscheiden, sondern das Prinzip Hoffnung.
Eine Balance zwischen Recht und Macht
Diese Kritik ist überzogen, denn das Geld wird in Tranchen überwiesen, und diese können jederzeit gestoppt werden. Und es wäre unsinnig, abzustreiten, dass Geldtransfers in jeder politischen Organisation immer auch einer politischen Logik gehorchen – und gehorchen müssen. Aber Brüssel muss den Verdacht ernst nehmen, es drücke bei manchen Regierungen zu leicht ein Auge zu.
Die EU ist nicht nur eine Rechtsgemeinschaft, sie stolpert gerade auch in die Rolle eines geopolitischen Akteurs hinein. Mit ihren beiden Identitäten verbinden sich widersprüchliche Anforderungen. Die Union wird sich deshalb auf immer neue Balanceakte einstellen müssen.

