Freitag, Dezember 27

Ein Historiker korrigiert die Zahlen der Bergier-Kommission. Das ändert aber nichts daran, dass die damalige Flüchtlingspolitik antisemitisch war – und ein schändliches Kapitel der Schweizer Geschichte.

«Meine liebste Frau», schreibt Erwin Naef, ein Rorschacher Kaufmann und Oberleutnant, am 26. September 1943 aus dem Tessin. «Gestern wurde ich gottseidank abgelöst. Bin jetzt Reserve. In der vergangenen Woche erlebte ich das Traurigste, was mir je im Leben begegnete.» Und Naef, 30 Jahre alt, fährt fort: Erst seien «endlose italienische Flüchtlinge in Zivil» wieder über die Grenze geschoben worden. «Furchtbar war jedoch die Bestimmung, auch die Juden zurückzuweisen. Diese waren meistens deutschen Judenlagern entsprungen und nach unseligen Leiden irgendwo im Dickicht an unserer Grenze durch ein Loch im Drahtgehege geschlüpft, sanken hier vor Müdigkeit um.» Einmal habe er eine Gruppe von zwanzig Juden aufgegriffen. «Ich erhielt Befehl, Kinder unter sechs Jahren und deren Mütter hereinzulassen und die andern zurückzujagen (. . .) Befehl: Mit Waffengewalt zurück!»

Es sind Schilderungen wie diese, die auch 80 Jahre danach sprachlos machen. Wieso war die Schweizer Politik gegenüber Schutzsuchenden während des Zweiten Weltkriegs so restriktiv? Wieso wurden die Grenzen im August 1942 dichtgemacht, auch wenn dem Bundesrat bewusst war, dass «betroffenen Ausländern daraus ernsthafte Nachteile (Gefahren für Leib und Leben) erwachsen könnten», wie er es selbst formulierte? Wieso bestimmte die berüchtigte Weisung der eidgenössischen Polizeiabteilung «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge» weiter die Praxis, obwohl die Behörden seit 1941 von Massenmorden der Nationalsozialisten gewusst hatten?

Emotionale Debatte

Die Flüchtlingspolitik von damals ist eines der am besten erforschten Themen der jüngeren Schweizer Geschichte. Schon kurz nach dem Krieg liess der Bundesrat dieses Kapitel vom Rechtsprofessor Carl Ludwig untersuchen, nachdem die Schweizer Beteiligung an der Einführung des «J-Stempels» in den Medien kritisiert worden war. Der sogenannte Ludwig-Bericht erschien 1957. Zehn Jahre später sorgte das Buch «Das Boot ist voll» des Publizisten Alfred A. Häsler (das auch verfilmt wurde) für Furore und machte betroffen. Und als die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, die sogenannte Bergier-Kommission, Ende der neunziger Jahre die wirtschaftlichen Verstrickungen des Landes mit Hitlers «Drittem Reich» aufarbeitete, erschien auch ein Band über die Flüchtlingspolitik. Keine Frage wurde in der Öffentlichkeit emotionaler debattiert als jene nach der Zahl der abgewiesenen jüdischen Flüchtlinge. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Eidgenossenschaft damals sehr offen für Geld und Gold war – nicht aber für Menschen.

Laut dem Schlussbericht der Bergier-Kommission hat die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs rund 20 000 Flüchtlinge «an der Grenze abgewiesen oder aus dem Land ausgeschafft», mehr als die Hälfte von ihnen im Tessin und im Misox. Diese Zahl bezieht sich auf zivile Flüchtlinge im Allgemeinen, nicht spezifisch auf Jüdinnen und Juden. Trotz schwieriger Quellenlage heisst es dann aber im Bericht: «Sicher ist, dass es sich bei den bis im Frühling 1944 weggewiesenen Flüchtlingen zu einem grossen Teil um Juden handelte.»

Dieser Behauptung widerspricht nun der Historiker Adriano Bazzocco in einem Aufsatz, der von der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) publiziert worden ist. Bazzocco hat die Zahl der Flüchtlinge aus Italien, die im Bergier-Bericht referiert wird, einer kritischen Prüfung unterzogen. Vor allem aber kann er mittels neu entdeckter oder zuvor nicht gründlich untersuchter Bestände des Grenzwachtkorps solide Angaben für den «Zollkreis IV» machen, der das Tessin und das Misox umfasste.

Dass diese regionalen Resultate so relevant für das Gesamtbild sind, hängt mit der speziellen Situation im Süden zusammen. Bis zum Sommer 1943 war die Lage an der Grenze zu Italien stabil und ruhig, nur wenige Fälle von illegalen Einwanderern sind belegt. Das änderte sich schlagartig, als Italien im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten aushandelte und in der Folge von der Wehrmacht besetzt wurde. Es begannen Deportationen. Aber es kam auch zu massenhaften Desertionen von italienischen Armeeangehörigen, die nicht an der Seite der Deutschen weiterkämpfen wollten und sich abzusetzen versuchten, oft als Zivilisten. Bis zum März 1944 wurden im Tessin rund 10 000 Personen zurückgeschickt – also rund die Hälfte aller für die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs geschätzten abgewiesenen Zivilflüchtlinge.

Mehrheitlich italienische Deserteure?

Der Historiker Bazzocco weist nun plausibel nach, dass der Anteil der Juden unter diesen Flüchtlingen deutlich tiefer war als bisher in der Forschung vermutet. Die Mehrheit der Zurückgewiesenen seien höchstwahrscheinlich ehemalige Soldaten der aufgelösten italienischen Armee gewesen, schreibt er.

So verzeichnet etwa das Register «Ricapitolazione giornaliera profughi» des zentralen Sektors Mendrisio alle angenommenen und abgewiesenen Flüchtlinge, kategorisiert nach «Kriegsgefangene, Militär, Zivile, Juden». Von September 1943 bis zum Kriegsende im Mai 1945 wurden dort 3131 Juden aufgenommen und 468 zurückgewiesen. Aus den Kategorien Militär und Zivil waren es 4383 Abgewiesene. Ein ähnliches Bild zeigt sich beim «Registro di orientamento» der Grenzwächter des Sektors Locarno. Dort sind für den gleichen Zeitraum 447 aufgenommene und 118 zurückgewiesene Juden dokumentiert – sowie 3386 abgelehnte Personen aus den Kategorien Militär und Zivil. Diese Stichprobe ist laut Bazzocco «äusserst repräsentativ, denn sie entspricht 83 Prozent der Gesamtzahl der im Tessin und Misox aufgenommenen Juden».

Bazzocco rechnet die Ablehnungsquote der Sektoren Mendrisio und Locarno (14,1 Prozent) schliesslich für die gesamte Grenze zu Italien hoch. Demnach wären 995 Jüdinnen und Juden zurückgewiesen worden, schätzt der Historiker; das ist zumindest für die Südgrenze nicht der «grosse Teil» aller Abweisungen, wie es im Bergier-Schlussbericht steht. Bazzoccos Untersuchung ist eine Korrektur der bisherigen Forschung. Vor wenigen Jahren löste bereits die Historikerin Ruth Fivaz-Silbermann mit neuen statistischen Erhebungen zur Westschweizer Grenze eine Debatte zu den Flüchtlingszahlen und ihrer Interpretation aus.

Doch sind solche quantitativen Neubewertungen überhaupt entscheidend? Macht es das Verhalten der Schweizer Behörden während des Zweiten Weltkriegs «besser», wenn weniger Juden als gedacht an der Grenze abgewiesen wurden? War es sogar eine «Leistung», dass rund 20 000 der insgesamt über 50 000 hierzulande aufgenommenen Zivilflüchtlinge Jüdinnen und Juden waren? Oder müsste nicht auch berücksichtigt werden, dass die Schweiz 16 000 Visumsgesuche ablehnte, die Juden im Ausland gestellt hatten? Und dass sie mit der Grenzschliessung wohl viele Menschen abschreckte? Es wäre zynisch, das miteinander zu verrechnen oder gar mit statistischen «Aufnahmewahrscheinlichkeiten» zu argumentieren.

Gregor Spuhler, der Leiter des ETH-Archivs für Zeitgeschichte, hat es vor Jahren schon auf den Punkt gebracht: «In moralischer Hinsicht bleibt das Problem der Nichtanerkennung der Judenverfolgung als Asylgrund und ihrer Rückweisung im Wissen um ihre akute Bedrohung an Leib und Leben dasselbe – unabhängig davon, ob es um einige tausend oder um 20 000 zurückgewiesene Juden ging.»

Und so betont auch Adriano Bazzocco, wie wichtig die Studie der Bergier-Kommission bleibt, insbesondere was die Rolle des Antisemitismus betrifft. Die verantwortlichen Beamten und der Bundesrat sahen in der Zuflucht der jüdischen Verfolgten primär die Gefahr der «Überfremdung», deren Bekämpfung die Ausländerpolitik schon seit Jahrzehnten bestimmt hatte. Juden galten als «wesensfremd» und «nichtassimilierbar».

Das spiegelte sich in fataler Weise in der schändlichen Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs – für die sich 1995, ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, Bundespräsident Kaspar Villiger im Namen der Landesregierung entschuldigte: «im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar ist.»

Adriano Bazzocco: Aufgenommen – abgewiesen. Juden auf der Flucht aus Italien während des Zweiten Weltkrieges: neue Daten und Analysen. Saggi di Dodis 4 (2022/4), dodis.ch/saggi/4-4.

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