Das Zwicky-Areal hat sich zu einem der lukrativsten Bauprojekte der Agglomeration Zürich entwickelt. Jetzt hat ein Familienmitglied Strafanzeige eingereicht wegen Verdacht auf Verstösse gegen die Bauvorschriften.
Das Zwicky-Areal in der Glatttal-Agglomeration im Kanton Zürich gilt als Musterbeispiel für die Umnutzung einer Industriezone. Wie eine Oase präsentiert sich das heutige Wohn- und Gewerbegebiet, durch das der Chriesbach und die Glatt fliessen. Etwa drei Viertel gehören zu Wallisellen, ein Viertel zu Dübendorf. Doch das Gebiet ist auch erheblichen Immissionen ausgesetzt – durch die stark befahrene Überlandstrasse, die Autobahn und ein SBB-Viadukt.
Das riesige Areal erstreckt sich insgesamt über eine Fläche von 23,9 Hektaren. Seit 2004 wurden im Rahmen von Gestaltungsplänen und Neubauten über 1000 Wohnungen für rund 3000 Personen realisiert. Es ist ein belebtes, von verschiedenen Generationen und Nationalitäten durchmischtes Quartier, das baulich von Backsteingebäuden geprägt ist, die an die industrielle Vergangenheit erinnern. Die Überbauung heimste mehrere Preise ein wegen «Mut zur Dichte, zur Urbanität, zum Machen und zur gelebten ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit», wird bei den Verleihungen gelobt.
Doch jetzt stellt ein Mitglied der früheren Besitzerfamilie Zwicky die Rechtmässigkeit der Wohnbauten infrage. Christa Zwicky ist die jüngste von drei Geschwistern. Im Herbst 2015 verkaufte sie ihren Drittel des verbliebenen Grundbesitzes an ihre zwei Geschwister. Sie habe sich auf ein Leben ohne das komplizierte Familienerbe konzentrieren wollen, erklärt Christa Zwicky der «NZZ am Sonntag».
Eine schwierige Erbschaft
Dieses hat seinen Ursprung im Jahr 1840 mit der Gründung der Seiden- und Baumwollzwirnerei Zwicky und Co. Über 150 Jahre stellt die Industriellendynastie auf dem Gebiet der zwei Gemeinden Wallisellen und Dübendorf ihre weltbekannten Nähfäden und Seidenzwirne her. Wegen der wachsenden ausländischen Konkurrenz wird die Produktion in den neunziger Jahren eingestellt, und die Familie beschliesst, das Gebiet umzunutzen.
Der studierten Chemikerin Christa Zwicky liegt vor allem der Bestand von Wald und Grünflächen am Herzen. Wegen der Umsetzung des Gestaltungsplans kommt es zwischen ihr und den Geschwistern zu immer heftigeren Diskussionen, sagt sie. Weshalb sie dann im Jahr 2015 mit dem Verkauf einen Schlussstrich ziehen will.
Das gelingt ihr nicht. Während der Bruder und die Schwester längst ausserhalb der Region wohnen, zieht Christa Zwicky, die bis 2015 in der heimischen Villa mitten im Areal lebte, in ein nahe gelegenes Haus. Mit ihren Hunden läuft sie in den folgenden Jahren täglich durch die sieben Baufelder des Areals, in denen nun intensivst gebaut wird.
Schattenseiten des Vorzeigeprojekts
Bald fallen ihr die geringen Abstände der neu errichteten Gebäude zum SBB-Viadukt auf. Ist das nicht gefährlich? Darf so nahe an die SBB-Geleise gebaut werden, auf denen auch Gefahrengüter transportiert werden? Das Areal ist zudem nicht nur von den Geräuschen der Strasse und der SBB, sondern auch den Lärmemissionen des Flugverkehrs im Raum Dübendorf betroffen. War die Umwandlung des Gebiets in eine Wohnsiedlung wirklich mit den Lärmschutzvorgaben vereinbar?, fragt sich Christa Zwicky.
Sie erinnert sich zudem, dass das Areal immer einmal wieder unter Wasser stand, und fragt sich, ob die Untergeschosse der Häuser und allfällige Kellerräume vor Hochwasser geschützt sind.
Immer wieder verlangt sie deshalb Einsicht in Baubewilligungen. Dies werde ihr oft verwehrt, erklärt sie. Erhält sie Zugang, scheinen ihr die Dokumente nicht vollständig zu sein. Irgendwann reift der Verdacht, dass sowohl die Bauordnung als auch der Gestaltungsplan zu stark gedehnt wurden.
Im Jahr 2023 reicht sie bei der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland Anzeige gegen Unbekannt ein. Laut Anzeige gibt es Verdachtsmomente, dass es beim Umbau der früheren Industriebrache in das heutige Wohn- und Gewerbegebiet zu strafrechtlich relevanten Unregelmässigkeiten gekommen ist und systematisch Planungs- und Baurechtsvorschriften verletzt wurden. Ihre Strafanzeige konzentriert sich exemplarisch auf ein Baufeld E, an dem die Verdachtsmomente illustriert werden. Die Staatsanwaltschaft bestätigt den Eingang der seither mehrmals ergänzten Strafanzeige.
Der Gestaltungsplan von 2012 geht schon ungewöhnlich weit, indem er Industrieland für eine Wohnnutzung zulässt. Doch gemäss Christa Zwicky sprengen die nun tatsächlich realisierten Wohnhäuser den Rahmen des Gestaltungsplans: «Die zulässige Geschossfläche scheint überschritten, und der Wohnanteil liegt mit vermuteten 97 Prozent höher, als der Gestaltungsplan erlaubt», sagt sie.
Besonders misstrauisch macht sie das Fehlen wesentlicher Dokumente. «Ausnahmebewilligungen sind nicht belegt oder nicht auffindbar», sagt sie und wirft den Behörden mangelnde Transparenz vor. Ebenso seien die Bauprojekte durch die Stadt Dübendorf und die Gemeinde Wallisellen ungenügend kontrolliert worden.
Ein rechtmässiger Plan – oder doch nicht?
Christa Zwicky holte sich Unterstützung: Der Aargauer Rechtsanwalt Michael Pletscher, ein regelmässig zitierter Experte für Gestaltungspläne, steht ihr beratend zur Seite. Zur umstrittenen Gestaltungsplanung sagt er: «Diese Umzonung von Industrie- und Gewerbeland zu einer Wohnnutzung geht zu weit.» Eine solche Grundsatzfrage für ein riesiges Gebiet, das sich über zwei Gemeinden erstrecke, müsste im Rahmen der Zonenordnung und nicht mit einem Gestaltungsplan geregelt werden.
Beim früheren Industriegebiet auf dem Zwicky-Areal seien zum Beispiel Lärm und sonstige Immissionen kein Thema gewesen. Mit dem Gestaltungsplan würden solche wesentlichen Fragen und weitere Interessen wie Schulraum oder Erschliessung «nicht ausreichend berücksichtigt», sagt Pletscher.
Der Experte weist darauf hin, dass Wallisellen und Dübendorf hier keinesfalls allein stünden: «Etliche Gemeinden haben ein vitales Interesse daran, in Industriebrachen Wohnsiedlungen zu erlauben und ein möglichst einfaches Verfahren dafür vorzusehen.»
Dübendorfs Stadtpräsident widerspricht
André Ingold, der Stadtpräsident von Dübendorf, widerspricht. «Zum Zeitpunkt der Festsetzung und Genehmigung in den Jahren 2011 und 2012 war der Gestaltungsplan in klarer Weise rechtmässig.» Der Kanton habe dies im Rahmen seiner Prüfung ausdrücklich bestätigt.
Doch Ingold räumt ein: «Aufgrund aktueller Rechtsprechung ist es tatsächlich so, dass sich die kantonale Genehmigungspraxis geändert hat und die Abweichungen von der Grundordnung künftig geringer sein sollten.» Die geänderte Praxis habe Dübendorf im Rahmen von jüngeren Gestaltungsplänen «selbstverständlich übernommen».
Konkret heisst dies: Der damalige Gestaltungsplan hätte heute keine Chance. Das zeigt auch die schriftliche Stellungnahme der Baudirektion des Kantons Zürich: «Die Wohnnutzung weicht zu stark ab von der vorgesehenen Nutzung in Gewerbe- und Industriezonen.»
Die Stadt Dübendorf weist aber alle Vorwürfe klar zurück, dass bei den Bewilligungen etwas nicht korrekt abgelaufen sei. Es habe keine unzulässigen Ausnahmen oder Versäumnisse bei Baukontrollen gegeben. «Die Baubewilligung wurde damals rechtskräftig», so Ingold, und es gebe keinen Anlass, «nachträglich darauf zurückzukommen».
Die Geschwister verteidigen sich
Auch die Geschwister Zwicky weisen alle Vorwürfe zurück. Die Umnutzung des gesamten Areals sei während aller Phasen in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden unter Einhaltung aller einschlägigen Gesetze und Vorschriften geplant, umgesetzt und von den Behörden abgenommen worden, schreiben sie.
Und weiter: Das in der Anzeige genannte Baufeld E sei gemäss Gestaltungsplan dasjenige mit der höchsten Nutzung im Zwicky-Areal. «Auf dem Baufeld E ist der grösste Teil des Erdgeschosses gewerblich genutzt, es gibt Gastrobetriebe, ein kleines Hotel, einen öffentlichen Kindergarten, ein Tanzstudio, eine Stiftung, Mehrzweckräume, einen Kindercoiffeur und viele weitere kleine Gewerbebetriebe und Läden. Wie man bei so viel Gewerbe einen Wohnanteil von 97 Prozent ermitteln will, ist schleierhaft. Aufgrund der öffentlich zugänglichen Daten ergibt sich ein Wohnanteil von rund 75 Prozent», führen sie aus.
Ebenfalls entspreche die Anzahl der Parkplätze dem, was geplant gewesen sei. In der Nähe der Haltestelle Neugut-Süd gebe es gar keine Parkplätze, so die Antwort der Geschwister. Bezüglich Gewässerschutz und Grundwasser sei «alles mit den zuständigen Behörden entwickelt worden».
Wie weit dürfen private Gestaltungspläne gehen?
Natürlich geht es bei solchen Projekten auch immer um sehr viel Geld. Denn die Umnutzung von Industrie- und Gewerbeflächen zu Wohngebiet hat den Landwert in astronomische Höhen katapultiert. War ein Quadratmeter Gewerbeland früher noch mit 200 bis 300 Franken bewertet, zahlen Investoren heute für Wohnbauland in Dübendorf bei einer derart hohen Ausnützung bis zu 10 000 Franken.
Entscheidend dafür sind private Gestaltungspläne, die Eigentümern und Bauherrschaften erhebliche Spielräume zur Abweichung von der Bau- und Zonenordnung bieten.
Die Einsprachefristen, insbesondere zum Gestaltungsplan und zur Baubewilligung auf Baufeld E, dürften verstrichen sein. Doch unabhängig davon, ob Christa Zwickys Vorwürfe berechtigt sind oder nicht, stellen sich weitergehende Fragen. Wie weit darf ein privater Gestaltungsplan gehen, bevor er die Grundprinzipien der Bau- und Zonenordnung aushebelt? Welche Behörde hat bei solchen Grossprojekten mit einer Vielzahl von involvierten Parteien den Überblick, und wer kontrolliert? Wer übernimmt die Gesamtverantwortung, während die Region weiter stark wächst?
Der Stadtrat und das Parlament von Dübendorf arbeiten derzeit an einer Gesamtrevision der Richt- und Nutzungsplanung, um die weitere Entwicklung voranzubringen. Bis 2035 könnte die Wohnbevölkerung auf 35 000 Personen steigen, 10 Prozent mehr als heute.
«Ich erhielt im 2015 etwa 350 Franken pro Quadratmeter – der damals übliche Preis von erschlossenem Industrieland», so erinnert sich Zwicky an den Verkauf. Motivation für die Strafanzeige aber seien die real existierenden Gefahrenlagen auf dem Areal gewesen, führt Zwicky aus, die in ihrer Strafanzeige beantragt hat, alle Verdachtsmomente genauestens zu prüfen.
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