Freitag, Januar 3

Das Landesmuseum Zürich zeigt, wie unterschiedlich der Körper vonseiten der Kirche, in der Medizin und in der höfischen Gesellschaft wahrgenommen wurde.

Der Körper ist allgegenwärtig. Er wird beurteilt, reguliert, inszeniert, begehrt, gepflegt und optimiert. Er wird diskutiert im Zusammenhang mit Diversität und Diskriminierung, Machtmissbrauch und sexueller Gewalt. Zusammen mit dem Geschlecht spielt der Körper eine zentrale Rolle bei der Suche nach Identität. Einmal beschreibt er ein definierbares Objekt mit gesellschaftlichen Idealen, ein andermal die Selbstwahrnehmung. Menschen sind an einen Körper gebunden, von der Geburt bis zum Tod.

Mit dem Titel «begehrt. umsorgt. gemartert.» wirft das Landesmuseum Zürich einen kulturhistorischen Blick auf die Auffassung des Körpers im christlich geprägten Europa vom 10. bis zum 15. Jahrhundert. Und zeigt: Die Menschen haben sich bereits im Mittelalter äusserst intensiv mit dem Körper beschäftigt.

Am Anfang steht die Geburt, die Nacktheit, Sinnbild eines naturnahen, ungeformten Zustands. Kaum sind sie geboren, werden Säuglinge aber in Leinen gewickelt, ihre Körper fügen sich in die Gesellschaft. Die Hülle wird von sozialen Normen geprägt und passt sich entsprechend der Veränderung der Normen an. Nach gelebtem Leben werden die Menschen eingehüllt wie Kokons zu Grabe getragen.

Ein Gemälde von Adam und Eva zeigt in der Ausstellung die nach der biblischen Schöpfungsgeschichte letzten Menschen ohne Schamgefühl. Es ist eines der wenigen Motive der christlichen Kunst, die es Malern ab dem 9. Jahrhundert erlaubten, entblösste Körper darzustellen. Doch bereits in diesem Bild bedecken sie mit einem Feigenblatt ihre Geschlechtsorgane, wenn auch nur zufällig und spärlich, und verstecken sich damit vor Gott.

Die mittelalterlichen Vorstellungen des Körpers sind geprägt von der kirchlichen Moral. Der Körper ist eine Schöpfung Gottes und deshalb heilig. Gleichwohl ist das ewige Leben der Seele nach dem Tod viel wichtiger. Es dreht sich alles um die Zweiteilung zwischen einer äusseren Erscheinung, die zeitlich begrenzt ist, und einem Inneren, das frei von Sünden und der Last des Körperlichen ins Paradies aufsteigen wird. Eine reine Seele hat einen reinen, gesunden Körper.

Gleichzeitig gilt der Körper als Wohnort der Sünde, die sexuelle Lust gefährdet die göttliche Ordnung. Sexualität wurde von der Kirche nur in der Ehe geduldet, nur in einer bestimmten Stellung und nur zur Fortpflanzung. Sexuelle Praktiken ausserhalb der Ehe und «widernatürliche» Handlungen wie gleichgeschlechtliche Akte, Masturbation oder oraler Verkehr wurden im Kirchenrecht ab dem 12. Jahrhundert unter Strafe gestellt.

Der biblische Sündenfall sorgte dafür, dass die Frauen seit Eva als Verführerinnen galten, getrieben von ihrem sexuellen Wesen. Der Mann war immer der Verführte. So drehten sich etwa rechtliche Debatten um sexuelle Nötigung und Gewalt im Hoch- und Spätmittelalter um die Frage, ob die betroffene Frau den Täter sexuell gereizt und dabei selbst Lust verspürt habe.

Die Männer, vernünftige und beherrschte Wesen, wurden hingegen als tölpelhaft, närrisch oder unzurechnungsfähig abgestempelt, wenn sie die Kontrolle über ihre Triebe verloren. Die Prostitution war gang und gäbe. Sie wurde als notwendiges Übel angesehen, das schlimmere moralische Gefahren von der Gemeinde fernhielt. Denn ausserehelicher Verkehr führte zur Ächtung von unverheirateten Frauen. Um die Sittlichkeit der ehrbaren Frauen zu gewährleisten, wurden die «öffentlichen» Frauen markiert, etwa mit einem gelben Band.

Auch wenn die Kirche eine strenge Sexualmoral vorgab, war das Mittelalter nicht so prüde, wie man sich das vorstellt. Die Medizin empfahl Lust und Beischlaf sogar ausdrücklich als Gesundheitsvorsorge. Dass das tatsächliche Leben im Widerspruch zwischen Erotik und Moral stand, zeigen verschiedene überraschende Exponate in der Ausstellung.

Zum Beispiel höfische Schnabelschuhe, deren Spitzenlänge mit erotischen Untertönen besetzt war. Kleiderordnungen mahnten damals, dass man es mit dem Schnabel nicht übertreiben solle. Daneben hängt eine Zeichnung eines Jünglings. Mit einem langen Dolch zwischen seinen Beinen bestürmt er eine Jungfrau und verliert in seiner Wollust die Trippe, den hölzernen Unterschuh.

Dass den Menschen im Mittelalter erotische Gefühle nicht ganz geheuer waren, zeigt billiger und massenhaft hergestellter Schmuck. Die Bedeutung der obszönen Tragezeichen aus Blei-Zinn ist ungewiss. Sie wurden wohl für verschiedene Zwecke an die Kleidung genäht oder angesteckt und waren in ganz Westeuropa verbreitet.

Eines der Motive könnte als Sinnbild der sexuellen Abhängigkeit von Männern gegenüber Frauen gedeutet werden: Drei Phalli mit langen Beinen tragen eine gekrönte Vulva wie bei einer Prozession auf einer Bahre. Es könnte aber auch die Prozessionen der katholischen Kirche verspotten.

Ein anderes Zeichen zeigt eine Vulva mit Flügeln und einer Krone oder einen Phallus mit Beinchen und einem Glöckchen an der Eichel, der auf eine Vulva zuläuft. Darunter steht die Inschrift «Pintel in», was so viel bedeutet wie «Penis rein». Gefunden wurden sie in den Niederlanden beziehungsweise in Belgien.

Die personifizierten Genitalien handeln scheinbar eigenwillig und unkontrollierbar. Der Mensch ist seinem Körper gewissermassen ausgeliefert, er macht sich manchmal so ungewollt wie unpassend bemerkbar.

Höfische Ideale und utopische Gegenwelt

Körperkult gab es schon damals. Die höfische Gesellschaft trieb grossen Aufwand mit Kosmetik und körperlicher Ertüchtigung oder verbrachte ihre Zeit in Badehäusern. Die Eitelkeiten spiegelt ein um das Jahr 1470 auf Deutsch verfasstes Traktat an die höheren Stände. Es liest sich wie eine moderne Anleitung für einen Coiffeur: wie man sich die Haare rot, schwarz oder golden färbt oder das «Grau vertreiben mag», wie man das Haar glättet, verlängert oder entfernt.

Höfische Frauen trugen ihr Haar bis zur Heirat kunstvoll geflochten, dann wurde es verhüllt. Bei den Männern waren lange, gelockte Haare das Ideal. Eine reine, hell gepuderte Haut und dezent geschminkte Gesichter galten als Zeichen von Schönheit, Gesundheit und Jugend. Der Rest der Bevölkerung musste sich aber mit einem Besuch eines Bades und mit einem Läusekamm begnügen.

Ebenso eindringlich wie mit dem eigenen befasste man sich mit «anderen» Körpern. Körpern, die von der Norm abwichen, wurde mit grosser Verunsicherung begegnet. Dazu gehörten etwa Kleinwüchsige, zweigeschlechtliche Menschen oder Menschen mit Deformationen. Sie wurden exotisiert, als «Fehler der Natur» beschrieben oder unter dem Begriff «monstra», Lateinisch für Wunderzeichen, als unheilvolle Omen gesehen. Der Kirchenvater Augustinus (354–430) hingegen sah sämtliche Abweichungen als Ausdruck der schöpferischen Vielfalt.

Beschrieben wurde bis ins 15. Jahrhundert auch die mögliche Existenz von «Wundervölkern». Zum Beispiel «Wildleute», porträtiert auf Wandgemälden oder Bildteppichen. Mit ihren nackten, behaarten Körpern standen sie für eine utopische Gegenwelt jenseits moralischer Normen. Sie widerspiegelten die unkontrollierbare Natur und warfen die Frage auf, inwiefern sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Reiseberichte in weit entlegene Länder wie die des italienischen Händlers Marco Polo erwähnten solche «Wundervölker» und machten sie populär.

Der tote Körper als Alltäglichkeit

Allgegenwärtig waren das Leiden, die Gewalt und der Tod. Der Körper war in ständiger Gefahr. Mit dem Entstehen grosser Städte im 14. Jahrhundert lebten Mensch und Tier auf engstem Raum. Krankheiten wie die Pest konnten sich rasch ausbreiten. Auch damit stand der Körper im Mittelpunkt. Ausgeliefert einem Verfall, den man mit den damaligen Mitteln der Medizin nicht aufhalten konnte.

Die Beschäftigung mit dem toten Körper war fast obsessiv. Angefangen mit der Figur Jesus Christus am Kreuz, die überall zu sehen war. Die Angehörigen waren besorgt um das jenseitige Schicksal der Verstorbenen. Und die Kirche regelte auch diesen letzten Moment des Körpers: die Aufbahrung, Einsegnung und Bestattung. Die zahlreichen Darstellungen wie Totentänze inszenierten die Gleichheit der Menschen vor dem Tod.

Die Ausstellung im Landesmuseum verdeutlicht, dass das Verständnis des Körpers von den vielen widersprüchlichen Stimmen abhängig ist, die über ihn sprechen, ihn kontrollieren oder pflegen. Im Mittelalter gaben die Kirche, die Medizin und die höfische Gesellschaft den Rahmen dafür.

Die Ausstellung «begehrt. umsorgt. gemartert.» im Landesmuseum Zürich ist bis zum 14. Juli zu sehen.

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