Das legendäre Magazin feiert seinen hundertsten Geburtstag. Die Gabe, aus einem noch so kleinen Thema grosse Reportagen zu machen, beschert dem Heft weltweit Fans.
Es müsste einen eigenen Ausdruck geben für das schlechte Gewissen, das einen beim Anblick der sich stapelnden ungelesenen «New Yorker»-Magazine befällt. Denn fast jede Abonnentin, jeder Abonnent, 1,3 Millionen sind es weltweit, kennt dieses Gefühl. Ein neuer «New Yorker» im Briefkasten ist ein Höhepunkt der Woche, aber auch eine Überforderung. In unserer Welt der sich überschlagenden Eilmeldungen tut das Heft so, als hätten wir alle Zeit, um uns ein paar Stunden seinen oft ausgefallenen Themen zu widmen.
Da schreibt Gary Shteyngart sieben Seiten über Capybaras, enorme Nagetiere, die er in Tokio beim Kaffeetrinken antrifft. Da gibt es zwölf Seiten über den Designer Loewe. Ernste Reportagen werden im Heft meist mit einer besonderen Perspektive vertieft. Ausserdem gibt es jedes Mal eine Kurzgeschichte. Und seit David Remnick 1998 der fünfte und jüngste Chefredaktor geworden ist, findet auch aktuelle Politik ihren Platz. Ein Heft ohne Donald Trump ist in diesen Monaten rar geworden.
Bei seiner Gründung vor hundert Jahren wollte der «New Yorker» vor allem lustig, ein «humor magazine» sein. Bis heute geblieben sind aus jener Zeit die Cartoons, die launigen Kolumnen wie «Talk of the Town» (Stadtgespräch) und das zum Kult gewordene Cover, das immer illustriert ist. Viele dieser Illustrationen sind Kunstwerke. Die Originale werden an Auktionen teuer gehandelt.
Sogar Nichtabonnenten sind mit den bekanntesten Sujets vertraut: die Twin Towers nach 9/11 in Schwarz auf schwarzem Hintergrund, der orthodoxe Jude, der eine schwarze Frau küsst – eine Reaktion auf die Ausschreitungen im Quartier Crown Heights. Oder ein Gruppenbild des Supreme Court, bei dem sechs Männer das Gesicht Trumps tragen. Allein wegen des Covers, dieser Bündelung von Poesie und Witz, kann man das Heft jeweils unmöglich wegwerfen.
Ein gewisser Elitarismus gehört dazu
Der «New Yorker» wurde in Paris gezeugt und in New York ausgebrütet. Geburtsdatum: 21. Februar 1925. Umfang: 36 Seiten. Preis: 15 Cent. Dessen Gründer Harold Ross und Jane Grant hatten sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs in Paris verliebt. Er war der Chefredaktor des US-Militärmagazins «Stars and Stripes», sie schrieb für die «New York Times». Das Paar heiratete und träumte vom eigenen Heft. Später in New York fanden sie in Raoul Fleischmann, dem Erben eines Hefe-Imperiums, einen finanzkräftigen Verleger, der sich auf das Risiko einliess.
Die ersten Ausgaben waren erfolglos. Der Chefredaktor Harold Ross verspielte 20 000 Dollar beim Pokern, der Hefe-Magnat Fleischmann hätte das Projekt um ein Haar fallenlassen. Erst mit den Jahren gewann der «New Yorker» an Profil und Leserschaft.
Wie schon das allererste Cover klarmachte, das einen arroganten Dandy mit Monokel zeigte: Der «New Yorker» war etwas für den kosmopolitischen Städter. Intellektuell, liberal, leicht versnobt, aber dabei stets selbstironisch. Das Heft wollte sich nie anbiedern, manchmal war es direkt leserfeindlich. In den ersten Jahren verzichtete es auf die Orientierungshilfe eines Inhaltsverzeichnisses. Und vom Gründer Harold Ross stammt der bekannte Satz, der «New Yorker» sei «nicht für die alte Dame in Dubuque» – eine Kleinstadt in Iowa. Kein Medium würde heutzutage gewisse Leser ausschliessen wollen.
Erinnerungen eines einstigen Mitarbeiters
Als der Autor und Journalist Lawrence Weschler 1981 beim «New Yorker» einstieg, hatte das Magazin sich längst als eines der besten der Welt etabliert. Weschler bekam viel Narrenfreiheit. Ihn interessierte, was in Polen mit der Solidarność-Bewegung los war, also reiste er dorthin und berichtete.
Es sei ein Glücksfall gewesen, dass der damalige Chefredaktor William Shawn «der phobischste Mensch der Welt» war, sagt Weschler im Gespräch: «Er hatte Angst vor Brücken, Flugzeugen, Booten. Er war im Grunde der ‹New Yorker›. Er lebte in Manhattan, nur einmal im Jahr ging er für ein paar Wochen aufs Land. Aber er war gleichzeitig unglaublich neugierig auf die Welt.» Auch habe er ein Budget gehabt, mit dem er Leute überall hinschicken konnte. «Er sagte: ‹Sag mir, wie es ist, mach es sichtbar für mich!›», erinnert sich Weschler. Eigentlich habe Shawn das Heft für sich selbst herausgegeben.
Es heisst, das Magazin sei während des Zweiten Weltkriegs erwachsen geworden. Damals konnte es sich ernsten Themen nicht länger entziehen. 1936 schrieb Janet Flanner ein Porträt über Adolf Hitler, 1946 bestand eine Ausgabe einzig aus einem Text über die Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Japan. John Herseys «Hiroshima» war eine von diesen Reportagen, die unsere Sicht auf die Welt für immer veränderten.
Dazu gehört auch James Baldwins «Letter from a Region in My Mind», der 1962 das öffentliche Bewusstsein für Rassismus und Sexismus in den USA schärfte, oder Marinebiologin Rachel Carsons Umweltgift-Essay «Stiller Frühling», der zum Verbot des Pestizids DDT führte und der globalen Umweltbewegung Auftrieb gab.
Unter Shawn wurde der «New Yorker» globaler, literarischer, relevanter. Shawn arbeitete 53 Jahre für das Heft, davon 35 als Chefredaktor – erst der zweite nach Ross. Zu Unrecht habe Tom Wolfe, prominenter Vertreter des New Journalism, ihn einen Mumifizierer im Land der Untoten genannt, sagt Lawrence Weschler. Auch mit fast 80 Jahren sei Shawn im Geiste einer der jüngsten Chefredaktoren Amerikas gewesen. Er habe einige der besten jungen Autorinnen und Autoren entdeckt und gefördert. J. D. Salinger, Joseph Mitchell, John Updike unter anderen. Der New Journalism sei ziemlich bald wieder aus der Mode gekommen. Der klare, elegante Stil, den der «New Yorker» pflegt, bleibt aktuell.
Absagen an Hemingway und Orwell
Seinen Autoren machte es der «New Yorker» nie leicht. Er ist berüchtigt dafür, wählerisch zu sein. Im «New Yorker»-Archiv der Public Library in New York lagern 2500 Schachteln voller Ablehnungsschreiben. Sogar Ernest Hemingway, George Orwell oder Sylvia Plath haben welche bekommen.
Roz Chast ist eine der beliebtesten Cartoonistinnen des Blattes. Sie reicht nun seit fast fünfzig Jahren wöchentlich etwa zehn Zeichnungen ein. «Manchmal kaufen sie eins, manchmal nicht», sagt sie im Videogespräch. «Jede Woche muss der ‹New Yorker› eine absurde Anzahl von Cartoons durchgehen, vielleicht ein paar tausend. Davon kaufen sie dann etwa fünfzehn. Die Chancen gegen dich sind also enorm.»
Der «New Yorker» ist, je nach Sicht, pingelig oder eben genau. Alle Beiträge, ob Fiktion, Tatsachenbericht oder Zeichnung, werden einer rigorosen Überprüfung unterworfen. Heute beschäftigt das Blatt neben den gegenlesenden Redaktorinnen und Redaktoren 28 «fact checkers», unter ihnen regelrechte Sprachpuristen.
Zu Weschlers Zeit als Redaktor gab es eine «Grammarian» namens «Miss Gould», die «in einer einzigen Spalte 50 Grammatikfehler finden konnte, von denen die 45 spitzfindigsten nicht geändert wurden, obwohl sie recht hatte, aber zwei oder drei ihrer Vorschläge waren jeweils genial». Ein Artikel, den sie korrigiert zurückschickte, wurde als «Gould-Probe» bezeichnet und enthielt Kommentare wie: «Ist das klar? (für mich nicht)», «KEINE Grammatik!» und «Haben wir völlig den Verstand verloren?».
Vladimir Nabokov hasste es, korrigiert zu werden. Lawrence Weschler hingegen wurde gern korrigiert. Er sagt: «Etwa einen Monat vor Abdruck streifen mehrere Teams durch einen Artikel, wie Trupps mit Suchscheinwerfern. Es war aufregend, der Text wurde besser und besser.»
Die langjährige «New Yorker»-Autorin Patricia Marx schätzt die Faktenchecker ebenfalls: «Sie geben mir eine gewisse Sicherheit. Manchmal fanden sie Dinge über mein Thema heraus, von denen ich nichts gewusst hatte.» Sie kämpfe nicht um einzelne Wörter oder gegen Kürzungen, sagt Marx und fügt im Ton ihrer satirischen Beiträge hinzu: «Wenn nötig, kürze ich meine Texte auf null Zeichen herunter.»
Flair für Nischenthemen
Der «New Yorker» legt Wert auf seinen moralischen Kompass. Seine Haltung gegen den Vietnamkrieg kostete ihn viele Werbekunden. Dafür gewann man viele junge Leserinnen und Leser hinzu.
Heute finanziert sich das Magazin gemäss seinem Chefredaktor David Remnick vor allem durch seine Abonnements. Diese finanzielle Unabhängigkeit von Werbekunden dürfte dem Blatt gerade in dieser zweiten, noch medienfeindlicheren Trump-Ära zugutekommen. Das Magazin hält sich mit Kritik an der gegenwärtigen Regierung nicht zurück.
Auch Remnick ist schon seit 27 Jahren im Amt. Der 66-Jährige hat den «New Yorker» ins Internetzeitalter geführt und ihn stärker auf Politik und das aktuelle Geschehen ausgerichtet. Manche Leser halten ihm vor: zu sehr.
Trotz allen Modernisierungen bleibt der «New Yorker» in vielem anachronistisch: mit seiner Sorgfalt, den langen Texten, den oft seltsamen Themen. Die Cartoonistin Roz Chast glaubt, dass diese Beständigkeit den Erfolg des «New Yorkers» ausmacht, «sein Wissen darum, wer er ist, und dass er nicht der neuesten Mode hinterherläuft». Das Cover falle auf am Kiosk, wo andere Magazine auf dem Titelblatt mit Diäten oder Skandalen um Aufmerksamkeit kämpften.
Wird der «New Yorker» auch in hundert Jahren noch existieren? Der Chefredaktor Remnick zeigt sich in der Jubiläumsausgabe kämpferisch und schreibt: «Ein Jahrhundert nach Ross’ grossem Glücksspiel wollen wir die Aussichten auf Substanz, Komplexität, Argumente, Menschlichkeit und Witz weiter verdoppeln.» Auch Leserinnen in Dubuque, von denen es nun einige gibt, weist das Magazin nicht mehr ab.
In der New York Grand Public Library läuft noch bis Februar 2026 eine Retrospektive über hundert Jahre «New Yorker». Netflix hat für dieses Jahr einen Dokumentarfilm über das Magazin angekündigt.